Jeremias Tiller und die Fesseln der Zeit von BlueScullyZ
Jeremias Tiller und die Fesseln der Zeit by BlueScullyZ
Summary: Hogwarts, die Schule für Hexerei und Zauberei, beherbergt jedes Jahr über zweihundert Schüler. Auch, wenn sich nur die wenigsten von ihnen mit Lord Voldemort messen müssen, der zu Beginn des Schuljahres 1990/91 nur eine düstere Erinnerung ist, ist der Schulbesuch auch für manch anderen eine große Herausforderung. So setzt sich Jeremias Tiller zu Beginn seines ersten Schuljahres, entgegen jeder Vernunft, ein Ziel: Er will einen der schwierigsten Berufe der Zaubererwelt meistern - in nur einem Jahr. Weder Naivität noch Arroganz verleiten ihn zu seinem Plan, sondern eine schlichte und schreckliche Erkenntnis: Mehr Zeit bleibt ihnen nicht.
Categories: Literatur > Harry Potter Characters: Albus Dumbledore, Fred Weasley, George Weasley, Minerva McGonagall, Multi-Chars/Ensemble, Original Character, Pomona Sprout, Poppy Pomfrey, Rubeus Hagrid, Severus Snape
Genre: Drama, Family, Friendship
Pairing: Keine
Challenges:
Series: Jeremias Tiller
Chapters: 10 Completed: Nein Word count: 48092 Read: 91440 Published: 22 May 2019 Updated: 25 Aug 2019
Story Notes:
Es handelt sich bei dieser Geschichte mehr um eine Hogwarts-Fanfiction als um eine Harry Potter Fanfiction. Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass sie ein Jahr vor Harry Potter spielt, weshalb viele etablierte Charaktere in Hogwarts höchstens Gesprächsthema sind.
Ich gebe mir große Mühe, die vorhandenen Originalcharaktere originalgetreu wiederzugeben und es ist nicht meine Absicht, die bestehende Haupthandlung im Laufe der Reihe in irgendeiner Weise abzuändern. Jeremias' Geschichte spielt neben der von Harry, unbemerkt und im Schatten der Ereignisse um den Kampf gegen Lord Voldemort. Wer also Lust auf einen Blickwinkel jenseits der Abenteuer von Harry hat, ist herzlich eingeladen und wird hoffentlich nicht enttäuscht.

1. Prolog by BlueScullyZ

2. Kapitel 1: Der Beginn einer Reise by BlueScullyZ

3. Kapitel 2: Die Weisheit des Weins by BlueScullyZ

4. Kapitel 3: Ein guter Tag by BlueScullyZ

5. Kapitel 4: So nah und doch so fern by BlueScullyZ

6. Kapitel 5: Kein Weg zurück by BlueScullyZ

7. Kapitel 6: Bestimmung eines Herzens by BlueScullyZ

8. Kapitel 7: Ein Stück Zuhause by BlueScullyZ

9. Kapitel 8: Geisterstunde by BlueScullyZ

10. Kapitel 9: Enttäuschte Erwartungen by BlueScullyZ

Prolog by BlueScullyZ
Kaum hatte die braune Pappschachtel die hölzerne Tischplatte berührt, rissen zwei Paare ungeduldiger Hände den Deckel auf. Neugierige, dunkle Kinderaugen blickten so hastig ins Innere des Objekts der Begierde, dass die blonden Schöpfe beinahe aneinandergerasselt wären. Das Frühstück, Pfannekuchen mit Marmelade, war fast augenblicklich vergessen. In der mit dunkelbraunen Linien verzierten Kiste schwammen braune Schemen lautlos durch die Luft, wie durch ein unsichtbares Meer; Miniaturen verschiedener Kreaturen, gerade groß genug, um in die Handfläche eines kleinen Kindes zu passen, in der sie aus guten Gründen besser nicht allzu lange verweilten.

»Kein Gezanke!«, ermahnte die Mutter ihre Söhne streng, die augenblicklich aufsahen und nun kämpferische Blicke tauschten. So hatte sich die Hausherrin den Start in den Tag nicht vorgestellt, obwohl sie es aus der Erfahrung heraus hätte besser wissen müssen.

Die Worte, welche als Mahnung gedacht gewesen waren, wirkten wie ein Startsignal; ein Katalysator. Nahezu zeitgleich griffen die Kinder zu, doch der Ältere von beiden war schneller.

Mit hämischem Grinsen hielt er dem Kleineren seine Errungenschaft feixend vor die Nase. Der Mini-Schokoladen-Kappa wehrte sich nach Leibeskräften und zappelte zwischen den Fingern, aber er hatte keine Chance.

Der kleine Bruder des erfolgreichen Schoko-Petrijüngers bedachte ihn mit strafendem Blick, der ebenso wenig ausrichtete wie die verzweifelten Befreiungsversuche des Kappas. »Diesmal will ich den haben! Du hast gesagt, dieses Mal krieg' ich den!«, schrie er dem Älteren empört entgegen, was die Hoffnungen seiner Mutter auf morgendlichen Frieden besiegelte.

»Jungs, nicht beim Frühstück schon schreien«, ertönte von der Kopfseite des Tisches her eine männliche, aber ruhige Stimme bittend, beinahe höflich, die über den aufgeschlagenen Tagespropheten hinwegschallte.

Die Geschwister ließen sich davon nicht beirren.

Ohne den triumphierenden Blick vom Jüngeren zu lassen, öffnete der Ältere seinen Mund und ließ das Schokotier, wild zappelnd, ganz langsam und genüsslich darin verschwinden, jedoch schnell genug, als dass seine Mutter es hätte verhindern können.

Die Empörung des Jüngeren kannte keine Grenzen. Das war gemein! Der Kappa war der Glitschigste und Zappeligste von allen. Das würde er ihm heimzahlen. Sollte der sich doch jemand anderen suchen, mit dem er heute Quidditch im Garten spielte! Wobei dieses Versprechen nicht leicht einzuhalten sein würde. Schon jetzt war es angenehm warm und die goldenen Strahlen der Sonne schienen durch das Fenster auf den hellen Holztisch.

Das Nesthäkchen war mit diesem Empfinden nicht allein. »Hey«, rief die Mutter drohend, »die gehören in die Milch! Wie oft soll ich euch das noch sagen? Irgendwann erstickt mir einer von euch noch daran.«

Verdutzt, mit der puren Unschuld in den Augen, sahen die beiden Jungs zu ihr. Es war doch noch überhaupt nie etwas passiert, wenn sie ihre Schokoschwimmer aßen. Zumindest nichts Schlimmes. Gut, die Aale krabbelten einem ab und an durch die Nase wieder heraus; die Otter und Bieber versteckten sich manchmal unter der Zunge und und sträubten ihr Fell, weshalb man sie kaum darunter hervorbekam, bis sie zu einem See aus Schokolade geschmolzen waren – aber am coolsten waren sowieso die Kappas und von denen gab es pro Packung nur einen! Die waren die Wehrhaftesten und es war unheimlich schwer, sie im Mund zu behalten, bis sie geschmolzen waren. Keiner von beiden hatte es jemals geschafft, ihn vorher herunterzuschlucken. Dafür hatte er die höchste Fluchtquote. Wie viele Tierchen ihnen bereits entkommen waren und das Wohnzimmer, nachdem ihre Magie vergangen war, durch ihre klebrig, braunen Überreste verschönert hatten, dazu hatte jeder Bewohner des Hauses seine eigene Schätzung. Einmal war das Tier dem Älteren direkt in den Rachen gesprungen, hatte letztlich doch bemerkt, dass es auf dem Holzweg war, war umgedreht und dann von dem nach Luft schnappenden Jungen beinahe wieder angesogen worden. Schlussendlich war das halbzerlaufende Gebilde mitten in dessen hochrot angelaufenem Gesicht gelandet. Man hatte es fast als fairen Kampf bezeichnen können.

»Wuw affn och oof«, versuchte eben jenes große Geschwistervorbild die Eltern zu beruhigen, kämpfte dabei aber noch mit dem Kappa, der sich augenscheinlich an dessen Zunge festgekrallt hatte.

Für den Kleineren war die nun angesabberte Trophäe verloren. Trotzig griff er sich das nächste Tier, einen kleinen Alligator, und ließ ihn in das Glas Milch vor sich fallen, worin es fröhlich eintauchte und sich, während es in kreisenden Bewegungen bis zum Grund tauchte, langsam auflöste. Seinen Bruder würdigte er demonstrativ keiner weiteren Beachtung, sondern stierte trotzig auf seinen Kakao, der seine Metamorphose schließlich erfolgreich vollzogen hatte.

»Musst du halt schneller sein«, zog ihn der Große auf. Auch er nahm sich eine weitere Miniatur. Einen Fisch, wie der Jüngere verstohlen aus den Augenwinkeln sah.

Neben ihm seufzte seine Mutter. »Wenn ihr euch nicht sofort vertragt, holen wir nie wieder Schokoschwimmer!« Weder die Härte in ihrer Stimme, noch die Kälte in ihrem Blick ließen Zweifel daran, dass sie dieses Mal die Drohung in die Tat umsetzen würde.

Wie aus einem Munde, mit dem Entsetzen, als wäre die Abschaffung der Fastnacht verkündet worden, riefen beide Kinder: »Nein!« Die Aussicht auf Versorgungsengpässe schweißte die beiden Rabauken zusammen – wie jedes Mal.

»Ich liebe dich, Schatz. Du machst das klasse«, schallte es gut gelaunt über den Tagespropheten hinweg, woraufhin ein leises Lachen folgte, was die Frau dazu veranlasste, genervt die Augen zu verdrehen. Gleichzeitig lag jedoch auch ein nachsichtiges Lächeln auf ihren Lippen. Ihre Familie war nicht immer einfach – doch ihretwegen hätte es für immer so bleiben können.
Kapitel 1: Der Beginn einer Reise by BlueScullyZ
»Ist hier noch frei?« Mit diesen Worten zerstörte ein junges Mädchen Jeremias' Illusion, für die gesamte Fahrt ein eigenes Zugabteil für sich zu haben.

Es waren zwei Dinge, die ihn bisher vor Gesellschaft bewahrt hatten. Zum einen der Umstand, dass viele der Schüler an den Fenstern zum Bahnsteig geklebt hatten, um ihren Eltern zu winken. Je näher die Abfahrt des Zuges rückte, desto mehr löste sich dieser Grund in Wohlgefallen auf. Zum anderen waren viele wortlos an seinem Abteil vorbeigegangen. Angst, ausgerechnet ihn anzusprechen, mochte dabei eine Rolle gespielt haben. Seine grimmige Miene machte ihn keinesfalls zum perfekten Reisegefährten, weshalb sie bestimmt lieber weitersuchten.

Jeremias hob den Kopf, den er zuvor an die kalte Scheibe gelehnt hatte. Dort, wo seine warme Stirn auf das kalte Glas getroffen war, war das Fenster beschlagen, weshalb seine sehr kurzen, nun nassen Haare vorne abstanden. Die Konturen seines verwischten straßenköterblonden Stirnhaars zeichneten sich auf der beschlagenen Scheibe ab. Seine Arme hatte er vor der Brust verschränkt. Das gelbliche Licht im Abteil ließ die Sommersprossen auf seiner hellen Haut verschwinden. Statt einer Antwort erfüllte das entfernte Pfeifen der Lok sowie die gedämpften Gespräche am Bahnsteig das Abteil. Hinter den dunklen, braungrünen Augen rasten die Gedanken, während er das Mädchen stumm musterte. Er überlegte, zu behaupten, dass seine Mitfahrer gerade weg wären, doch die Gepäckfächer des Abteils waren wie die übrigen Sitzplätze leer, was seine Lüge im Ansatz entlarvt hätte.

Außerdem sah das Mädchen ihn freundlich bittend an und wartete geduldig auf der Schwelle. Bestimmt war sie wie er eine Erstklässlerin. Viel älter war sie sicherlich nicht und wäre sie schon einmal in Hogwarts, der Schule für Hexerei und Zauberei, gewesen, wäre sie bestimmt in Begleitung gewesen. Sie rührte sich nicht einmal, um sich die gelockte Strähne ihrer braunen, kinnlangen Haare aus dem rundlichen Gesicht zu streichen, sondern verharrte erwartungsvoll. Statt wie er, der einen schlichten grauen Pullover und eine abgetragene, ausgeblichene Stoffhose trug, hatte sie eine helle Bluse an, deren blasser Farbton undefinierbar war, und war mit einem schwarzen, knielangen Faltenrock gestraft, der ihre überflüssigen Pfunde kaum versteckte.

Für Jeremias war es unvorstellbar, dass sie freiwillig so herumlief. Er vermutete, dass ihre Eltern es mit der unauffälligen Muggelbekleidung, mit der sie am Bahnhof hatten erscheinen sollen, zu genau genommen hatten.

Schweren Herzens nickte er und murmelte mit beleger Stimme seine Antwort: »Klar.«

»Danke.« Das Mädchen klang erleichtert. Während sie sachte errötete, strahlte sie über das ganze Gesicht, was ihre Dankbarkeit viel mehr unterstrich als die gesprochenen Worte. Schnell schlüpfte sie mitsamt ihrer Habe durch die Tür, ehe sie sich daran machte, ihren schweren Koffer zu verstauen. Ihr kräftiger Körperbau sprach auf den ersten Blick keinesfalls für ein großes Interesse an Sport, weshalb Jeremias sich für einen Augenblick genötigt sah, seine Hilfe anzubieten, obwohl er seine eigenen Habseligkeiten nur mit großer Mühe unter die Bank geschoben hatte. Entgegen seiner Vermutung, schaffte sie es allerdings ganz allein. Den Weidenkorb, den sie aus dem Flur hereinholte, nahm sie auf den Schoß. Bis auf eine kleine Öffnung war das Gebilde geschlossen.

Erst jetzt fielen ihm die beiden grellgrünen Augen auf, die ihn aus der Dunkelheit des Weidengebildes heraus musterten. Pfeilschnell huschte aus der runden Öffnung ein flüchtiger, bunt gescheckter Schatten, sodass ihm keine Zeit blieb, ihn in Augenschein zu nehmen. Lautlos sprang er vom Schoß des Mädchens auf das obere Ablagefach.

Jeremias konnte nur vermuten, wo genau die Katze sich verkroch. Sicherlich so, dass sie alles im Blick hatte.

Mit einem Ruck und kreischendem Fahrwerk fuhr der Zug an.

»Miss Anthonyson.« Unerwartet hielt seine neue Mitfahrerin ihm vergnügt kichernd die Hand hin.

Überrumpelt erstarrte Jeremias, fragte sich, ob seine Höflichkeit womöglich ein Fehler gewesen war, ergriff dann letztlich jedoch die Hand und schüttelte sie halbherzig, um es schnell hinter sich zu bringen.

»Irgendwie komisch sich mit Nachnamen vorzustellen«, gluckste das Mädchen, »aber meine Mum meinte, in Hogwarts gehört sich das so. Du ... Sie?« Die neuen Umgangsformen schienen sie nicht bloß zu amüsieren, sondern auch zu verunsichern. »Du kannst mich Portia nennen. So heiße ich. Portia Anthonyson.«

»Jeremias Tiller«, entgegnete er, ehe er aufstand, um die Abteiltür zu schließen, bevor er zu seinem Platz zurückkehrte, von dem aus er die Aussicht auf die grüne Landschaft vor bewölktem Horizont betrachtete. Langen ausufernden Gesprächen wollte er erst gar keine Chance geben. Er wollte seine Ruhe.

Dass aus diesem Wunsch nichts werden würde, besiegelte ein weiteres Klopfen an der Tür, die im selben Atemzug geöffnet wurde, kaum, dass er sich der Illusion der Stille hingegeben hatte. Der Nächste, der eine Bleibe für die Fahrt suchte. Ein schwarzhaariger Junge mit einem großen Käfig unter dem Arm. Die Schleiereule, die hinter den Gitterstäben saß, guckte noch verschreckter als ihr Besitzer, dem es augenscheinlich schwerfiel, überhaupt ein Wort herauszubekommen. Seine Augen waren weit aufgerissen und seine gebogene Nase unterstrich die Ähnlichkeit von Mensch und Tier. Seine Jeans wies an den Knien dieselben Verschleißspuren auf wie Jeremias' Hose, wenn auch in geringerem Ausmaß. Unter seiner offenen, quietschbunten Jacke, die durch ihre Grellheit nahezu leuchtete, trug er ein dünnes, braunes Shirt. »Äh, i-ist hier no-noch Platz?«, brachte der Neuankömmling schließlich heraus und deutete auf die linken Seite des Abteils, neben Jeremias.

Statt etwas zu sagen, zuckte der Angesprochene mit den Schultern.

Nicht so seine neue Reisebekanntschaft. »Ja, klar, setz dich!«, lud sie den Jungen überschwänglich ein, der unschlüssig auf der Schwelle stehengeblieben war.

Ja, mit der Ruhe war es vorbei. Jeremias seufzte so leise, dass es hoffentlich niemand mitbekam. Vielleicht beschäftigten sich die beiden ja miteinander. Dann wäre er weiterhin ungestört.

Sobald sich der Schüchterne hineingezwängt und seine Habseligkeiten, bestehend aus zwei großen Reisetaschen, vorrübergehend auf dem Boden und der Bank ausgebreitet hatte, um mit einer freien Hand die Tür zu schließen, wurde diese plötzlich wie durch Zauberhand blockiert.

»Ich dachte schon, ich finde gar keinen Platz mehr«, seufzte ein Mädchen erleichtert, das den Kopf durch die Tür steckte, die sie, wie Jeremias bei näherem Hinsehen erkannte, mit ihrem Fuß offengehalten hatte. Sie hatte blonde, zu einem Zopf geflochtene Haare und war die Einzige, die bereits ihren Umhang trug. Außerdem ersparte sie es Jeremias, sein Einverständnis zu geben, denn statt sich lange mit solch weltlichen Dingen aufzuhalten, stellte sie ihren Weidenkorb, der sicherlich ihr Haustier beherbergte, auf den letzten freien Platz und lud ihren Koffer unter die Sitzbank. Allein durch ihr selbstsicheres Auftreten wirkte sie älter. Jeremias war sich dennoch unsicher, ob sie schon im zweiten Jahr war. Immerhin war auch sie allein unterwegs.

Aus dem Korb reckte ihnen eine weitere Katze selbstbewusst ihren Kopf entgegen. Im Gegensatz zu ihrer scheuen Artgenossin - oder seinem scheuen Artgenossen - ließ sich das getiegerte Tier mit seinen weißen Samtpfoten gut sichtbar auf dem Dach seiner Behausung, seinem augenscheinlich offensichtlich rechtmäßigen Thron, neben Portia nieder.

Der Kanarienvogeljunge, der seine Taschen achtlos unter die Bank getreten hatte, war währenddessen damit beschäftigt, den Käfig seiner Eule unfallfrei über den Sitzen zu verstauen.

Ein Unterfangen, das Jeremias skeptisch aus dem Augenwinkel beobachtete, bestand doch weiterhin die Gefahr, von herabfallenden Käfigen erschlagen zu werden.

Das blonde Mädchen beäugte das Treiben skeptisch, bis sie schlussendlich mit Hand anlegte. Dabei murmelte sie etwas, das Jeremias mit viel Mühe als »Das kann man ja nicht mit ansehen« dechiffrierte. Dann ließ sie sich wie selbstverständlich neben die neugierig dreinblickende Portia fallen, nachdem sie den Katzenkorb beiseitegestellt hatte, was ihr Haustier höchst missmutig hinnahm und beleidigt ebenfalls die höheren Gefilde des Abteils aufsuchte. »Edwana McBride«, stellte auch diese Mitreisende sich vor, verzichtete jedoch auf allgemeines Händeschütteln, was dem schweigsamen Jungen sehr sympathisch war.

»Keaton«, erklärte ihr Vorgänger, wobei Jeremias bewusst wurde, dass er selbst seinen Namen den Nachzüglern verschwiegen hatte. »Also Wade, Kreaton. Keaton Wade«, fügte er unsicher umschauend an. Augenscheinlich wusste er nicht, was er tun sollte. Wenigstens hatte er seine Jacke endlich ausgezogen, war allerdings damit beschäftigt, sich eine Eulendaune aus dem kurzen schwarzen Haar zu wischen. »Ich bin neu in Hogwarts.« Ein Hinweis, bei dem sein Gesicht eine noch dunklere Farbe annahm und der, wie Jeremias fand, vollkommen überflüssig war.

»Was du nicht sagst«, seufzte Edwana, verschränkte die Arme vor der Brust und verdrehte die Augen, mit denen sie zuvor kritisch seine bunte Oberbekleidung gemustert hatte. »Lass mich raten: Muggelstämmig?«

Es war kein Wunder, dass Keaton diese Reaktion verunsicherte. Sie verwirrte ihn geradezu. »Mu-was?«

Jeremias dagegen war froh, dass sich seine Mitreisenden ihn außen vor ließen. Er konzentrierte sich auf die Landschaft, was sich als schwieriger herausstellte als gedacht. Entgegen seinem Vorhaben war die Neugier zu groß, weshalb er in der Spiegelung des Glases verstohlen das Treiben verfolgte. Jedoch mit dem festen Vorsatz, sich ganz bestimmt herauszuhalten.

»Ein Muggelstämmiger«, erbarmte sich Portia, den Unwissenden zu erleuchten. »Deine Eltern sind keine Zauberer, stimmt's?« Im Gegensatz zu ihrer neuen Sitznachbarin, die den Verunsicherten fortwährend ungnädig betrachtete - gleich ihrer Katze, die allerdings für alle Anwesenden dasselbe Maß an Verachtung übrig hatte - war die aufgeweckte junge Dame vollkommen aus dem Häuschen.

Das blieb auch so, als der Gefragte mit einem beschämten Nicken die offensichtliche Tatsache bestätigte.

Von da an kannte Portias Faszination keine Grenzen mehr. »Echt? Mensch, das ist total klasse! Dann kennst du ja gar nichts.« Mit glänzenden Augen musterte sie aufgeregt den Mitreisenden muggelstämmiger Herkunft.

»Ja, aber wir werden ihm jetzt nicht die ganze Fahrt über alles haarklein erklären«, entschied Edwana, wofür sie einen weiteren Sympathiepunkt bei Jeremias errang, der bei dem Gedanken an lange, ausufernde Erklärungen zur Zaubererwelt noch schlechtere Laune bekam, so dass das überhaupt möglich war.

Ehe Portia ihr Bedauern, das ihr ins Gesicht geschrieben stand, ausdrücken konnte, meldete sich eben jener Muggelabkömmling zu Wort: »Ist das denn schlimm? Ich mein', dass meine Eltern keine Zauberer sind.«

»Na ja ...«, setzte Edwana abschätzig an, wurde diesmal aber erfolgreich von ihrer Nebenfrau unterbrochen.

»Ach nein, gar nicht!«

In der Spiegelung erkannte Jeremias zu seinem Verdruss, dass sein Sitznachbar niemand anderen als ihn voller Unsicherheit musterte.

Auch die beiden Mädchen schauten, wahrscheinlich in der Hoffnung, Unterstützung zu erlangen, zu ihm herüber.

Unwillig seufzte er und drehte sich wenig motiviert zu Keaton. »Meinetwegen könntest du auch von Kobolden abstammen. Wobei du dafür zu gut aussiehst«, versicherte er ihm glaubhaft. Solange sie ihn in Ruhe ließen, war ihm fast alles egal. Mit diesem Statement wandte er sich den vorbeifliegenden Wäldern außerhalb des Zuges zu.

Gegenüber kicherte Portia. »Das stimmt. Wie ein Kobold siehst du wirklich nicht aus.«

»Das war ein Kompliment«, übersetzte Edwana leidenschaftslos, während Keaton, verunsichert wie eh und je, sprachlos in die Runde schaute.

Nach der Erklärung wirkte er erleichtert.

»Zumindest glaube ich das«, schob das Mädchen hinterher. »Eigentlich gibt es sehr wenig, das sprechen kann und hässlicher ist als ein Kobold.«

Jeremias war sich ziemlich sicher, dass sie den Jungen absichtlich aus der Fassung brachte - was auch ihr gelang. Vielleicht war das der Grund, warum Edwana McBride ohne Begleitung war. Viele Freunde machte sie sich damit bestimmt nicht.

Das beinahe unerträglich fröhliche Etwas, das auf dem gegenüberliegenden Fensterplatz saß, ließ es allerdings nicht zu, dass es zu Missverständnissen kam. »Du bist der erste Muggelstämmige, den ich treffe! Okay, erste Frage: Was hast du für einen Zauberstab bekommen? Und wie bist du überhaupt in die Winkelgasse gekommen?«

Gleich zwei Fragen auf einmal. Zunächst blieb Keaton die Antwort darauf im Halse stecken, bis er den ersten Schrecken überwunden hatte. »In dem Brief stand, ich solle mich im Tropfenden Kessel melden. Da hat mich dann jemand reingelassen, weil ich die Einladung vorgezeigt habe«, erklärte er zögerlich. »Da durch dieses Tor mit den Ziegelsteinen. Ziemlich coole Sache! Meine Eltern waren völlig geplättet. Und die Läden erst! Echt der Hammer.« Langsam taute er auf. Bei der Erinnerung an diese Erlebnisse strahlte er über das ganze Gesicht.

Erwartungsvoll schaute Portia zu Keaton, während die Miene seiner Mitreisenden immer noch voller Skepsis war. So starrten sie sich eine Weile an - abgesehen von Jeremias, der die vorbeiziehende Landschaft aus Feldern und Bäumen betrachtete - aber es geschah nichts.

»Und dein Zauberstab?«, stocherte Edwana schließlich weiter. Sie versuchte dabei, möglichst desinteressiert zu klingen, doch das misslang ihr.

»Ach ja«, erinnerte sich der Unwissende beschämt. »Der ist aus Ahornholz, meinte der Verkäufer. Mit einer Drachenherzfaser. Irgendwie richtig eklig, so ein Stück von einem Herz, aber auch wieder voll cool. Ich meine: Drachen! Wie cool ist das denn?«

Vor allem Portia teilte seine Faszination. »Und wie lang ist er? Und ist er flexibel?«, löcherte sie ihn sofort mit den nächsten Fragen.

»Ich weiß gar nicht genau«, gab Keaton zu. »Ich glaub irgendwas mit elf Zoll oder so.«

»Warte, wir können unsere Zauberstäbe vergleichen! Meiner ist auch elf Zoll, genau elfdreiviertel, das weiß ich«, schlug das Mädchen ganz verzückt vor, ehe sie aus ihrem kleinen Handgepäck einen zierlichen Stock hervorzog. »Walnussholz und auch mit Drachenherzfaser«, erklärte sie stolz.

Keaton dagegen musste unter die Sitze klettern, damit er in einer seiner Taschen kramen konnte. Wenig später streckte er Portia das schmale Holzstück entgegen. Das des Mädchens war ein kleines Stück länger.

»Wenn wir jetzt einen dritten Stab hätten, könnte man schätzen, wie lang deiner ist«, überlegte Portia.

Nebendran schnaubte Edwana. »Heb' dir das für's dritte Jahr auf, da kannst du dann Arithmantik wählen«, meinte sie kopfschüttelnd. »Ist doch völlig egal, wie lang sein Stab ...!« Verlegen räusperte sie sich: »... sein Zauberstab ist.«

»Und was hast du für einen?«, fragte Portia sie in bemüht freundlichem Tonfall. Im Gegensatz zu Keaton, dessen Gesichtsfarbe sich der einer Tomate gefährlich annäherte, schien sie den Grund für Edwanas Verlegenheit nicht bemerkt zu haben.

Vielleicht war das blonde Mädchen deshalb froh, mit der Frage ablenken zu können. Stolz antwortete sie: »Ulme mit einem Kern aus einer Phönixfeder. Zwölfeinviertel Zoll. Und weil es keine Weidenrute ist, ist er natürlich nicht biegsam. So wenig, wie ich mich verbiegen lasse.« Das war mal eine Ansage. »Und du, Zwerg?«

Allein die Anrede »Zwerg« kostete Edwana McBride jegliche Sympathiepunkte, die Jeremias ihr jemals zugesprochen hatte. Ihr überheblicher Tonfall erledigte den Rest. Entsprechend stechend war sein Blick, als er sich von der ländlichen Umgebung abwandte. Auch, wenn er in der Tat der Kleinste in der Runde war, hatte sie keinen Freifahrtschein für lächerliche Spitznamen.

»Ja, du«, meinte sie, wobei sie ihre Arme energisch vor der Brust verschränkte. »Was hast du für einen Zauberstab?«

Die anderen sahen ihn ebenfalls gespannt an.

Es wäre wohl das Einfachste, die Frage zu beantworten. »Ze...«, setzte Jeremias an, ehe er über seine eigene Gedankenlosigkeit erschrack, die er mit einem Räuspern zu überspielen versuchte, so wie er auch den Ärger über sich selbst verbergen wollte. »Schwarzdorn mit Drachenherzfaser.« Er hoffte inständig, damit aus dem Schneider zu sein. Um ganz sicher zu gehen, dass keine Fragen offen blieben, fügte er an: »Zwölfdreiviertel Zoll, federnd.«

Fröhlich fasste Portia zusammen: »Auch wenn er ein Zwerg ist, hat er damit den längsten Zauberstab.«

McBride hob voller Argwohn ihre Augenbrauen. »Na, Glückwunsch«, entfuhr es ihr spottend. »Und hast du auch einen Namen?«, bohrte sie weiter, ehe sich Jeremias zurück in die vorbeifliegende Landschaft flüchten konnte. Ihre forsche Art stieß dem Jungen mehr und mehr auf. »Den muss ich irgendwie überhört haben.« Dabei klang ihre Stimme zuckersüß. Viel zu nett. Ohne Frage: Es war ein schlecht versteckter Vorwurf an seine Kinderstube.

Angestrengt verbot er sich, genervt die Augen zu verdrehen. »Jeremias Tiller.«

»Oh, das habe ich völlig vergessen!«, fiel es Portia ein, ehe auch sie sich noch einmal den Nachzüglern vorstellte.

Jeremias ahnte bereits, dass das fröhliche Mädchen zu der Sorte Mensch gehörte, die Stille einfach nicht ertragen konnte.

Wie, um seine Vermutungen zu bestätigen, plapperte Portia weiter: »Okay, und welche Haustiere habt ihr gewählt und warum?«

Bemüht sah Jeremias weg. Das Ganze artete in ein Wahrheit-oder-Pflicht-Spiel aus, worauf er nun wirklich keine Lust hatte.

Sein Sitznachbar Keaton war im Gegensatz zu ihm total begeistert. »Also, ich habe eine Eule.«

»Was du nicht sagst«, kommentierte McBride trocken. »Du hast übrigens immer noch Federn auf dem Kopf. Jedenfalls hoffe ich, dass es nur Federn sind.«

Schon wieder lief der Muggelstämmige hochrot an. Während er fortfuhr, strich er sich mit der Hand durch die Haare. »Jedenfalls fand ich Kröten und Katzen, das passt halt besser zu Hexen - also Mädchen. Ich hätte zwar gern was richtig Cooles, einen Adler oder so, gehabt, aber der Verkäufer meinte, ich dürfe mir nur Eulen oder einen Kauz aussuchen.«

Ihm gegenüber schnalzte Edwana mit der Zunge, während ihr Blick zur Gepäckablage wanderte. »Oh ja, so eine Schleiereule ist so richtig männlich.«

Mindestens Jeremias verstand die Ironie, die aus jeder Silbe sickerte.

Keaton hatte scheinbar immerhin eine vage Ahnung. Kleinlaut murmelte er irgendwas von seiner Mutter, das sogar für Jeremias's Ohren unmöglich zu entziffern war, obwohl er direkt neben ihm saß.

Die notorische gute Laune des Abteils tat ihr Bestes, keine Diskussion oder gar Streit aufkommen zu lassen. »Ich finde sie wunderschön«, bestaunte sie das gefiederte Tier, das daraufhin mit dem Schnabel klackerte.

Ob der Eule die Aufmerksamkeit, die man ihr entgegenbrachte, zu viel wurde oder sie verstanden hatte, was Portia gesagt hatte, wusste wohl niemand.

»Ich hab eine Katze. Bin ja auch eine Hexe«, meinte die fröhliche Junghexe kichernd. »Aber ich hab mich in dem Laden sofort in Schecki verliebt.«

»Lass mich raten«, grätschte ihre Sitznachbarin dazwischen, »Schecki ist eine gescheckte Katze?«

»Ein Kater«, widersprach das sonst so quirlige Bündel eingeschüchtert, ehe sie sich zum ersten Mal Ärger anmerken ließ. »Und du? Du hast doch auch eine Katze!«

McBride reckte ihr Kinn. »Ja, aber meine habe ich nicht nach ihrer Fellfarbe benannt, sondern mir Gedanken gemacht. Filidera ist schließlich für die nächsten sieben Jahre meine Begleiterin, nicht für den Kindergarten. Und Kröten find ich hässlich. Vielleicht sogar noch hässlicher als Kobolde.«

»Mir gefällt der Name«, blieb Portia stur. »Und was hast du für ein Haustier, Jeremias?«

Er hatte geahnt, dass das bald kommen würde, brachte es aber auch nicht fertig, seine Mitfahrer zu ignorieren. Er konnte bei dem Geplapper ja ohnehin keinen klaren Gedanken fassen. »Eine Katze«, antwortete er, woraufhin Keaton ein leises »Ups« entfuhr. Len war jedoch keine Mädchenkatze, wie sein Sitznachbar zuvor behauptet hatte.

Wo war der Kater überhaupt? Suchend sah der Junge sich im Abteil um. Eigentlich hatte das Tier sich unter die Bank gelegt, um zu dösen und eigentlich hätte er protestieren müssen, als Keaton seine Sachen liebevoll verstaut hatte, doch da war niemand.

»Und warum hast du dir keine Eule oder eine Kröte geholt?«, bohrte die fröhliche Verhörspezialistin Portia weiter, während er auf den Sitz kletterte, um auf die Ablage zu schauen.

Zwei mal zwei Augen blinzelten ihm vom gegenüberliegenden Fach aus entgegen. Schecki und Filidera, wie er jetzt wusste. Aber wo war Len? Die Fragen seiner Mitfahrer ignorierte er. Stattdessen sprang er zurück auf den Boden, murmelte »Bin mal draußen« und verließ das Abteil.

Auf dem Gang herrschte endlich das, was er gesucht hatte: Ruhe. Doch jetzt würde er sie kaum genießen können. Wo war sein Kater? Das Tier war wahrlich nicht zu übersehen. Entschlossen lief er zunächst zu den vorderen Wagons.

Währenddessen konnten die beiden Mädchen ja dem verbliebenen Keaton Löcher in den Bauch fragen. So blieb ihm wenigstens das erspart. Würde er Len finden, war eine Strafe das Letzte, was das Tier erwarten würde. Immerhin hatte ihm sein Freund zur kurzweiligen Flucht verholfen. Ob er das absichtlich getan hatte? Manchmal hatte Jeremias das Gefühl, dass das Tier mehr von der Welt verstand, als man ihm zugestand.

Nach einer Weile der erfolglosen Suche trat Jeremias' Herz langsam aber sicher den Weg südwärts an. Er stand vor einer verschlossenen Tür. Das eine Ende des Zuges hatte er erreicht. Wo war der verdammte Kater? Hatte er sich vor der Abreise hinausgeschlichen? Streunte er nun womöglich verlassen und allein durch die Innenstadt Londons? Oder war er Streichen älterer Schüler zum Opfer gefallen? Er hätte besser auf das Tier Acht geben müssen. Bei dem Gedanken, was alles passiert sein konnte, schluckte er. Eilig beschleunigte er seine Schritte, um schnell zu seinem Abteil zu gelangen, um in der entgegengesetzten Richtung zu suchen, als ihm auf halben Weg ein älterer Schüler mit auffällig roten Locken entgegen kam.

Erleichtert blieb der Erstklässler stehen, sobald er erkannte, was der Ältere auf dem Arm trug: Einen nebelgrauen, großen Kater. Len.

Die Norwegische Waldkatze war wirklich nicht zu übersehen. Die Art des Transports war ihr augenscheinlich suspekt, aber sie ließ es geschehen. Wenn sich der Mensch die Mühe machen wollte ...

Dem Schüler war hingegen anzusehen, dass die Samtpfote so ihr Gewicht hatte. Auch ihre Größe machte es schwierig, durch den schmalen Gang zu kommen. Das Tier war länger als der Schüler breit war. Es hatte die Ausmaße eines mittelgroßen Hundes, wobei sein Besitzer wusste, dass mindestens die Hälfte davon Fell war. »Bist du Jeremias Tiller?«, fragte der Junge den Erstklässler, nachdem er vor ihm zum Stehen gekommen war.

Verdattert nickte der Jüngere. »Ja, das bin ich. Das ... das ist mein Kater«, versicherte er. Im Grunde rechnete er fest mit einer Standpauke.

Aber statt den Erstklässler zurechtzuweisen, setzte sein Gegenüber den Kater ab.

Bevor die Hinterläufe des Tieres jedoch den Boden berührten und der Schüler erleichtert aufseufzte, nahm der Jüngere sich des oberen Teils des Katers an. Man hätte sagen können, er hielt sein Haustier auf dem Arm, doch auch wenn Lens Kopf nun auf der Höhe von Jeremias' eigenem Schädel war, so hatten die hinteren Pfoten immer noch Bodenkontakt. Durch die Umarmung verschob sich das Fell des Katers nach oben, so dass sein ohnehin üppiger Fellkragen umso imposanter aussah. Durch seine verdutzte Miene, die geweiteten Augen sowie die heraushängende Zunge, sah er jedoch alles andere als majestätisch aus. Besonders die freischwebenden Vorderläufe, unter denen Jeremias hindurchgegriffen hatte, mit denen Len lust- und hilflos in der Luft herumfischte, muteten mehr komisch als gewollt an.

»Geht das?«, fragte der Ältere und betrachtete das Konstrukt zweifelnd.

Hinter dem Tier nickte Jeremias. Die Haarbüschel, die aus den Katzenohren wuchsen, kitzelten ihm dabei im Gesicht. »Ja«, versicherte er bestimmt. Es war schließlich sein Haustier. Er konnte auf ihn aufpassen.

»Ich bin übrigens Leon Parks«, stellte sich sein Gegenüber vor.

Bei dem Namen begann es in Jeremias' Oberstübchen zu rattern. Er schaute am Fell vorbei zu dem Schüler vor sich.

Parks überragte ihn um einen Kopf. Kein Wunder, er war auch schon im fünften Schuljahr. Im Jahrgang seines Bruders, im Haus Ravenclaw, wie er sich erinnerte. Sein Bruder hatte Parks gelegentlich erwähnt.

Vorsichtig ließ Jeremias mit der rechten Hand Len los und hielt sie ihm hin. »Jeremias Tiller. Danke nochmal.«

Parks schüttelte lächelnd seine Hand. »Weiß ich doch. Len würd' ich überall erkennen. Und kein Problem. Als Vertrauensschüler ist das ja ab diesem Jahr irgendwie mein Job. Das und dafür zu sorgen, dass die Schüler sich auf der Fahrt nicht versehentlich gegenseitig umbringen.«

Die Augen des Jüngeren weiteten sich vor Schreck. Dann waren die Geschichten seines Bruders also wahr!

»Also nicht wirklich umbringen. Wir müssen zusehen, dass sich die Zaubereien etwas in Grenzen halten«, beschwichtigte Parks ihn. »Eigentlich hätte ... Ah, egal, unwichtig. Freut mich auf jeden Fall, dass du hier bist und ich hoffe, du hast eine gute Fahrt.« Sein darauffolgendes Lächeln wirkte gekünstelt.

Jeremias kam nicht dazu, zu fragen, was der Ravenclaw hatte sagen wollen, denn hinter ihm erklangen Stimmen.

Zwei weitere Schüler traten in den Gang. Beide waren ganz offensichtlich keine Erstklässler mehr. Der Junge war ein wahrer Hüne, neben dem die Schülerin mit schwarzem Pferdeschwanz geradezu klein war, dafür aber weitaus energischer. Auf ihren Umhängen, nun achtete der Erstklässler darauf, prangten die silbernen Abzeichen, die sie als Vertrauensschüler auszeichneten.

Parks' Aufmerksamkeit war dahin. Über Jeremias hinweg rief er: »Was war da vorne los?«

»Ach, die beiden Weasleys waren los«, antwortete das Mädchen mit dem schwarzen Pferdeschwanz genervt.

Ihre männliche Begleitung klang ebenfalls unzufrieden, aber gelassener. Bei seiner kräftigen Statur war Jeremias um die entspanntere Art froh. Ansonsten wäre der Hüne ihm unheimlich gewesen. »Die machen einem den Job echt nicht leichter«, bestätigte er die Aussage seiner Kollegin. »Ich schau mal weiter hinten, ob es da ruhig ist.«

»Ich komme gleich nach«, rief das Mädchen ihm hinterher. Sie schenkte Jeremias ein höfliches Lächeln, ehe sie sich an Leon Parks wandte. »Und, irgendwas Spannendes hier?«

Der Ältere schüttelte den Kopf. »Nur ein ausgebüxter Kater«, erklärte er nachsichtig und zwinkerte Jeremias zu. »Das ist übrigens Tabitha Peyton. Ebenfalls Vertrauensschülerin aus Ravenclaw«, stellte er ihm die Dame vor. »Man darf sie auch liebevoll Tabby nennen.«

Scheinbar freundlich lächelte das Mädchen Parks zu. »Nur, wenn man nicht an seinem Leben hängt, Parks«, entgegnete sie mit zuckersüßer Stimme, bevor sie sich an den Erstklässler wandte. »Pass lieber gut auf dein Tier auf. Die beiden Chaoszwillinge aus dem zweiten Jahr haben gerade eine Katze in so 'was wie einen behaarten Hinkepank verwandelt.«

»Ach du ...«, entfuhr es Parks, doch plötzlich ertönte ein Rumpeln aus dem hinteren Teil des Wagons. Alle drei drehten sich zur Quelle des Geräuschs um. Die Waggontür war aufgestoßen worden.

»Achtung, ich muss da durch!«, tönte es wichtig von dort. Ein weiterer Schüler einer höheren Jahrgangsstufe, ebenfalls rothaarig, groß und hager, kam schnellen Schrittes auf sie zu. Kompromisslos drängelte er sich an ihnen vorbei. Vielleicht war er ein junger Lehrer? Aber dafür sah er zu jung aus.

Len jedenfalls kam durch Jeremias' Ausweichmanöver der Scheibe mit dem Gesicht gefährlich nahe, fauchte sein Spiegelbild an und versuchte danach zu schlagen, da es augenscheinlich seine Privatsphäre verletzt hatte.

Die Vertrauensschülerin Peyton fuhr indes unbeirrt fort: »Wobei ich sagen muss, dass das Vieh danach besser aussah.« Es dauerte eine Weile, bis Jeremias begriff, dass sie von der verwandelten Katze sprach.

Ein weiterer Junge folgte dem aufgebrachten Kerl, der einen weitaus wehrhafteren Eindruck machte und sein Tonfall, mit dem er dem Rotschopf hinterherbrüllte, war wesentlich wütender: »Percy, du musst gar nichts!«

Der Gerufene namens Percy blieb kaum eine Sekunde stehen, um sich umzudrehen. Gewichtig wie ungehalten erwiderte er: »Es sind meine Geschwister, Wood. Ich bin dafür verantwortlich und ich werde das regeln!« Noch während seiner letzten Worte drehte er um und rauschte von dannen.

»Du bist Viertklässler! Du bist dafür verantwortlich, nicht lauthals über den Flur zu brüllen!«, schoss sein Kumpane, der augenscheinlich Wood hieß, zurück. Seine kräftige Statur machte dem Namen alle Ehre. Auf Höhe der Vertrauensschüler blieb er stehen und schaute sich zu seinem Schatten um.

Es war der große Vertrauensschüler, der den hinteren Teil des Zuges hatte kontrollieren wollen.

»Sag du doch auch mal was!«, herrschte Wood ihn an.

Der Hüne aber verschränkte lediglich die Arme vor der Brust. »Wieso? Wenn er die beiden zur Ordnung bringt, will ich mich doch nicht beschweren.«

Woods nüchterne Prognose klang weniger optimistisch. »Als würde irgendjemand die beiden Terrorzwerge zur Ordnung bringen, Paquet! Und Percy am Allerwenigsten. Sein Anpfiff stachelt die doch höchstens an. Der Typ bringt jeden auf die Palme! Und am Ende fliegt der Zug in die Luft.«

Während er sprach, weiteten sich die Augen des Hünen. Nachdenklich murmelte er nach einigen Sekunden der Einkehr: »Ich seh' besser mal nach dem Rechten« und folgte dem Schreihals mit weit weniger gelassenem Schritt.

»Besser ist das«, murmelte Wood kopfschüttelnd hinter ihm her. »Mann, ich find' die Späße der beiden ja lustig. Für die zuständig sein, will ich auch nicht.«

Lahm nickte Parks. »Gleichfalls«, antwortete er müde, was Wood zu einem breiten Grinsen veranlasste.

Süffisant meinte er, während er sich in die Richtung wandte, aus der er gekommen war: »Ja, aber im Gegensatz zu mir, Parks, bist du es.«

Die beiden Ravenclaws sahen ihm hinterher. Erst, nachdem die Waggontür hinter ihm zugefallen war, schaute Peyton ernst zu ihrem Kollegen. »Erinnere mich bitte daran, ihn zu zitieren, sollten die beiden jemals in die Quidditchmannschaft aufgenommen werden.«

Parks nickte mit nicht weniger förmlicher Miene. »Mach ich. Sobald ich wieder in der Lage bin, zu sprechen. Versprochen.«

Die hochgezogene Augenbraue manifestierte das unsichtbare Fragezeichen im Gesicht seiner Mitschülerin. »Wieso das?«

Kichernd ging Parks Beherrschung dahin. »Weil ich lachend auf dem Boden liegen werde«, gab er zu.

Auch Peyton trieb die Vorstellung ein schadenfrohes Grinsen ins Gesicht.

Währenddessen wandte sich der Vertrauensschüler an Jeremias, der die Szenerie still beobachtet hatte. »Jedenfalls, pass gut auf Len auf und wenn irgendwas ist, komm einfach vorbei oder frag nach mir.« Dieses Mal war sein Lächeln echt.

Jeremias nickte eifrig. »In Ordnung. Danke nochmal.«

Wie zuvor winkte Parks ab. »Kein Thema. Halt die Ohren steif«, verabschiedete er sich, ehe er seiner Partnerin folgte.

Der Junge konnte dennoch hören, was die beiden besprachen.

»Wer war der Kurze? Tillers Bruder?«, fragte Peyton.

Schnell sah Jeremias aus dem Fenster, als Parks flüchtig über die Schulter zurücksah.

»Ja«, antwortete der Ravenclaw so leise, dass Jeremias es nur schwer verstand.

»Hatte mich schon gewundert, dass wir jetzt zwei Monsterkatzen haben, die Len heißen. Hab Tiller heute noch gar nicht gesehen.«

Parks lachte auf. »Monsterkatze? Ich glaube, Len weiß nicht mal, wozu er seine Zähne hat.« Seine Stimme wurde leiser. »Aber wegen Nicolas ...«

Da schloss sich die Waggontür hinter den beiden. Zurück blieb, auf einem leeren Gang, Jeremias. In der Stille drangen die leisen, durch die Abteiltüren gedämpften Gespräche an ihn heran. Das Lachen anderer Schüler. Es war ihm zuwider.

Schweren Herzens ließ er Len los, der mit einem dumpfen Laut auf seinen Vorderpfoten landete.

Dankbar strich der Kater um die Beine des Erstklässlers.

Für einen Augenblick kniete er sich zu seinem Haustier hinunter, um ihm durch das weiche, lange Fell zu streicheln.

Ein kehliges Schnurren erklang aus den Tiefen der Katze. Genüsslich legte sie sich gegen die Hand. Zwar schaute sie Jeremias empört an, nachdem dieser es gewagt hatte, die Streicheleinheiten zu beenden, stemmte dann jedoch die Vorderläufe gegen die Wand und schaute zufrieden aus dem Fenster.

Die Wolken waren dichter geworden. Durch den Regen, der nun von außen gegen die Scheiben trommelte, war noch weniger von der vorbeirasenden Landschaft zu erkennen. Noch weniger, das seinen Geist im Hier und Jetzt hielt.

Der Gedanke, dass mit jeder Sekunde die Entfernung zwischen ihm und London stetig wuchs, bereitete ihm nicht einfach nur Unwohlsein. Es war, als würde es seine Gedärme verknoten und ihn von innen heraus auffressen.

Natürlich hatte niemand seinen Bruder gesehen. Nicolas Tiller war nicht hier.

Seit Jeremias denken konnte, freute er sich darauf, gemeinsam mit ihm nach Hogwarts zu gehen; bei jedem Abschied auf dem Gleis neun dreiviertel; jedes Mal, wenn sein Bruder einen Brief aus der Schule geschickt hatte; immer, wenn sie gemeinsam im Garten Quidditch gespielt hatten - oder so etwas ähnliches, da der Kinderbesen ja kaum hoch genug geflogen war, als dass Jeremias auch nur die Füße vom Rasen bekommen hätte. Er hatte davon geträumt, mit ihm zusammen im Zug zu sitzen; gemeinsam Briefe nach Hause zu schreiben und in den Ferien heimzufahren; gemeinsam richtiges Quidditch zu spielen.

So, wie die Dinge lagen, würde Nicolas Tiller nie wieder nach Hogwarts zurückkehren. Sie hatten gewusst, dass dieser Tag kommen würde, aber Jeremias hätte niemals gedacht, dass dies ausgerechnet vor seinem ersten Schuljahr passieren würde.

Es gab nur einen Grund, weshalb er trotzdem hier war; warum er darauf bestanden hatte, herzukommen. Er würde nicht zulassen, dass es so weit käme. Niemals!
Kapitel 2: Die Weisheit des Weins by BlueScullyZ
»Nun schau nicht so wie sieben Tage Regenwetter«, bat ihn der Mann, an dessen Hand Jeremias einige Tage zuvor durch die Winkelgasse gelaufen war.

Sie waren stehen geblieben und als der Junge aufsah, schaute er in traurige Augen, die nicht zu dem aufmunternden Lächeln auf den Lippen des Erwachsenen passen wollten. Auch er zwang sich dazu, die Mundwinkel zu heben. Kaum eine Sekunde später war das halbherzige Lächeln verblasst.

Sein Vater, Carter Tiller, ein großer, hagerer Herr mit dunkelblonden, von grauen Strähnen durchzogenen Haaren, ließ seine Hand los, bevor er sich ungeachtet der vorbeiströmenden Menschen zu seinem Sohn hinabkniete. Davon brachte ihn auch der hartnäckige Nieselregen, der die Straße, die Fassaden, Dächer und Passanten gleichermaßen benetzte, nicht ab. »Es ist dein erstes Schuljahr in Hogwarts, Mias.« Er sagte es, als verkünde er eine bahnbrechende Neuigkeit, von der er seinen Sohn überzeugen wollte. »Darauf hast du dich immer gefreut.«

Das stimmte. Das hatte Jeremias. Bis vor einigen Wochen, seit dem klar war, dass er alleine in die Schule für Hexerei und Zauberei fahren würde. Seit diesem Tag war alles anders. Nicht nur er war seither traurig. Seine Eltern konnten das genauso schlecht verbergen. Sie alle hatten Angst vor dem Kommenden.

Behutsam strich sein Vater ihm durch die kurzen, nach vorn abstehenden Haare. »Die letzten vier Jahre ist Nicolas auch nach Hogwarts gefahren und hatte Spaß, obwohl er wusste, was passiert«, erinnerte er seinen Sohn mit gesenkter Stimme.

Da war er wieder: Der dicke Kloß im Hals; der Knoten in seinem Magen. Trotzig schaute Jeremias zur Seite. Er ertrug den traurigen Blick seines Vaters nicht – nicht wenn sie beide dabei an Nicolas dachten.

Carter Tiller jedoch sprach unbeirrt weiter. »Das solltest du wenigstens versuchen. Das Einzige, was sich sonst ändert, ist, dass du noch trauriger wirst, als du es ohnehin bist. Und dass du vielleicht etwas verpasst, was du später bereust.«

Der Junge verbarg sein trockenes Schluchzen in einem Seufzen. Statt etwas zu sagen, nickte er stumm. Klar, sein Bruder wollte nicht, dass er traurig war. Seine Eltern natürlich genauso wenig. Egal, wie sie sich selbst fühlten. Vielleicht war gerade deshalb die Traurigkeit eines Weiteren für sie so schwer zu ertragen, doch es ging nicht immer nach dem Willen seines Bruders oder seiner Eltern! Er konnte das nicht ausschalten. Einfach die Schulter straffen, um weiterzumachen? Wie sollte das gehen? Schon jetzt, nachdem er nicht einmal eine Stunde mit seinem Vater in der Winkelgasse war, vermisste er Nicolas schrecklich. Er hatte Angst, nur eine Minute mit ihm zu verpassen. Eine Minute, von der wenigen Zeit, die ihnen blieb. Die Reise nach Hogwarts war ein weiterer, lästiger Punkt, der diese Zeit noch mehr verkürzte.

»Ich weiß, dass es schwer ist«, gestand Carter Tiller und zog seinen Jungen vorsichtig am Nacken näher zu sich heran, bis kaum eine Handbreit zwischen ihre Köpfe passte und er seinem Sohn tief in die Augen sah. »Aber bitte versuch es. Es ist dein erstes Jahr. Dem solltest du eine Chance geben.«

Tapfer versuchte Jeremias, den Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken. Erst im zweiten Anlauf gelang es ihm. Er nickte, wobei er sich hastig den Ärmel über die Augen rieb. Er hatte es schließlich versprochen. Nicht seinen Eltern, sondern seinem Bruder. Er würde ihm jeden Tag aus der Schule schreiben, ihm jedes Erlebnis berichten, damit er nichts verpasste. Deshalb musste er dorthin fahren, auch wenn seine Eltern ihm angeboten hatten, dass er, wenn er wollte, ein Jahr später fahren konnte.

Erleichtert atmete sein Vater auf. »Gut. Dann besorgen wir dir jetzt wenigstens einen eigenen Zauberstab«, erklärte er, ehe er sich erhob. »Meinetwegen kannst du die alten Umhänge von Nicolas nehmen, genauso wie die Bücher oder die Zaubertrankutensilien, wenn du darauf bestehst und wenn alles vollständig ist, aber einen eigenen Zauberstab brauchst du«, erstickte er jeglichen Protest im Keim. »Und: Ein Haustier.«

So hatten sie nicht gewettet. Erneut flammte Widerwille im Gesicht des Jungen auf. »Ich nehme Len mit!«, widersprach er erbost. Da gab es keinen Spielraum für irgendwelche Diskussionen. »Nicolas hat auch gesagt, ich soll Len mitnehmen.«

Entnervt rieb sich sein Vater die Schläfe. »Er meinte, du darfst Len mitnehmen, Mias. Aber meinst du nicht ...«

»Er darf doch sowieso nicht mit ins Sankt Mungos«, murrte Jeremias unwillig.

Eine Weile herrschte Stille zwischen ihnen, in der sich Jeremias’ Scham über seinen Egoismus, auf das Haustier seines Bruders zu bestehen, mit der traurigen Gewissheit verband, dass die Katze Nicolas ohnehin keine Gesellschaft würde leisten dürfen.

Dann endlich nickte Carter Tiller. »Meinetwegen. Dann nur einen Zauberstab.« Warnend sah er zu seinem Sprössling herab. »Aber da wird nicht verhandelt! Ein Zauberstab muss zu seinem Besitzer passen. Gerade am Anfang ist das immens wichtig, hörst du?«

Die Widerwilligkeit, mit der er nickte zeigte, wie wenig begeistert er davon war. Immerhin mussten sie bloß noch in einen Laden, statt in fünf. Das war überschaubar.

Sein Vater verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Keine Sorge. Mister Ollivander braucht selten lange, um den richtigen Zauberstab für jemanden zu finden«, versprach er zuversichtlich.

Sie bahnten sich ihren Weg durch die Menge von Zauberern an verschiedensten Schaufenstern vorbei. Die vielfältigen, bunten Auslagen – Kröten in Gläsern, Regale voller Bücher, Schalen mit Schlagenzähne, fliegende Besen, noch mehr Bücher, Süßigkeiten, Innereien in Fässern – weckten Jeremias’ Interesse kaum. Unbeirrt arbeiteten sie sich vor, bis sie letztlich, begleitet von dem Klang einer hellen Glocke, den unauffälligen Laden von Mister Ollivander betraten.

Sobald die Tür hinter ihnen zugefallen war, erstarb der Lärm der Straße schlagartig. Einzig das Glockenläuten erfüllte den dunklen Raum einige Sekunden, ohne erkennbaren Ursprung. Das wenige Licht, das durch die Fenster ins Innere drang, erhellte einige Staubkörner, die durch die Luft wirbelten. Nachdem das Klingeln verhallt war, wurde es mit einem Mal beinahe beängstigend still. Unverhohlen eingeschüchtert sah Jeremias sich um.

Die Schränke und Wände zu allen Seiten, aus dunklem Holz, das noch mehr Licht schluckte, waren bis oben hin mit kleinen Schachteln vollgestellt, in denen, wie Jeremias wusste, die Werkstücke des Zauberstabmachers lagerten. Es mussten Tausende sein. Angeblich gab es keine zwei gleichen; etwas, irgendeine Kleinigkeit, unterschied sich bei jedem der Unikate. Ob der Werkstoff, die Länge, der Kern oder die Biegsamkeit. Jedes Exemplar war einzigartig.

Das Schaben von Holz auf Holz lenkte die Aufmerksamkeit des Jungen auf ein Regal. Auf einer Leiter stehend, die wie von Zauberhand dorthin geglitten war, erschien hinter eben jenen Fächern ein hagerer Mann.

Er war ein Stück kleiner als Carter Tiller und wirkte durch seine gänzlich ergrauten Haaren sowie die gebückte Haltung älter. Das Lächeln, das er zur Schau trug, war weder freundlich noch kalt. Es war rätselhaft, wie der wache Blick des Alten. »Mister Tiller«, grüßte er seine Kunden, wobei der Elfjährige sich fragte, ob die Begrüßung ihm oder seinem Vater gegolten hatte. Langsam stieg der Ladeninhaber die Leiter hinab.

»Guten Tag, Mister Ollivander.« Aus der Stimme seines Vaters sprach nicht allein die Freundlichkeit, sondern ebenso Ehrfurcht. »Wir kommen wegen eines Zauberstabs für meinen Sohn.«

Nachdenklich nickend trat der Verkäufer näher an sie heran. »Das habe ich mir fast gedacht«, entgegnete er mit leiser, jedoch erstaunlich präsenter Stimme. »Sie müssen Jeremias sein«, richtete er das Wort an seinen kleinen Kunden.

Jeremias nickte. »Guten Tag.« Sein Trotz war verschwunden. Hier, in der Gegenwart des merkwürdigen Herrn, wagte er es nicht, ihn offen zur Schau zu stellen.

Der silbergraue Blick von Mister Ollivander ging durch ihn hindurch, löste sich schließlich von ihnen beiden und wanderte schlussendlich offenbar ziellos durch den Raum. »Nun, womöglich wird dies ein sehr kurzer Besuch«, prognostizierte der Alte, worauf auch immer er diese Einschätzung begründete. Ohne sich noch einmal an seine Kunden zu wenden, ging er zu seinem Schreibtisch. »Aber wir sollten das eingehend prüfen.« Flink kehrte mit einem hellen Maßband zurück, auf dem silbrig glänzende Maßstriche zu erkennen waren. Kommentarlos begann er, Jeremias, der reflexartig einen Schritt zurückgewichen war, zu vermessen: Den Kopfumfang, die Distanz von Ohr zu Ohr, vom Ohr zur Nasenspitze, Länge des Nasenrückens, die Breite des Kinns, der Abstand der Sorgenfalten auf der Stirn, während sein junger Kunde diese voller Argwohn über das Treiben kräuselte.

Es dauerte nicht lange, bis Jeremias den Überblick verlor, was genau Mister Ollivander dort vermaß. Vermutlich sogar den Abstand seiner Nasenlöcher. Er ließ es möglichst unbeeindruckt, aber höchst verdrossen, über sich ergehen, bis in seinen Augen ein flüchtiges Interesse aufbrandete, sobald der Zauberstabmacher sein Werkzeug losließ und dieses selbsttätig um seine Schulter herumsurrte. Fragend wie sprachlos sah er zu dem Ladenbesitzer, der zu seinem Schreibtisch zurückgegangen war.

Vorsichtig, nahezu andächtig, wie nahezu jede seiner Bewegungen, griff der Ladenbesitzer nach einem Holzstück, das dort lag. Er betrachtete es sicherheitshalber noch einmal, legte es dann wieder zurück, ehe er erschreckend ruckartig seinen Kopf zu seinen Kunden herumdrehte. »Gehen Sie einmal zwei Schritte beiseite«, bat er Jeremias, der zu verdutzt über den plötzlichen Befehl war, um zu widersprechen.

Hinter ihm salutierte das Maßband und zischte in Richtung Schreibtisch, auf dem es zusammengerollt liegenblieb. Das Holzstück jedoch, das dort lag und sich beim näheren Hinsehen als Zauberstab entpuppte, folgte den Bewegungen des Erstklässlers.

»Nun, bei diesen Exemplaren kann man sich nie ganz sicher sein. Versuchen Sie es einmal«, sprach Mister Ollivander und übergab den Stab Jeremias, der ihn kritisch betrachtete.

Aus der Nähe sah das Material heller aus und fühlte sich trocken an. Irgendwie lag er gut in der Hand, auch wenn der Junge bloß öde Spielzeugzauberstäbe zum Vergleich hatte. Selbstbewusst schwenkte er den Stab aus dem Handgelenk, woraufhin sich um die Spitze herum ein heller Dunst bildete, der nur bei ganz genauem Hinsehen zu erkennen war. War das gut? Oder hatte er bloß den Staub, der durch die Luft tanzte, in Aufruhe versetzt?

Mister Ollivander schüttelte den Kopf. »Ich sagte es ja: Man kann sich nie ganz sicher sein«, sprach er leise, als er Jeremias die Ware aus der Hand nahm. »Weinrebe mit Einhornhaar, sehr wählerisch«, referierte er, während er den Stab sofort zurück in eine Schachtel packte. Kaum hatte sich der Deckel gesenkt, lief der Verkäufer zum nächsten Regal, aus dem er eine weitere Verpackung hervorzog. »Dann versuchen wir einmal diesen hier. Akazie mit Drachenherzfaser, elfeinhalb Zoll, leicht biegsam.«

Erneut schwenkte Jeremias den Zauberstab. Dieses Mal trat gar kein Effekt ein. Er hob den Arm, um es mit mehr Nachdruck zu versuchen, doch der Zauberstabmacher hielt den Jungen beherzt fest.

»Mein Lieber, ein Zauberstab lässt sich nicht zwingen«, erklärte der Mister Ollivander mit weicher Stimme, ehe er dem baldigen Schüler Hogwarts’ den Stab aus den Händen nahm. Wieder ging er zu den Regalen, sortierte die Schachtel samt Inhalt ein, bevor er zielstrebig um die Ecke eilte.

Still sahen die beiden Kunden ihm nach, ehe er zurückkam.

»Haselnuss«, verkündete Mister Ollivander stolz, »ebenfalls mit der Faser des Herzens eines Drachen, zehnein ...«

Mit einem Mal leuchtete die Spitze des Stabes bedrohlich rot auf.

»Nun, der wohl eher nicht«, sah der Zauberstabmacher seinen Irrtum ein und drehte auf dem Absatz um.

Jeremias seufzte. So viel dazu, dass es ein kurzer Einkauf werden würde. »Kann ich nicht irgendeinen nehmen?«, flüsterte er seinem Vater verschwörerisch zu, der ihn mahnend ansah. Unbeirrt fuhr er fort: »Ich könnte den Weinrebenstab nehmen. Der war doch gut!«

»Unabhängig davon, ob er Ihnen gefällt, Mister Tiller«, ertönte Mister Ollivanders allgegenwärtige Stimme, als er zu ihnen zurückkehrte, »würde ich Ihnen diesen Stab nicht verkaufen. Er passt nicht zu Ihnen.« Sein mysteriöses Lächeln trat urplötzlich wieder auf seine Lippen. »Vielleicht tut es ja dieser hier. Ebenholz mit Einhornhaar, zehneinviertel Zoll, biegsam.«

Der junge Kunde atmete tief durch, als er die Ware entgegennahm und ließ die Hand in einer feierlichen Geste kreisen – aber nichts geschah. Ernüchtert gab er dem Ladenbesitzer das Testobjekt zurück.

»Nun, vielleicht in ein paar Jahren«, tröstete ihn Mister Ollivander, bevor er zum wiederholten Male in den Untiefen seines Ladens verschwand.

In der Zwischenzeit, die vom Geräusch der öffnenden, schließenden oder herausgezogenen Kartons erfüllt wurde, schwiegen beide Tillers. Jeremias wusste, dass ein weiteres Bitten keinen Zweck haben würde. Selbst, wenn sein Vater sich erweichen ließe, würde Mister Ollivander hart bleiben.

Eben jener tauchte just in dem Augenblick auf. »Hainbuche mit der Feder eines Phönix. Zwölfeinhalb Zoll. Womöglich etwas zu lang. Wir werden sehen.«

Vereinzelte klägliche Funken verließen die Spitze, als Jeremias den Zauberstaß durch die Luft wirbelte. Ihm reichte das vollkommen, selbst als sie nur wenige Sekundenbruchteile später erloschen waren. Er ahnte allerdings, dass der Ladenbesitzer keinesfalls zufrieden sein würde, was sich bestätigte, als dieser ihm das Exemplar aus der Hand nahm.

Zu Jeremias’ Überraschung betrachtete er sein Werkstück mit anerkennendem Nicken. »Wir kommen der Sache näher.«

Hoffentlich meinte er es so, wie er sagte.

»Dass ich da nicht früher draufgekommen bin.« Frohlockend überreichte der alte Herr Jeremias den nächsten Stab. »Lärchenholz mit Einhornhaar, zehndreiviertel Zoll.«

Inzwischen hatte Jeremias keine Erwartungen mehr an das Ergebnis. Lustlos vollführte er einen Schlenker. Der schimmernde Lichtnebel, der dabei entstand, war kaum besser als der, den er mit der Weinrebe hervorgebracht hatte.

Natürlich nahm Mister Ollivander ihm die Ware ab und ging abermals auf die Suche, was der Zauberschüler nutzte, um seinen Vater für das gebrochene Versprechen eines kurzen Einkaufs mit finsteren Blicken zu strafen. Als der Ladeninhaber zurückkam, klang er zögerlicher. »Espenholz mit Phönixfeder. Bitte versuchen Sie ihn einmal vorsichtig.«

Die Zurückhaltung des Verkäufers flößte dem Jungen den nötigen Respekt ein, um bloß ganz sachte einmal in die Luft zu tippen. Erschrocken machte er einen Satz zurück, als die Schachteln aus dem Regal vor ihm plötzlich einen Satz auf ihn zu machten. Unter lauter dumpfen, pappigen Lauten schlugen sie auf dem Boden in einem Chaos vor ihm auf. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, hätte er weiter ausgeholt!

»Kein einfacher Charakter«, kommentierte Mister Ollivander, der sich nicht im Geringsten hatte aus der Ruhe bringen lassen. »Wir finden schon etwas.« Hatte er überhaupt mitbekommen, dass sein halbes Sortiment sich neuerdings zu seinen Füßen tummelte?

Die nächsten zwei Versuche, Pappelholz und der zweite aus englischer Eiche, lieferten ein ebenso ernüchterndes, wenn auch weniger destruktives Ergebnis. Es schimmerte die Stabspitze. Aus dem Eichenholz entfloh ein einsamer grüner Funke. Jeremias’ Motivation sank mit jedem Rückschlag.

Als Mister Ollivander, dessen Optimismus unsterblich zu sein schien, erneut äußerte, er habe eine passende Vermutung, zweifelte Jeremias dennoch daran, dass dieses zweifelhafte Einkaufserlebnis nun sein Ende finden würde.

Noch einmal überreichte der Verkäufer ihm ein Stück aus seinem Sortiment. Jeremias erkannte im Blick des Älteren eine bekannte mahnende Vorsicht. »Nur als kleiner Test. Bitte ganz vorsichtig.«

Jeremias hatte aus der letzten Warnung gelernt. Er wagte es kaum, die Hand zu rühren, so dass seine Bewegung nahezu unsichtbar war, doch mit einem Mal erfüllte eine angenehme Brise den Raum, die für den Bruchteil einer Sekunde seine trüben Gedanken beiseiteschob und vom hellen Klang der Türglocke begleitet wurde – ohne, dass diese sich einen Millimeter bewegte.

Mister Ollivander lächelte milde. »Hätten Sie bereits Ihre ZAGs, würde ich Ihnen diese Arbeit wärmstens empfehlen.« Zu Jeremias’ grenzenlosem Entsetzen nahm er ihn ihm aus der Hand. »Üben sollten Sie zu Anfang mit etwas anderem. Warten Sie hier.«

Entrüstet keuchte der Junge auf, holte Luft, um zu protestieren, aber es fiel ihm nichts ein, was seiner Wut angemessen hätte Ausdruck verleihen können. Natürlich warteten Sie! Was blieb ihnen auch sonst übrig? Wo war das Problem des Alten? Wollte der überhaupt etwas verkaufen? Zornig stierte er in die Richtung, in die Mister Ollivander verschwunden war.

Erst, als der Verkäufer feierlich verkündete: »Ich denke, dieser wird perfekt passen« schob der Junge seinen Groll zugunsten der aufkeimenden Hoffnung so gut er konnte beiseite. »Zedernholz mit Einhornhaar. Ein wenig biegsam, zwölfeinviertel Zoll.«

Selbst, wenn er nicht perfekt passen würde, der Junge würde ihn mitnehmen. So oder so! Entschlossen streckte er die Hand mit dem Zauberstab aus und ließ diesen kreisen. Er konnte es kaum fassen. Tatsächlich verließen einige kräftige Funken die Spitze. Sie umkreisten ihn pulsierend, sanken schwerfällig auf den Boden, verglommen jedoch, bevor sie aufkamen.

Der Zauberstabmacher nickte zufrieden. »Ich denke, wir sind hier fertig.«

»Fast«, widersprach Jeremias’ Vater. »Ich muss die Ware noch bezahlen.«

Mister Ollivander lachte hell auf. »Natürlich«, entgegnete er und ging mit Carter Tiller an seinen Schreibtisch.

Jeremias betrachtete währenddessen das Stück Holz in seiner Hand. Es war hell, leicht rötlich und sehr glatt. Das war er also. Sein Zauberstab. Nachdem sein Vater gezahlt hatte, folgte er ihm nicht nach draußen, sondern sah forsch zu Mister Ollivander. »Ich habe eine Frage.« Zögerlich trat er näher an den Schreibtisch heran.

»Ja?«, erkundigte sich der Ladenbesitzer geduldig mit erhobenen Brauen.

»Sie sagten, Weinrebenholz sei sehr wählerisch.« Er sah sich suchend nach dem Stück Holz um, ohne es zu finden. Also schaute er zu Mister Ollivander auf. »Wen wählt er aus?«

Das Lächeln des alten Mannes wurde breiter, blieb allerdings geheimnisvoll, wie seine Antwort. »Genau kann das niemand sagen«, antwortete er, »aber ich habe die Beobachtung gemacht, dass er zumeist Zauberer wählt, welche große Visionen haben, ihr Potential, diese zu erreichen, jedoch sehr gut vor der Welt verbergen, wenngleich sie es zweifelsohne besitzen.«

Warum hatte er dann überhaupt reagiert?, fragte sich der Elfjährige.

»Sie scheinen begabt zu sein, Mister Tiller, sonst wäre der Zauberstab bei Ihrem Eintreffen nicht auf Sie aufmerksam geworden. Und korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege, aber Sie haben ein Ziel, nicht wahr?«

Ertappt starrte der Junge zu seinen Fußspitzen. Es war weniger ein Ziel als ein dringender, schmerzhafter Wunsch, von dem er keine Ahnung hatte, wie er ihn verwirklichen konnte.

»Sie sollten lernen, an Ihre Ziele zu glauben, Mister Tiller«, fuhr der Zauberstabmacher fort, als der Schüler ihm nicht widersprach.

Überrascht hob Jeremias den Kopf. Unweigerlich begegnete er den grauen, wachen Augen Mister Ollivanders. Abermals hatte es ihm die Sprache verschlagen. Wusste der alte Mann, was er da sagte?

Mister Ollivander war dabei, die restlichen Schachteln zusammenzuräumen. »Wissen Sie, wenn mich Leute nach der Bedeutung eines meiner Werke fragen, muss ich sie meistens enttäuschen, denn sie fragen zumeist nach der Bedeutung ihres eigenen, welche ich Ihnen nicht immer frei heraus nennen will. Es gibt so etwas wie eine selbsterfüllende Prophezeiung, schließlich folgt der Stab seinem Meister. Sie sollen nicht der Versuchung anheimfallen, es andersherum zu halten. Es ist selten, dass sich jemand nach der Deutung eines anderen Stabes erkundigt.«

Das konnte sein Kunde schnell erklären. »Warum sollte ich danach fragen, zu wem mein Zauberstab passt? Wenn er mich erwählt hat, weiß ich das doch schon.«

Ein Funkeln blitzte in den Augen des Ladenbesitzers auf. »In der Tat, Mister Tiller.« Lächelnd senkte er den Kopf. »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.«

Jeremias hingegen verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr an Zauberstäbe, Umhänge oder Bücher. Sie hatten alles, was sie brauchten. Somit stand nur noch ein einziger Punkt auf der Tagesordnung: der Rückweg. Mit diesem Vorhaben blieb er etwa drei Schritte vor dem Laden wie angewurzelt stehen, ungeachtet der Passanten, die an ihnen wie ein schwarzes Meer aus Umhängen vorbeiströmten. Seinen Vater schaute er eindringlich an.

Der allerdings seufzte. »Ich wollte kurz bei ’Freud und Leid’ rein. Willst du hier warten?«

Ungeduldig biss Jeremias sich auf die Unterlippe, während er genervt die Augen verdrehte. In einem Laden für Zauberscherze würde sich wohl kaum etwas finden lassen, das wichtiger als Nicolas wäre.

»Ich dachte, eine kleine Aufmunterung sei eine gute Idee«, erklärte sein Vater zuversichtlich.

In der Tat war es das, befand der Junge beschämt. So weit hatte er nicht gedacht.

Wohlwollend nahm sein Vater zur Kenntnis, dass sein Sohn nickte und ihm folgte, doch seine Stirn lag alsbald in sorgenvollen Falten. »Vielleicht findest du ja auch was für dich«, merkte er behutsam an.

»Vielleicht«, wiederholte der Junge, wenngleich er wahrlich keine Lust hatte, in dem Kramladen zu stöbern. Schon gar nicht zwischen albernden Kindern.

Immerhin schien seinem Vater dieses kleine Zugeständnis zu genügen. Zumindest ließ das Thema auf sich beruhen.

Auf dem Weg beachtete Jeremias weder die umherlaufenden Zauberer noch die spektakulären Schaufenster, die mit grellen Farben und fantastischen, sich bewegenden Auslagen lockten. Ihm gingen die Worte des Zauberstabmachers durch den Kopf. Sie müssen lernen, an Ihre Ziele zu glauben, hatte er gesagt. Aber war es nicht vermessen, zu glauben, er, ein kleiner Junge, könnte den Lauf der Dinge ändern? Er konnte keinen einzigen Zauber, das würde er erst in wenigen Wochen lernen. Es hätte keinen Zweck, es zu versuchen. Kein Heiler konnte seinem Bruder helfen; kein Fluchbrecher wusste, wie man das Blatt noch wenden konnte. Was sollte er, ein blutiger Anfänger, dann tun?

Sie liefen am Eulenkaufhaus vorbei, aus dem die verschiedensten Vögel, vom kleinen Kauz bis zum Uhu, schuhuten. Penetranter war dagegen das Geschnatter einiger Hexen davor. So wie es aussah, Mütter mit ihren Töchtern. Bestimmt würden einige davon mit ihm bald nach Hogwarts fahren. Der Gedanke kam ihm noch immer schrecklich unwirklich vor, als wären es nicht einige Tage oder Wochen, sondern in einem halben Leben und doch schon morgen. So lange hin und gleichzeitig viel zu bald.

Der Elfjährige sah zu der gegenüberliegende Seite, auf der das Schaufenster des Buchladens gerade auf ihrer Höhe war. Er war froh, dass sie dieses Geschäft hatten umgehen können. Es war brechend voll. Wie alt die Kinder waren, die dort zwischen ihren mit Einkäufen beladenen Eltern herumliefen, konnte er schwer sagen. Manche waren viel älter als er, andere mochten womöglich in seinem Alter sein. Auch zu ihnen zog es ihn nicht.

Stattdessen war er froh, als das bunte, mit Regalen voller Kleinigkeiten und Krimskrams gefüllte Schaufenster von ’Freud und Leid’ endlich in Sicht kam und man das laute Gelächter, boshaft wie verzückt, aus dem Inneren des Ladens hörte. Ambitionen, hineinzugehen, hatte er keine.

»Tiller, schön dich zu treffen«, ertönte neben ihnen eine dunkle Stimme. Zu ihr gehörte, wie Jeremias erkannte, ein Herr mit roten Haaren, der über einen halben Kopf kleiner als Jeremias’ Vater war. Vermutlich hatte der Gruß Carter Tiller gegolten. Zumindest hatte bisher niemand Jeremias mit seinem Nachnamen angeredet, sah man von der Einladung nach Hogwarts ab. Und Mister Ollivander.

»Patrick.« Erfreut reichte Jeremias’ Vater dem Herrn die Hand. »Wie geht es dir? Lange nicht mehr gesehen.«

Der rothaarige Mann lachte auf. »Tja, wenn du das sagst, dann wird es wohl stimmen. Ich hörte, man kann sich nicht an jedes Treffen mit einem Vergissmich erinnern«, entgegnete er augenzwinkernd, woraufhin seine Heiterkeit jedoch abflaute. »Ja, wir sind in den letzten Vorbereitungen für unsere Kleine. Sie hat sich gerade in der Menagerie in eine Katze verliebt. Meine Frau versucht sie davon abzubringen. Schließlich hat sie seit ihrem ersten Jahr eine Eule – falls die jetzt nicht eingeschnappt ihren Dienst verweigert.« Nun sah der Mann zu Jeremias hinunter, dem er ein breites Lächeln schenkte. »Und wie ich sehe, seid ihr fleißig.«

Die Sorgenfalten verschwanden aus Carters Gesicht.

Sein Sohn fragte sich, ob sein Vater genauso wie er einfach froh war, dass der Andere die höfliche Frage nach ihrem Wohlbefinden unter den Tisch hatte fallen lassen. Ob beabsichtigt oder nicht, Jeremias war froh, drumherum gekommen zu sein, weshalb er die freundliche Geste zögerlich erwiderte.

Während Jeremias sich mit Schweigen begnügte, berichtete Carter von ihrem Tag: »Ja, wobei wir die Bücher für das erste Jahr ja noch haben. Die Liste ändert sich glücklicherweise nicht so oft. Selbst für Verteidigung gegen die dunklen Künste mussten wir kein Buch kaufen, obwohl Professor Quirrel in diesem Jahr scheinbar nicht unterrichtet.«

Der Mann, der Patrick hieß, schaute verblüfft. »Nicht? Haben die sich etwa so schnell wiederholt? Für Pam mussten wir neue Bücher anschaffen. Nicht, dass ich mich da verlesen habe.«

»Nein, wir hatten das Buch ohnehin zuhause. Abarell hat es in ihrer Schullaufbahn anschaffen müssen. Immerhin da hat es sich ausgezahlt, dass Sie sich unfassbar schwer tut, Dinge aus ihrer Schulzeit wegzuwerfen. Irgendwann kommt alles wieder. Unendlich viele Bücher über Verteidigung gibt es schließlich nicht«, klärte ihn Carter auf. »Jetzt wollen wir noch einen kleinen Abstecher machen. Und wo führt es dich hin, Steele?«

Der Rotschopf grinste verschmitzt. »Ich dachte, ich nutze die Zeit, in der sich die Grazien behaupten, und schwelge ein wenig in Erinnerungen.« Er sah hinter sich, direkt zu dem Schaufenster des Besenladens. »Ich kann mich allerdings nicht entscheiden, in welchen Erinnerungen ich schwelgen sollte.«

»Wenn es dir nichts ausmacht, könntest du mich beraten. Ich brauche was zur Aufmunterung meines Älteren«, schlug Jeremias’ Vater vor.

Sein Sohn ahnte, dass es keinesfalls schneller gehen würde, wenn die beiden Männer gemeinsam in dem Scherzartikelladen stöbern würden, weshalb er seinen Vormund anklagend anstarrte. Er sollte bloß zusehen, dass er das Versprechen von einen schnellen Einkauf einhielt.

Sobald sein Vater den Blick bemerkte, den sein Zögling ihm zuwarf, wurden seine Züge härter. »Du kannst mitkommen, oder hier warten.« Das waren die Optionen, die man ihm ließ.

»Ich warte«, brummte der Elfjährige. Er ignorierte den mitleidigen Blick, den ihm der Fremde zuwarf. Stattdessen betrachtete er das Schaufenster des Besenladens, um ja woanders hinzuschauen.

Er hörte seinen Vater »In Ordnung« sagen, bevor sich die Schritte der beiden Männer von ihm entfernten.

Auch, wenn Jeremias nicht absichtlich hingesehen hatte, blieb sein Blick an dem Besen im Schaufenster hängen. Er trat näher heran, auch, um nicht länger mitten im Weg zu stehen. Nachdenklich betrachtete er mit Abstand zu den drei Kindern, die staunend das Fluggerät inspizierten und Expertenmeinungen austauschten, die Auslage. Der Name des neusten Modells interessierte ihn genauso wenig wie dessen Höchstgeschwindigkeit oder Flugstabilisationstechnik. Es war ihm genauso egal, welcher Quidditchspieler darauf flog. Er dachte daran, wie er noch vor einem Jahr, wie die drei Jahre zuvor, mit seinem Bruder hier gestanden hatte, so wie all die anderen Kinder; wie sie darüber geredet hatten, dass man sich mit dem verbesserten Modell ja viel besser in die Kurven legen konnte oder die Windschnittigkeit viel besser sei; dass sie sich auch eines Tages den neusten Rennbesen holen und um die Wette fliegen würden. Sie hatten herumgesponnen, wie es wohl wäre, wenn sie eines Tages gemeinsam – oder gegeneinander – auf dem großen Feld von Hogwarts spielen würden. Aus erreichbaren Zielen waren unerreichbare Träume geworden, wie zum Beispiel der Gedanke, einmal selbst bei der Weltmeisterschaft anzutreten. Man müsse nur genug wollen, hatten sie geglaubt. Sie hatten es wirklich geglaubt, stellte Jeremias rückblickend fest. Es waren keine Spinnereien gewesen. Er und Nicolas hatten es für möglich gehalten. Vielleicht für einen einzigen winzigen Augenblick, aber sie hatten nie bewusst daran gezweifelt. Zumindest er, Jeremias, hatte das nie.

Statt seine Naivität bitter zu belächeln, ging dem Elfjährigen etwas ganz anderes durch den Kopf. Sie müssen lernen, an Ihre Ziele zu glauben, Mister Tiller. Warum nicht? Was hatte er zu verlieren? Rein gar nichts. Damals hatte er an sein Ziel geglaubt, es aber nie ernsthaft verfolgt. Deshalb hatte er es nie erreicht. Heute hatte er ebenfalls einen Traum, doch dieses Mal würde er alles daransetzen, ihn zu erfüllen. Er würde nicht darauf warten, dass der richtige Moment käme oder ihm irgendein Erwachsener seine Erlaubnis gab, wie er sie zum Fliegen eines Besens brauchte. Er würde es einfach tun. Bis das Unabänderliche eintrat, würde er alles in seiner Macht stehende tun, es zu verhindern. Ganz egal, was das Leben seines Bruders kosten würde: er würde es aufbringen.

Mit diesem Plan in der Tasche verlor sogar die Aussicht, allein nach Hogwarts zu fahren, an Schrecken. Wo sollte er besser lernen können als dort? Er wusste von der großen Bibliothek mit den vielen Büchern. Womöglich konnten ihm auch die Lehrer weiterhelfen. Es konnte doch nicht sein, dass es keine Lösung gab! Er würde lernen, was es hieß, ein Heiler zu sein und dann würde er verhindern, dass dieser böse Fluch seinen Bruder für immer auffraß, in die ewige Dunkelheit hinabzog und ihn nie wieder hergeben würde.

Jeremias’ abwesender Blick bekam einen energischen Ausdruck und fixierte den Besen im Schaufenster. Ein verträumtes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Vielleicht, dachte er, würden sie doch irgendwann zusammen in Hogwarts Quidditch spielen. Sein Mund verzog sich kurz darauf zu einer kalten geraden Linie, doch seine Augen erleuchtete ein kämpferisches Funkeln. Nicht vielleicht. Auf jeden Fall.

»Einen eigenen Besen darfst du nicht mitnehmen«, hörte Jeremias seinen Vater sagen.

Erschrocken drehte sich der Junge zu ihm herum. Es war die Neugier, die ihn kitzelte. »Hast du was gefunden?«

»Ich denke schon«, antwortete sein Vater. Er hob eine kleine Tüte hoch, wobei seinem Sohn erst jetzt auffiel, dass er eine weitere bei sich trug. Diese überreichte Carter ihm. »Ich dachte mir, du könntest auch ein wenig Aufmunterung vertragen.«

Betroffen sah Jeremias zu Boden. So trotzig, wie er zuletzt gewesen war und wie er gedrängelt hatte, hätte er mit allem außer einer Belohnung gerechnet. Auf der anderen Seite freute es ihn umso mehr. Zaghaft griff er nach dem Geschenk und sah hinein.

Eine hellbraune Pappschachtel von der Größe einer Schmuckschatulle lag darin. Tiere aus dunkler Tinte wuselten über die Verpackung. In dunkelbrauner, filligran verschnörkelter Schrift stand dort: »Schokoschwimmer«

Ohne, dass Jeremias etwas dagegen unternehmen konnte, zogen seine Ohrläppchen seine Mundwinkel wie magisch an. Möglichst unauffällig schmiegte er sich an seinen Vater, der ihm liebevoll über den Kopf strich und ihn an sich drückte.

Der restliche Tag mit seiner ganzen Familie ging viel zu schnell vorbei. Sie redeten viel, alberten herum und Jeremias dachte für einige Sekunden nicht mehr daran, dass er bald in Hogwarts sein würde. Er versuchte, die Zeit zu genießen – so sehr, dass es fast anstrengend war. Aber, das sagte er sich immer wieder, er würde ihnen schon mehr Zeit erkaufen.

Am späten Abend schließlich, im Kinderzimmer des jungen Tillers, war es ein Schokobiber, der mühselig ein Taschentuch über Jeremias’ Schulter zog, um ihn zuzudecken, nachdem dieser an seinem Schreibtisch über den Lehrbüchern von Hogwarts eingeschlafen war, ehe die Miniatur den Nacken des Kindes hinabschmolz.
Kapitel 3: Ein guter Tag by BlueScullyZ
Das Lächeln auf Mrs. Tillers Lippen war unbeschwert. Es war einer der guten Tage, wie sie oft in solchen Momenten zu sagen pflegte, wenn man sie danach fragte. Gemeinsam saßen sie in der Cafeteria des St. Mungo Hospitals. Es war hell, die Wände waren in Weiß und Limonengrün gestrichen. Warmes Sonnenlicht drang durch die Fenster herein, auch wenn es an diesem Mittag draußen bewölkt war. Magie machte es möglich. Tische und Stühle waren in denselben Farben wie die Wände gehalten. Die wenigen anwesenden Heiler stachen aus den umherlaufenden Leuten dadurch hervor, dass sie sich von der Einrichtung so wenig wie eben möglich unterschieden. Ihre ebenfalls limonengrüne Arbeitskleidung verschmolz mit den Wänden und Möbeln. Die anderen Leute waren Patienten oder Angehörige, die zumeist in schwarze, selten farbige Roben gekleidet waren. Schritte und gedämpften Gespräche der Besucher, sowie das Geklapper von Besteck, erfüllten den Raum, untermalt von einem schwachen Echo, das keine sonderlich heimelige, aber eine immerhin erträgliche Atmosphäre schuf.

Die beiden Tiller-Brüder saßen sich gegenüber. Dass sie Geschwister waren, war auf den ersten Blick kaum zu erkennen. Nicolas war nicht nur um fast zwei Köpfe größer als Jeremias, er hatte zudem braune Haare wie ihr Vater, kein helles strähniges Blond wie sein kleiner Bruder. Auf den zweiten Blick fielen die Sommersprossen auf, die bei ihm in diesem Jahr schwächer hervortraten. Zudem hatten sie dieselbe Stupsnase, wie auch dieselben schmalen Lippen und dasselbe runde Gesicht, das alle in ihrer Familie hatten, sah man von Carter Tiller ab.

Neben den beiden Kindern saß am Tisch Abarell Tiller, die Mutter der beiden Jungen. Gegenüber hatten es sich ihre Schwester Margret und ihr Mann Max so bequem wie möglich gemacht. Die Erwachsenen waren in eine Unterhaltung über die aktuellen Begebenheiten vertieft, die vor Kurzem im Tagespropheten gestanden hatten: unter anderem irgendeine Transportverordnung des Ministeriums. Während sie sich zuvor über schlecht erzogene Katzen und Eulen unterhalten hatten, deren Treiben das Interesse der Jungen gerade eben hatte fesseln können, war den Kindern seit dem Themenumschwung der Ausdruck von Langeweile zu eigen, mit dem sie die leeren Gläser vor sich anstarrten.

Die beiden Schwestern ähnelten sich im Übrigen, anders als die Tiller-Jungen, selbst auf den zweiten Blick so wenig, dass sie ihre Verwandtschaft problemlos hätten leugnen können. Jeremias’ Mutter war eine Handbreit kleiner als ihre ältere Schwester. Dadurch, dass sie von drahtiger Statur war, wirkte sie noch schmächtiger, unscheinbarer und weitaus jünger als die Tante der Jungen, obwohl sie gerade einmal zwei Jahre trennten. Was sie einte waren weniger die blonden Haare, welche die Jüngere akkurat gescheitelt und kinnlang trug, während Margret Tiller sie ohne viel Aufheben zu einer Art strohigen Dutt gedreht hatte, sondern viel mehr ihr energisches Auftreten, ohne das sie in ihrem jeweiligen Beruf wohl nie weit gekommen wären. Dass sie beide bei der Heirat ihren Mädchennamen durchgesetzt hatten, war einer von vielen Beweisen ihres sturen Wesens.

Jeremias’ Tante Margret, ihres Zeichens von kräftigerer Statur, deren harte Gesichtszüge niemandem entgingen und deren wettergegerbte Haut bereits erste Falten aufwies, wäre bestimmt von magischen Wesen zerfleischt worden, hätte sie sich bei ihren Kunden nicht durchsetzen können, die sie bei der Erziehung ihrer ach so lieben Tierchen beriet. Genauso wie seine Mutter, die ihren Dienst als Aurorin beim Zaubereiministeriums versah, sich ein allzu unsicheres Wesen keinesfalls erlauben konnte. Ihren beiden Sprösslingen war diese Souveränität nicht immer geheuer, da ihre Mutter sie gelegentlich ausspielte, wenn es um die Durchsetzung von Benimmregeln oder Absprachen ging. Tante Margret meinte dazu gelegentlich: »Würden meine Kunden ihre Tiere so konsequent erziehen, wie du deine Kinder, wäre ich arbeitslos und die Welt ein besserer Ort".

Selbstverständlich sahen sowohl Jeremias als auch Nicolas das vollkommen anders – insbesondere wenn derlei Erziehungsmaßnahmen in Hausarbeit oder Stubenarrest endeten.

»Ich sag es dir, Abarell, die müssen sich irgendwas einfallen lassen. Ich werde sicherlich nicht mit einem Drachen apparieren. Das würde ich mir nicht einmal mit einem nicht-magischen Hund antun, geschweige denn mit sonst einem Viehzeug, das sich die Leute halten«, versicherte Margret ihrer Schwester glaubhaft, deren Mundwinkel sich sachte gen Himmel reckten.

»Solltest du jemals den Beweis antreten, werde ich sicher davon erfahren«, entgegnete Abarell Tiller amüsiert. Spätestens ihr Mann Carter würde sie nach Feierabend darüber in Kenntnis setzen, wenn die Abteilung der Vergissmich einige Muggel von den Erinnerungen an ein plötzlich auftauchendes magisches Wesen in ihrer Innenstadt befreien musste. Das würde ein interessantes Abendessen werden. »Bleib nur bitte an einem Stück, Margy«, fügte sie bittend an.

Auch die beiden Kinder bemühten sich angestrengt, sich das Lachen zu verkneifen. Die Vorstellung ihrer resoluten Tante, wie sie den Versuch unternahm, einen Drachen auch nur auf den Arm zu nehmen – wäre er auch noch so klein – war absurd. Die Biester waren, so viel wussten sie aus Erzählungen, zu wehrhaft, als dass sie als Haustiere taugten. Nichtsdestotrotz hatte Margret bereits zwei Narren kennengelernt, die sich diesem Unterfangen naiverweise gestellt hatten. Angemeldet hatten sie ihre Lieblinge bei der Tierpflegerin für magische Geschöpfe als Feuerechsen. Zwei Dumme, ein Gedanke.

Nicolas entfuhr ein vergnügtes Glucksen. »Wenigstens hätte ich dann Gesellschaft.«

Mahnend streckte seine Tante ihm den Zeigefinger entgegen. »Pass auf! Das werde ganz bestimmt nicht ich sein und einen Drachen willst du ganz sicher nicht zum Bettnachbarn«, entgegnete sie. »Außerdem habe ich gehört, dass du morgen ohnehin nach Hause darfst. Das in der Kürze der Zeit zu bewerkstelligen, könnte schwierig werden.«

»Liebes, ich wäre dir verbunden, wenn du wenigstens abwartest, bis der Erlass tatsächlich in Kraft treten sollte«, bat Jeremias’ Onkel seine Frau mit seinem sanften Lächeln. Der Elfjährige hatte seinen Onkel niemals erbost oder gar wütend erlebt. Selbst in seinen Gedanken war es ein absurdes Bild. Der kräftige Mann war noch größer als seine Frau – und er war ein Muggel. Durch seine Frau, die gleich beim ersten Date reinen Tisch gemacht hatte, hatte er sich jedoch an die magische Welt der Zauberer und Hexen gewöhnt, so dass ihn die Dinge, derer er in ihrer Gegenwart, speziell im St. Mungos, ansichtig wurde, nur noch selten schockierten. Angeblich hatte er bei ihrem ersten Treffen kein einziges Wort herausbekommen. Tante Margret war heute noch der Meinung, dass es ausschließlich deshalb zu einem zweiten Treffen gekommen war, weil er sich nicht getraut hatte, ihrer Einladung zu widersprechen. Glücklicherweise hatte er am nächsten Tag seine Sprache wiedergefunden, sonst hätte er die Gelegenheit verpasst, einen neuen Nachnamen anzunehmen. Wie genau Onkel Max einmal geheißen hatte, versuchten die Kinder, seit sie die Geschichte das erste Mal gehört hatten, zu erraten, doch bisher hatten sie sich umsonst bemüht. Es musste wahrlich ein schlimmer Name gewesen sein.

So sehr die beiden Jungen ihre Verwandtschaft mochten, so wenig Interesse hegten sie daran, einem stundenlangen Gespräch der Erwachsenen zu lauschen, auch wenn die ein oder andere Anekdote sicherlich amüsant war.

Während Jeremias versuchte abzuwägen, ob sie lange genug brav daneben gesessen hatten, um seiner Mutter die alles entscheidende Frage zu stellen, fiel ihm etwas an seinem Bruder auf: Sein braunes Haar war nicht mehr stumpf oder glanzlos und seine braunen Augen funkelten vor Vorfreude. So war es an Tagen, die seine Mutter gut nannte. In Jeremias’ Ohren eine zweifelhafte Umschreibung. Früher hatten sie dafür keine Namen gehabt. Damals waren nur schlechte Tage erwähnenswert gewesen. Vor zwei Wochen dagegen hatte es anders ausgesehen. Bleich und verschwitzt hatte Nicolas die meiste Zeit des Tages schlafend verbracht und wenn er wach gewesen war, hatten seine Hände so sehr gezittert, dass er kaum ein Glas hatte halten können. Bei jeder Berührung, jeder Bewegung war er zusammengezuckt, ehe er mit schmalen Lippen trotzig den nächsten Versuch wagte. Tage, die es vor wenigen Jahren in ihrem Leben nicht gegeben hatte; für die sie auch heute noch keine Worte hatten. Wütend schüttelte Jeremias diese Gedanken ab. Er wollte diesen guten Tag mit Nicolas genießen. Je seltener sie wurden, desto mehr versuchte er es – und umso schwieriger wurde es, die Angst zu verdrängen.

»Komm, lass uns in den Garten gehen«, schlug Nicolas vor, während er sein leeres Glas von sich schob.

Hoffnungsvoll schaute Jeremias zwischen Nicolas und seiner Mutter hin und her.

Neben der Frau, die ihm gegenüber das Sagen hatte, schaute Onkel Max, der bis zu diesem Zeitpunkt geduldig die Tischplatte vor sich gemustert und seine Tasse auf der Unterlage gelegentlich um einen Millimeter vor oder zurückgedreht hatte, erwartungsvoll auf, ehe er sich der Präsenz seiner eigenen Begleitung bewusst wurde. Er gab sich große Mühe, seine Enttäuschung, mit der er sich erneut seiner Tasse widmete, zu verbergen, zwinkerte den Jungen jedoch verstohlen mit einem verschmitzten Grinsen zu, das die Kinder erwiderten.

Abarell nickte in Richtung des Cafeteria-Ausgangs. »Macht nur, wir kommen nach.«

Keinen Augenaufschlag später schoben die beiden Brüder die Stühle ungeachtet anderer Gäste zurück und liefen los. Zwar tat Onkel Max Jeremias ein kleines bisschen leid, dennoch zögerte er keine Sekunde.

Es genügte ein Räuspern ihrer Mutter, um die beiden Jungen im Lauf erstarren zu lassen.

»Nicht auf dem Gang rennen«, ermahnte sie die Zwei. »Und im Garten vorsichtig sein. Passt auf die Leute auf.« Sie bedachte ihre Kinder mit einem eindringlichen Blick.

Ihre Tante dagegen war mit ihnen noch nicht fertig. »Ich habe noch etwas für euch«, hielt sie die beiden strahlend zurück, die sich bereits erneut in Fluchtrichtung umgedreht hatten. Natürlich waren sie neugierig, was sie erwartete. Währenddessen suchte Margret in ihrer großen Tasche, die mehr an einen sehr kleinen Raubbeutel eines Trolls statt an eine Tasche erinnerte, bis sie schließlich fündig wurde: »Da ist er ja!« Zu Tage förderte die Hexe einen quietschgelben Ball. Er war in etwa so groß wie ihr Handteller. Feine Rillen verliefen über seine Seiten. Sie formten das Abbild zweier Flügel.

Beide Jungs erkannten sofort, was es war, woraufhin sie ihre Tante voller Freude anstrahlten.

Ihrer Mutter entfuhr ein Seufzen nachsichtiger Natur. »Sie haben davon auch noch nicht genug«, murmelte sie kopfschüttelnd, wurde der Ermahnung ihrer Sprösslinge jedoch nicht müde: »Seid aber im Garten damit vorsichtig.«

Natürlich wären sie das, versprachen sie, nahmen das Spielzeug entgegen, bedankten sich artig, bevor sie ihren Weg an der Essensausgabe vorbe, fortsetzten. Die Worte ihrer Mutter zeigten bis zur Schwelle des Cafés Wirkung, dann, sobald der Bann gebrochen war, rannten sie das kurze Stück zum Eingang des Gartens, froh, den Regeln ein Schnippchen geschlagen zu haben. Den strengen Blick eines vorbeigehenden Heilers ignorierten sie und platzten um die nächste Ecke.

Vor ihnen tat sich kein weiterer Flur auf, kein weiterer limonengrüner Raum. Aus dem hellen Gang stolperten sie geradewegs in einen Garten. Echtes Gras überwucherte den Boden und Pflanzen verschiedenster Größe wuchsen jenseits der gepflasterten Wege aus der Erde. Über ihnen war der blaue Himmel. Er war wie auch die helle Sonne, die von oben herabstrahlte, bloß eine gute Illusion, die den Patienten trotz der für Geheimhaltung ungünstigen Lage in der Londoner Innenstadt ein wenig Entspannung ermöglichte.

Direkt am Anfang gabelte sich der Weg. Während es auf der einen Seite in einen lichten Wald ging, der Ruhe und Abgeschiedenheit versprach, ging es links herum an einigen niedrigen kleinblättrigen Büschen vorbei zu einer großen Wiese.

»Wer zuerst da ist!«, rief Nicolas, während er in derselben Sekunde bereits losgesprintet war.

Für den Augenblick vergaß Jeremias, dass es ein unfairer Kampf war. Sein Bruder war geschwächt, sein heutiges Hoch vielleicht nur eine Phase, aber darüber dachte er nicht weiter nach, während er seinem vier Jahre älteren Bruder nachjagte und mit aller Macht versuchte, ihn einzuholen. Sie schossen vorbei an Grüppchen von Patienten und ihren Angehörigen oder an Personal, manchmal begleitet von Bekundungen des Unmuts ("Passt doch auf!"), manchmal der Freude über ein wenig Leben und Übermut ("Na, na, langsam, Kleiner."), aber auch darauf hörte keiner der beiden. Sie rannten um die Wette, bis sie nach einigen Metern an der Wiese ankamen.

Jeremias hatte seinen Bruder um einige Schrittlängen geschlagen. Voller Triumph drehte er sich zu ihm herum.

»Gut gemacht«, keuchte Nicolas, als er wenige Sekunden später neben ihm stehen blieb. Anerkennend lächelnd schlug er ihm auf die Schulter.

Das ruhmreiche Grinsen auf Jeremias’ Lippen verblasste im Angesicht der Anstrengung in Nicolas’ Gesicht. Es war ein viel zu leichter Sieg gewesen.

Sein großer Bruder ließ kein Trübsal aufkommen, sondern packte ihn nochmals bei der Schulter, um ihn auf den Rasen zu ziehen. »Dann mal los«, rief er fröhlich.

Tatsächlich verzogen sich Jeremias’ dunkle Gedanken. Er lief einige Meter weiter vor und stellte sich dort dem anderen gegenüber auf, der, kaum dass der Jüngere stehen geblieben war, endlich den Ball warf.

Das kanariengelbe Geschoss flog zunächst schnurgerade auf Jeremias zu. Er wusste, dass er ihm nicht trauen durfte. Gerade, nachdem es die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, änderte es seine Richtung. Hastig sprintete er nach rechts, streckte seine Finger aus, mit denen er das Geschoss gerade so zu fassen bekam. Das war einfach gewesen, dachte er, vom schnellen Erfolg beflügelt. »Achtung!«, rief er grinsend seinem Mitspieler zu, ehe er den Ball zurückpfefferte.

Auch Nicolas wurde keinesfalls von einem Überraschungsmoment verschont. Kurz vor ihm machte der Ball einen Hüpfer nach oben und drohte, einige Meter hinter ihm zu landen. Der Ältere reagierte schnell und rannte bei seinem Fang beinahe eine Heilerin um, die über den Weg kam.

Glücklicherweise schüttelte sie nachsichtig den Kopf und rief halbherzig im Vorbeigehen in ihre Richtung: »Passt aber auf, Jungs!«

Mit treuen Augen, als könnten sie kein Wässerchen trüben, riefen sie ihr nach: »Sicher doch!«

Jeremias wandte gerade seinen Blick zurück zu Nicolas, als er den Ball wieder auf sich zukommen sah. Zunächst starr vor Schreck riss er die Hände nach oben, um ihn zu fangen. Es gelang ihm knapp, einen Zusammenprall mit seiner Nase zu verhindern. Natürlich wich der magische Ball nicht aus, wenn man es mal gebrauchen konnte. »Na warte!«, schrie er seinem Bruder entgegen, halb im Spaß, halb ernsthaft verärgert über diesen unfairen Zug.

Statt das Geschehen zu bedauern, hielt Nicolas sich vor Lachen den Bauch. »Du hättest dich mal sehen sollen!«, rief er zu ihm herüber. »Als hätte ich dir einen Klatscher entgegengeschleudert.«

Beschämt lief Jeremias rot an. »Ich hatte nicht damit gerechnet!«, verteidigte er sich trotzig, selbst ein wenig belustigt über die Situation, doch eines war klar: mit falscher Rücksicht war es vorbei. Ohne abzuwarten, bis sein großer Bruder wieder stand, schmetterte er den Ball mit aller Kraft in dessen Richtung, doch selbst als das Flugobjekt scharf nach links ausbrach, wodurch es viel weiter vorne landete, gelang es Nicolas mit einem ambitionierten Hechtsprung, ihn zu ergattern.

Selbst von seinem Standpunkt aus, mehrere Meter entfernt, konnte Jeremias sehen, wie der Blick seines Bruders energischer wurde, das Lachen um seine Mundwinkel schmaler. Es war ihm ganz und gar nicht egal, ob der Ball auf dem Boden aufschlug oder nicht. In Hogwarts war Nicolas Hüter. Ihm ging kein Quaffel durch die Lappen. Das galt auch im Spiel mit seinem jüngeren Geschwisterkind.

Ohne Wenn und Aber sprang er nach vorn und schlitterte der Länge nach einige Zentimeter über das Gras, das Geschoss sicher in seinen Händen. Gelassen stand er auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung, ehe er herausfordernd zu Jeremias schaute. »Für dich«, rief er und schmetterte den Ball zurück, wobei die Intensität kaum vergleichbar mit der Kraft war, die Jeremias je hätte aufbringen können.

In den Augen des Jüngeren erglomm nun ebenfalls ein energisches Funkeln, während er dem Zielobjekt entgegenstürmte. Jetzt hatten sie endlich für einen Augenblick vergessen, wo sie waren. Jetzt zählte nur noch das Spiel.

Sie jagten über die Wiese und ignorierten ihre Verwandten, die in der Zwischenzeit ebenfalls angekommen waren. Der ein oder andere Besucher schaute dem bunten Treiben zu.

»Nicht so wild!«, schallte letztlich die Ermahnung ihrer Mutter über ihr Spielfeld, wenngleich sie amüsiert klang.

Grinsend wandte Jeremias sich nach seinem nächsten Wurf zu ihr, um zu winken. Als er seinen Gegner fixierte, stellte er zufrieden fest, dass er einen weiteren Punkt gemacht hatte. Sie lieferten sich ein spannendes Kopf-an-Kopf-Duell, obwohl er selbst höchstens halb so geschickt war wie der geübte Hüter, was wiederum dessen Trainingsrückstand ausglich.

Jäh erstarb das breite, fröhliche Grinsen auf Jeremias’ Lippen, als Nicolas, der sich zu dem Ball herabgebeugt hatte, plötzlich ohne erkennbaren Grund taumelte und auf die Knie fiel. Er hatte kaum Zeit, die Situation zu realisieren, da drang die besorgte Stimme seiner Mutter an sein Ohr.

»Nico!«

Die Angst in ihrer Stimme manifestierte sich in seinem Magen, sendete eine merkwürdige Welle aus Hitze und Kälte durch seinen Körper. Er war wie festgefrohren. Starr vor Furcht beobachtete er, wie seine Mutter an ihm vorbeilief. Die Erkenntnis, dass der Augenblick der Sorglosigkeit vorbei war, war wie ein Schlag ins Gesicht. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein!

Seine Mutter war bereits bei Nicolas.

Auch, wenn er am liebsten zu ihm gestürmt wäre, blieb er, wo er war, denn er wusste, selbst wenn er direkt daneben stünde, würden weder Angst noch Hilflosigkeit verschwinden. Es würde alles nur deutlicher.

Sein Bruder hatte sich an die Brust gefasst, die Hand verkrampft in sein Shirt gekrallt, und war seitlich auf dem Grün zu liegen gekommen. Er krümmte sich. Erstickte Laute entkamen seiner Kehle, die seine Qualen erahnen ließen. Sein gesamter Körper zitterte, so sehr, dass es selbst aus der Entfernung von mehreren Metern viel zu gut zu erkennen war. Hochrot war sein Kopf angelaufen und binnen weniger Sekunden glänzte sein Gesicht vor Schweiß.

Jeremias hatte keine Ahnung, wie es sich für Nicolas anfühlte, wenn das geschah. Was genau da passierte, das konnte sein Bruder nicht in Worte fassen. Einmal hatte er ihn gefragt, doch der ältere Junge hatte bloß erschrocken ins Nichts gestarrt, während er hilflos nach Worten gerungen hatte, bis er unbeholfen mit den Schultern gezuckt hatte. Es musste schrecklich sein.

Seine Mutter hatte sich zu Nicolas gekniet und dessen Oberkörper auf ihren Schoß gezogen. Beruhigend redete sie auf ihn ein, strich ihm behutsam über den Arm, während er sich vor Schmerzen wand.

Allein der Anblick war für Jeremias unerträglich. Nicolas – seinen großen Bruder, die große Nervensäge und gleichzeitig seinen Beschützer – so zu sehen, ließ ihn innerlich fast zerbersten. All die unausgesprochenen Worte, die vielen Wünsche, die ihn überkamen: der Wunsch, etwas zu tun; es zu lindern; zu helfen; ihn zu beschützen; es zu beenden. Sie alle waren zwecklos sowie unerfüllbar. Stattdessen griff eine klamme, kalte Hand nach seinem Herzen, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken und fasste es so fest, dass jeder einzelne Schlag weh tat. Das war die Angst. Die blanke Angst um seinen Bruder, der dort vor ihm am Boden litt und gegen einen unsichtbaren, unbesiegbaren Feind kämpfte. Und mit jedem Mal wurde der Kampf länger.

Gurgelnde Laute hallten über die Wiese, gefolgt von einem spitzen Aufschrei, der wie ein glühendes Messer in Jeremias’ Brust drang.

Vor Hilflosigkeit zitternd stand der Elfjährige da. Er kümmerte sich nicht um die Tränen, die sich in seinen Augen bildeten. Stattdessen drangen die Leidenslaute bis unter seine Haut. Sie bereiteten ihm Übelkeit. Die Schmerzen sollten vorbeigehen. Jetzt! Denn heute, das hatte seine Mutter gesagt, heute war ein guter Tag.

Offensichtlich hatte sie sich geirrt. Was vor einigen Jahren ein unmerkliches Zögern, später dann ein kurzer Schmerz gewesen war, dauerte irgendwann Sekunden an. Heute Minuten, die ihnen allen vorkamen wie Stunden. Nicolas womöglich wie ein ganzes Leben.

Etwas oder jemand fasste den Jüngsten an der Schulter, um ihn ein Stück weit vom Geschehen wegzudrehen.

Kaum dass er sich von dem Anblick gelöst hatte, fiel die Starre von ihm ab und er vergrub sein Gesicht in der Schulter neben ihm, ungeachtet, wem sie gehörte. Er wollte das nicht mehr sehen. Er wollte nicht hören, wie sein Bruder litt. Er wollte nicht, dass das hier passierte! Schluchzen ergriff ihn, während die Tränen ungehindert in den Stoff vor seinen Augen sickerten.

Aber er durfte Nicolas auch nicht alleine lassen. Was, wenn nicht nur dieser Anfall vorbeigehen würde, sondern es das Ende sein sollte? Was, wenn Nicolas diesmal den Kampf für immer verlor? Auch, wenn die Arme ihn festhielten, drehte er den Kopf zurück zu dem Geschehen, wissend, dass seine Tränen für jedermann sichtbar wären. Er hatte keine Beachtung für das Gesicht seiner Tante, die sich neben ihn gekniet hatte. Er hatte keine Augen für ihr warmes Lächeln, war taub für ihre Worte.

Eine Heilerin kniete bei seiner Mutter und seinem Bruder und winkte jemanden zu sich heran.

Viel war ohnehin nicht zu erkennen. Lediglich Nicolas’ Beine, die sich in träger Unruhe wanden, konnte der Elfjährige sehen. Alles Weitere wurde von den beiden Personen verdeckt.

Stetig rannen Tränen über sein angsterfülltes Gesicht, die ihm die Sicht nahmen.

Die Gruppe erhob sich, Nicolas über dem Boden schwebend in der Mitte. Die Glieder seines Bruders waren reglos.

Seine Mutter wandte sich zu ihm um und er war dankbar für das Lächeln, das sie ihm schenkte, das ihm Mut machen sollte. Wie immer, wenn das geschah, glänzten auch ihre Augen.

Erschöpft ließ Jeremias seinen Kopf auf die Schulter vor sich sinken. Er wusste, seine Mutter würde Nicolas begleiten. Er durfte nicht.

Beruhigend strich ihm derjenige, der sich zu ihm gekniet hatte, über den Rücken. »Wir können hier warten«, versicherte sein Onkel ihm, dessen tiefe, ruhige Stimme er sofort erkannte. Sie war wie ein Schwamm, die alle Unruhe in sich aufsog. Selbst die Angst des Jungen packte sie in eine dünne Schicht Watte und dämpfte sie, wenn auch nur ein wenig.

Ein erleichtertes Seufzen überkam ihn, vermischt mit dem, wie er sich vornahm, letzten Schluchzer. Energisch wischte er sich mit dem Ärmel über die Augen, um die Tränen zu vertreiben, woraufhin sein Onkel ihn losließ. Erst jetzt nahm er die Umstehenden wieder wahr. Seine Tante kniete neben ihm. Einige Besucher standen erschrocken wie betroffen auf den Wegen.

Tief holte Jeremias noch einmal Luft, bevor er sich seinen Verwandten zuwandte. »Können wir mitgehen?«, fragte er mit gebrochener Stimme, für die er sich schämte. Mit ihm war doch alles in Ordnung. Nicht er wurde von den Qualen heimgesucht. Er sollte jetzt der Beschützer sein, sagte er sich, wie so oft, doch es war viel schwieriger, als es klang.

Glücklicherweise hinterfragten sein Onkel und seine Tante seinen Entschluss nicht. »Na, dann komm.« Max stand auf und schob seinen Neffen an der Schulter behutsam neben sich her.

Als sie zum Weg liefen, blieb Jeremias stehen, um den Ball aufzuheben, der noch immer auf der Wiese lag, ehe er den besorgt dreinblickenden Erwachsenen aus dem Garten folgte.

Die Illusion hatte für Jeremias an Schönheit verloren. Mit einem Mal wirkte alles wie eine schlechte Kulisse. Trügerisch, falsch, wie aus Pappmaschee mit viel zu grellen Farben. Nicht einladender als die sterilen Flure. Die Pflanzen sowie der magische Himmel konnten nicht mehr darüber hinwegtäuschen, wo oder weshalb sie hier waren. Vielleicht war das ihr Fehler gewesen. Sie hätten es niemals vergessen dürfen. Er hätte sich der Täuschung nicht hingeben dürfen. Womöglich wäre dann die Erkenntnis nur halb so schmerzhaft gewesen. Jedenfalls hatte ihm der Vorfall ein weiteres Mal vor Augen geführt, dass er sich beeilen musste. Er musste schnell eine Lösung für das Problem seines Bruders finden, bevor es zu spät war. Er konnte keinesfalls warten, bis er nach Hogwarts fuhr.

Auf dem Flur vor Nicolas Zimmer setzten die drei Tillers sich auf eine Bank. Sie schwiegen und Jeremias war froh darüber. Denn was gab es groß zu sagen, wenn niemand etwas wusste?

Zwei Heilerinnen schlenderten an ihnen vorbei. Jeremias kannte sie nicht. Entfernt unterhielten sich zwei Besucher auf dem Gang, doch der Junge verstand kein Wort, gab sich allerdings auch keine große Mühe, zu lauschen.

Morgen hätte sein Bruder entlassen werden sollen. Er wäre nach Hause gekommen. Sie hätten die letzte Woche, bevor das Schuljahr begann, zusammen verbringen können. Nicht auf den Krankenhausfluren, sondern in ihren Zimmern. Sie hätten im Garten, einem echten Garten, spielen können, hätten gemeinsam gefrühstückt, mit Schokoschwimmern. Gut, vielleicht hätten sie sich gestritten und mit Sicherheit hätte Nicolas ihn geärgert: seine Schulsachen versteckt oder ihm abends Schauergeschichten über Hogwarts erzählt, von denen er nie ganz genau sagen konnte, ob sie wahr waren. Dass es Riesen in der Schule gab, war eine der leichter zu entlarvenden Lügen. Es wäre so gewesen wie immer.

Dass sie allerdings ins St. Mungos kommen mussten, damit sie Nicolas sehen konnten, wurde immer mehr die Regel. Jeremias war weit davon entfernt, sich daran zu gewöhnen. Zwei Wochen. So viel Zeit lag zwischen seinem letzten Anfall und heute. So kurz nacheinander war das noch nie passiert. Es waren mal ganze Monate gewesen. Damals waren sie ganz selten hier gewesen. In diesem Jahr kam es ihm vor, als hätte es keinen Monat gegeben, in dem sie nicht hatten herkommen müssen. Es dauerte zudem mit jedem Mal länger, bis er zurück nach Hause durfte. Diesen Monat käme Nicolas womöglich gar nicht mehr zu ihnen. Wäre er da, wenn Jeremias Ferien hatte? Oder wäre das St. Mungos dann endgültig Normalität?

Ganz fest nahm der Elfjährige sich vor, zuhause sofort in die Bücher zu schauen. Ihm blieb keine Zeit mehr. Wütend starrte er den Ball an, als hätte dieser irgendeine Schuld an dem Geschehen. Irgendwie war es ja auch so. Sie hatten sich von ihm verführen lassen. Er hatte ihnen Zeit gestohlen. Oder gegeben? Nein, der kurze Glücksmoment war wie der Garten bloß eine Fantasie gewesen, die nichts an der Realität änderte.

Hastig sah der Junge auf, da viel schneller als erwartet, die Tür geöffnet wurde. Ein Heiler verließ gemeinsam mit seiner Mutter den Raum. Die Augenränder von Abarell Tiller waren gerötet und trotzdem lächelte sie ihren Jüngsten tapfer an.

Der Heiler blieb vor Jeremias stehen. Zwar ließ die Adlernase ihn irgendwie gefährlich erscheinen, aber seine braunen Augen verströmten so etwas Ähnliches wie Wärme. Es war nicht derselbe Heiler wie im Garten, sondern Claes Prasanna. Er arbeitete auf der Station für Fluchschäden, weshalb Jeremias und Nicolas ihn schon des Öfteren gesehen hatten. »Dein Bruder schläft jetzt. Für heute braucht er Ruhe, aber morgen geht es ihm sicher schon besser«, erklärte er dem Jungen geduldig.

Mit anderen Worten: er durfte nicht zu ihm. Wütend senkte Jeremias den Blick, starrte auf das gelbe Unheil in seiner Hand und nickte steif.

»Euer Spiel hat damit nichts zu tun«, erklärte der Heiler ungefragt, woraufhin Jeremias überrascht aufsah.

»Aber vielleicht ist es passiert, weil er sich zu sehr angestrengt hat«, entgegnete der Junge bekümmert. Er wagte es nicht, zu seiner Mutter zu sehen. Was würde sie denken, wenn er Schuld an allem hatte? »Oder ...«, stammelte er ängstlich, »Oder weil er Spaß hatte?« Was, wenn es nur passierte, wenn Nicolas glücklich war, um jegliche Freude im Keim zu ersticken?

»Das hätte genauso gut im Café passieren können oder auf seinem Zimmer. Es scheint keinen Auslöser dafür zu geben. Es ist also nichts falsch daran, wenn ihr zwei versucht, ein bisschen Spaß zu haben.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, bevor er sich abwandte und Abarell zum Abschied zunickte, ehe er die Familie alleine ließ.

»Ach Mias«, rügte Jeremias’ Mutter ihn müde und zog ihren Sohn in eine Umarmung. »Du kannst nichts dafür, hörst du?«, flüsterte sie ihm ins Ohr, als er sich an sie anschmiegte und sie ihn ganz fest hielt. »Auch, wenn ihr euch manchmal streitet – das machen Geschwister so – bist du der beste Bruder, den Nicolas sich wünschen kann.« Das Zittern ihrer Stimme konnte Jeremias deutlich hören.

Plötzlich hatte der Junge einen dicken Kloß im Hals, wie es in letzter Zeit immer häufiger der Fall war. Er brachte lediglich ein Nicken zustande, statt zu widersprechen. Ein echter bester Bruder hätte gemacht, dass Nicolas gesund würde. Davon war er weit entfernt.

Vorsichtig schob seine Mutter ihn von sich, hielt ihn mit ausgestreckten Armen an den Schultern fest und sah ihm fest in die Augen.

Er wich ihr aus.

»Es ist lange her, dass der Unfall passiert ist. Niemand hier trägt daran irgendeine Schuld, ja? Es war ein Unfall.« Liebevoll strich sie ihm über die Wange.

Fast hätte Jeremias verächtlich geschnaubt. Ein Unfall. Gab es Unfälle im Krieg? Er selbst war zu klein gewesen, um sich an das Geschehen zu erinnern, aber ihm war es ziemlich egal, von welcher Seite der Fluch gekommen war, der seinen Bruder erwischt hatte. Nicht einmal, um welchen Fluch es sich handelte, konnte ihnen irgendjemand sagen. Niemand konnte das und niemanden interessierte sich angesichts der damaligen Kämpfe für diese Spitzfindigkeit, die das Leben eines damals sechsjährigen Jungen und dessen Familie zerstörte, die sich nichts mehr als Schutz und Sicherheit ersehnt hatten. Für sie war es völlig gleichgültig, ob es sich um ein Versehen oder Absicht gehandelt hatte. Selbst, in den Augenblicken, in denen Jeremias sich wünschte, irgendjemandem die Schuld geben zu können, jemanden zu haben, den er hassen und anschreien konnte, fühlte er sich nicht besser. Es machte keinen Unterschied.

»Natürlich macht es das nicht besser, ich weiß. Aber versprichst du mir, mit mir und Papa das Beste draus zu machen? Es wenigstens zu versuchen?«

Jeremias drehte seinen Kopf zur Seite, denn seine Augen begannen erneut unangenehm zu brennen. Er wollte keinesfalls schon wieder weinen und er konnte dieses Versprechen nicht geben. Das würde bedeuten, zu akzeptieren, was unweigerlich irgendwann passieren würde. Dass sein Bruder starb. Er vermied es, es so konkret zu benennen, aber so war es. Nicolas starb. Das wollte er nicht akzeptieren und das würde er nicht, bis es so weit wäre.

Abermals strich seine Mutter ihm über die Wange, als sie keine Antwort erhielt. »Nicht schlimm«, sagte sie und als Jeremias verstohlen zu ihr herüberblickte, lächelte sie. »Willst du mit mir auf Papa warten oder lieber mit Onkel Max und Tante Margret nach Hause fahren?«

Sein erster Impuls war natürlich, zu bleiben. Am liebsten für immer an der Seite seines Bruders, aber das ging nicht. Außerdem schlief Nicolas ohnehin. Er würde es nicht merken, wenn er weg wäre. Stattdessen konnte er zuhause in den Büchern nach einer Lösung, einer Idee, irgendeiner Heilung suchen. Vielleicht, so der nicht zu erstickende Hoffnungskeim in ihm, fand er ja heute etwas. »Ich fahre mit.«

»Gut.« Sie nahm ihm noch einmal in den Arm. »Wir kommen dann bald nach.«

»Ich weiß«, murmelte Jeremias, seufzte und zwang sich, das Lächeln seiner Mutter, wenn auch nur für einen Sekundenbruchteil, zu erwidern. Er wusste, dass sie genauso traurig war wie er selbst.

Dann ging er mit seinem Onkel und seiner Tante zum Ausgang. Während sie ins Erdgeschoss fuhren, dachte Jeremias darüber nach, dass es gerade einmal Mittag war und was sie heute alles hätten tun können. Der Tag hatte als guter Tag begonnen, doch letztlich war ihnen ein weiterer von den wenigen, die ihnen bis zum Beginn des Schuljahres blieben, gestohlen worden.

Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich und sie traten hinaus in die Eingangshalle. Die große Uhr, die wie ein Mahnmal seiner größten Angst über dem Empfang hing, ließ Jeremias erstarren. So viel Zeit, die ihnen fehlte.
Kapitel 4: So nah und doch so fern by BlueScullyZ
Noch immer stand Jeremias, umgeben von dem dämmerigen Licht einer flackernden Lampe sowie dem Rattern der Räder auf den Gleisen, im Gang des Hogwarts-Express’. Leute hatten sich in der Zwischenzeit an ihm vorbeigedrängt, woraufhin er in den Eingangsbereich des Wagens gegangen war. Dort war es selbst bei geschlossenen Verbindungstüren lauter und zugiger, aber es war geräumiger. Schüler waren an ihm vorbeigelaufen, ebenso wie eine rundliche, ältere Dame mit einem Verkaufswagen, die ihm Süßigkeiten angeboten hatte. Auf dem Rückweg hatte sie sogar einen Schokofrosch fallen lassen, nachdem sie sich bei ihm erkundigt hatte, ob alles in Ordnung sei. Jeremias hatte ihn ihr wiedergebracht, woraufhin sie ihn sehr merkwürdig gemustert hatte, bevor sie die Ware an sich genommen hatte und kopfschüttelnd abgerauscht war.

Zwei Vertrauensschüler waren ebenfalls bei ihm stehengeblieben. Er hatte ihnen glaubhaft versichert, dass es kein Problem gab und sie waren, wenn auch mit zweifelnden Mienen, weitergegangen, während der Erstklässler mit den Gedanken schon wieder weit in der Vergangenheit versunken gewesen war. Augenscheinlich gab es keine Vorschrift, die das Herumlungern auf dem Gang verbot.

Ungeachtet der unsicheren Blicke der Vorbeiziehenden hatte er sich Stunde um Stunde in seinen Erinnerungen verloren, während der Regen vorbeigezogen und die Landschaft für einen kurzen Moment durch die aufreißende Wolkendecke hindurch in das rotgoldene warme Licht der Abendsonne getaucht worden war, bevor sie schlussendlich in der Dunkelheit verschwand.

Ihn selbst überraschte es, dass er nahezu die gesamte Fahrt an dieser Stelle zugebracht hatte. Allein die ausgedorrte Kehle und seine schmerzenden Füße vermittelten ihm einen Eindruck der Zeit, die vergangen sein musste. Hunger hatte er trotz der langen Fahrt keinen. Stattdessen hatte ihn eine Durchsage aufgeschreckt.

»In fünf Minuten erreichen wir Hogwarts. Bitte lassen Sie Ihr Gepäck samt Haustiere im Zug, es wird für Sie zur Schule gebracht.«

Gut, dass er sich darum nicht kümmern brauchte, dachte er. So konnte er hier warten, bis sie ankämen. Er strich dem grauen Kater trostsuchend über den Kopf. Seine Finger verschwanden nahezu in den langen Haaren des Nackenfells.

Len blinzelte und leckte sich mit der Zunge die eigene Nase, während sein rechtes Ohr bei der Berührung zuckte. Das Tier war das einzige lebende Etwas, das ihn mit seinem Zuhause verband. Das, was einem Freund am nächsten kam.

Seine Familie hatte ihm viel Spaß gewünscht und gesagt, er lerne sicher viele nette Menschen kennen. Unter anderen Umständen hätte er sicherlich gerne mit seinen Mitfahrern über ihre Haustiere gesprochen, Zauberstäbe verglichen oder herumgealbert, doch heute war ihm nicht danach. Er hatte keinen Kopf dafür. Vielleicht später, wenn es seinem Bruder wieder gut ging – obwohl Jeremias bezweifelte, dass er jemals wieder in seinem Leben ernsthaft über solche Nichtigkeiten würde diskutieren können. Jetzt, wo er wusste, dass es so viel wichtigeres gab, kamen ihm die vielen kleinen Probleme seiner Mitschüler unendlich belangenlos vor.

Hinter sich hörte Jeremias, wie Schüler aus den Abteilen kamen. Er ließ von der Katze ab, um einen letzten Blick hinaus in die Schwärze der Nacht zu werfen. Spätestens jetzt war es vorbei mit der Abgeschiedenheit und er wollte seinen Mitmenschen keinen weiteren Grund geben, sich um ihn zu kümmern. Er wollte sie nicht anlügen, genauso wenig darüber reden. So ignorierte er den aufkommenden Tumult hinter sich so gut es ging, doch als er flüchtig die Spiegelung im Fenster betrachtete, störte ihn etwas. Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was es war, dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag: in knapp fünf Minuten musste er den Zug verlassen und er trug noch immer keine Schuluniform! Ganz anders als die Schüler, die in den Eingangsbereich getreten waren. Er dagegen steckte in seiner abgetragenen Hose und dem grauen Pullover.

Entsetzt, von fragenden Blicken verfolgt, stürmte er in Richtung seines Abteils. Hinter ihm maunzte Len erschrocken, ehe er ihm verdattert folgte. Schon als der Junge in den Gang einbiegen wollte, kamen ihm die nächsten drei Schüler entgegen, die ihm widerwillig unter genervten Gemurmel Platz machten. Im Vorbeirauschen verstand er etwas, das klang wie »Immer diese Anfänger". Von einem anderen schnappte er ein »Erstklässler« auf, das ähnlich missmutig klang und sich mit einem Lachen vermischte, während er sich durch den Strom aus Schülern kämpfte.

Endlich an den ersten drei Abteilen des Wagens vorbei, schob er die Tür auf, woraufhin er in zwei vollkommen fremde Gesichter schaute, die ebenso ratlos dreinsahen, wie er sich fühlte. »Entschuldigung«, nuschelte Jeremias, ehe er die Abteiltür hinter sich schloss.

Mit den Gedanken war er bereits auf dem Gang und wollte weiterstürmen, als sein Fuß sich in irgendetwas verfing. Schützend riss er die Arme hoch, verzweifelt versucht sich abzustützen oder zwischen den Wänden abzufangen, streifte unbeholfen die Wand, drehte sich im Fall und landete der Länge nach auf der Seite. Der dumpfe Aufschlag klang sanfter als der Sturz war – begleitet von einem hämischen Lachen sowie einem rüden: »Pass doch auf!« Der Schmerz in der Seite und in der Hand, mit der er sich abgefangen hatte, hallte nach. Hastig sah er über seine Schulter zurück. Die beiden Verursacher, die ihm wohl ein Bein gestellt hatten, konnte er nur jedoch noch von hinten sehen. Egal, er musste weiter!

Der Elfjährige rappelte sich auf, bevor er vorsichtig die Tür zum nächsten Abteil öffnete, dessen Insassen er nur zu gut kannte. Das zuvor angeregte Gespräch verstummte jäh, als die drei Schüler ihn im Eingang stehen sahen. Alle trugen ihre Umhänge. Auf dem Boden lagen vereinzelt Verpackungen von Süßigkeiten. Die Sitzpolster waren garniert mit Krümeln. Besonders Jeremias’ verwaister Sitzplatz hatte sich offenbar als Halde angeboten.

»Wir haben uns schon gefragt, wo du abgeblieben bist«, begrüßte ihn Edwana McBride trocken. Sie machte keinesfalls den Eindruck, als hätte sie ihn vermisst – aber auch nicht, als hätte sie in seiner Abwesenheit den größten Spaß ihres Lebens gehabt.

Ganz im Gegensatz zu Portia und Keaton, deren Lachen unbeholfen in ihrer Mimik hängen geblieben war. Sie sahen verlegen aus, als glaubten sie, sich für etwas entschuldigen zu müssen.

»Wir hätten aber deine Sachen mitgenommen, wenn sie nicht sowieso nach Hogwarts gebracht worden wären«, versicherte ihm das fröhliche Mädchen am Fenster glaubhaft.

Darum ging es Jeremias nicht. »Muss mich noch umziehen«, murmelte er, hastete zu seinem Koffer und zog diesen unter der Bank hervor. Da sich niemand rührte, fügte er an: »Ihr könnt ruhig schon los.« Schließlich hatten sie sich bloß kurz unterhalten. Er sah keinen Grund, weshalb sie sich dazu verpflichtet sehen sollten, auf ihn zu warten.

Portias Einwand hatte er kommen sehen. »Ach Quatsch, das ist doch doof, wenn wir dich hier alleine lassen.«

Dabei hatte er sie eben genau so allein hier sitzenlassen, um beinahe die gesamte Fahrt auf dem Flur zu verbringen. Aber gut, wegscheuchen wollte Jeremias sie auch nicht. Wenn sie darauf bestanden, dann sollten sie eben warten.

»Ein bisschen dauert es ja, bis wir da sind und die ganze Meute draußen ist«, erhielt er Zuspruch von unerwarteter Seite, wenn er auch wenig leidenschaftlich von McBride vorgetragen wurde.

Die beiden anderen sahen sie überrascht an. Sie verbargen ihren Unglauben ungleich weniger als Jeremias.

»Ja, was? Ich hab auch keine große Lust, mich durch die wilde Horde zu boxen!«, verteidigte sie ihre entspannte Haltung, während Jeremias den Deckel des Gepäckstücks aufriss, seine schwarze Robe herauszog und sie über den Kram auf seinem ehemaligen Platz schmiss.

»Oh ist die süß!«, ließ Portias verzückte Stimme den Jungen herumschnellen.

Fragend sah Jeremias sich zu ihr um, um zu sehen, was sie meinte.

So wie es aussah, hatte sie Len entdeckt, der unbeeindruckt in der offenen Abteiltür saß. Dabei war er schon allein wegen seiner Größe ziemlich auffällig, so dass es erstaunlich war, dass er so lange unbemerkt geblieben war.

»Das ist Len«, stellte er sein Haustier vor, ehe er, nachdem der Kater sich bequemt hatte hineinzutapsen, die Tür schloss und seinen grauen Pullover über den Kopf zog, unter dem ein braunes T-Shirt zu Tage trat.

»Okay, vielleicht sind Katzen doch kein Mädchenkram«, gab Keaton beeindruckt zu. »Ich mein, der sieht richtig krass aus!«

McBride schien für ihren Teil unschlüssig darüber, was sie von Len, der nun direkt vor ihr saß, zu halten hatte. »Sicher, dass das eine Katze ist?«

Wenig gnädig entgegnete ihre Sitznachbarin: »Na, ein Crup wird es wohl kaum sein!« Die beiden würden auf lange Sicht vermutlich keine besten Freundinnen zu werden. Auf der Fahrt hatte McBride es augenscheinlich geschafft, Portias zunächst unverwüstlich wirkendem Frohsinn einen Dämpfer zu verpassen.

»Was ist ein Crup?«, grätschte Keaton verwirrt dazwischen.

»So etwas wie ein Hund«, raunte Jeremias ihm zu. Die Beleidigung seines Katers, eine mögliche Verwechslung auch bloß anzudeuten, beschloss er, gekonnt zu ignorieren.

»Das meine ich nicht«, verteidigte sich das blonde Mädchen barsch. »Aber guck dir das Vieh doch mal an! Ich mein, ist das wenigstens ausgewachsen?«

Dabei fand Jeremias, dass der gutmütige Kater einen weit weniger kämpferischen Eindruck als die getigerte Felidera machte, die offenbar während der gesamten Fahrt vom Gepäckfach aus herrisch über das Abteil gewacht hatte. Ihr Blick war weit kampflustiger, während Len einzig durch seine Größe imponierte. Seit Portias entzücktem Aufschrei starrte er das Mädchen ohnehin mehr verschreckt statt souverän an und traute sich kaum sich zu rühren.

»Also ich finde ihn putzig«, beteuerte das Paket guter Laune liebevoll, woraufhin McBride fassungslos schnaubte.

»Sag das noch mal, wenn die dir mit ihrer Pranke eine runterhaut.«

»Er«, widersprach der junge Tiller, ohne sich zu McBride umzudrehen. Nicht, dass es wichtig wäre, welches Geschlecht die Waldkatze hatte, doch es klang einfach falsch, wenn sie von Len als Mädchen sprachen.

Betont laut seufzte seine Kontrahentin, so dass er zu hören glaubte, wie sie hinter ihm die Augen verdrehte. »Dann eben er«, brummte sie.

Schnell streifte der Erstklässler die Robe über T-Shirt und Hose. Die weiten Ärmel hätten sicherlich genügend Platz für den Pullover geboten, aber er wäre sich mit den vielen Schichten vorgekommen wie eine Zwiebel. Seine Turnschuhe waren, nachdem er den schwarzen Stoff geschlossen hatte, unter dem Saum nahezu unsichtbar. Er würde jedoch aufpassen müssen, dass er beim Laufen nicht auf den Stoff trat. Wenig liebevoll pfefferte der Junge das nun überflüssige, graue Kleidungsstück in den Koffer.

Vor dem Abteil setzten sich die Massen an Schülern, die zuvor im Gang gestanden hatten, in Bewegung. Das Öffnen der Türen schallte bis zu ihnen. Zumindest gerade, da kurzzeitige Stille herrschte, konnte man es deutlich vernehmen.

Hinter ihm sprang Portia ungeduldig von ihrem Sitz auf. »Ich kann es kaum erwarten, zu erfahren, in welchem Haus ich bin!« So viel zu der Stille.

»Ich bin mir unsicher«, erwiderte Keaton verlegen. »Das ist alles so viel. So wirklich begriffen hab ich das alles, glaube ich, noch nicht. Ich weiß gar nicht, in welches Haus ich will.«

»Ach, Hauptsache nicht nach Slytherin«, winkte das gutgelaunte Mädchen gelassen ab, während sie sich eine lockige Strähne aus dem Gesicht wischte, die sich bei ihrem Versuch des Aufbruchs hinter dem Ohr hervorgestohlen hatte.

Jeremias klopfte sich derzeit flüchtig die Krümel von dem Umhang, die auf dem schwarzen Stoff selbst in der schummerigen Wagenbeleuchtung besonders gut zur Geltung kamen. Die Häuserverteilung war noch so etwas auf der Liste der Dinge, für die ihm schlichtweg die Begeisterung fehlte.

McBride ignorierte den Einwand bezüglich der Häuser ebenfalls, spielte mit dem blonden Flechtwerk, das ihr über die Schulter fiel und fragte stattdessen: »Sag mal, bist du seit der Anfertigung des Umhangs geschrumpft oder hast du beim Kauf nicht aufgepasst?«

»Ich wachs’ ja noch«, fauchte Jeremias sie ungehalten an. Ihre Kommentare gingen ihm allmählich auf die Nerven. Vor allem, da sie in dieselbe Kerbe schlug wie seine Eltern, die ihn ebenfalls dazu hatten bewegen wollen, sich wenigstens einen passenden Umhang anfertigen zu lassen.

McBrides Mundwinkel zuckten unheilvoll. »Sicher?«

»Ja, ich bin mir sicher!«, platzte es wütend aus Jeremias heraus, was ihm augenblicklich leid tat. Er hatte sich gar nicht auf so einen Kinderkram einlassen wollen.

Len, der sich, ohne den Blick von der Runde zu lassen, die rechte Vorderpfote putzte, erstarrte bei der lauten Erwiderung.

Auch die anderen beiden Passagiere, samt Keatons Eule und der beiden Katzen, sahen ihn erschrocken an. Sogar Schecki lugte mit weit aufgerissenen Augen todesmutig über den Rand des Gepäckfachs hinweg.

»Schon gut«, beschwichtigte ihn McBride, wobei sie ihn durch ihren überheblichen Unterton spüren ließ, dass sie seine Reaktion für übertrieben hielt. »Die kann man dann zwar neu kaufen, aber ich hab ja nur gefragt.«

Wie gut, dass sie keinen großen Wert darauf legte, das Thema weiter zu verfolgen, dachte sich der Junge. »Meint ihr nicht, wir sollten langsam los?«, fragte er betont ruhig in die Runde, die plötzlich von einem höchst unangenehmen Schweigen anheimgesucht worden war.

Seine Mitfahrer starrten ihn an, als würde er gleich in Tränen ausbrechen oder womöglich in einem Tobsuchtsanfall das Abteil zerlegen. Portia fragte sich sicherlich, so reumütig wie sie schaute, ob sie etwas falsch gemacht hatte. Ein Gedanke, den sie scheinbar mit Keaton teilte.

Leider konnte Jeremias ihnen nicht einmal verübeln, dass ihnen die Situation unangenehm war.

McBride hielt ihn dagegen entweder für einen Spinner oder aber für einen Idioten. Trotzdem nickte sie. »Ja, wir sollten«, gab sie ihm Recht und öffnete die Tür zu ihrer Linken.

Während ihre Sitznachbarin es tunlichst vermied, zu ihm zu schauen, sah Keaton immer wieder verstohlen über seine Schulter zurück zu Jeremias, der als Letzter auf den Flur trat.

»Erstklässler zu mir!«, hörte Jeremias eine durchdringende, tiefe Stimme, noch bevor sie den Zug verlassen hatten. »Sin’ alle da? Erstklässler!« Die Rufe, die zwar laut waren, in ihrer Art und Weise dennoch mehr wie eine beiläufige Bemerkung klangen, kamen von draußen. Sie wurden magisch verstärkt, da war er sicher. Ansonsten hätte sie niemals das geschäftige Treiben der Schülermassen am Bahnsteig übertönt.

Nachdem er am Schluss in die kalte Nacht hinausgetreten war, musste Jeremias allerdings mehr als nur diesen einen Irrtum verdauen. Zwar war er sich immer unsicher, ob nicht doch Magie im Spiel war, aber viel schlimmer war, dass sein Bruder offenbar gar nicht gelogen hatte.

Über das Meer aus Umhängen, das in dem spärlichen Licht der wenigen Gaslaternen, das den Bahnsteig zu erhellen versuchte, zu einer schwarzen Masse verschmolz, erhob sich ein Mann, der sicherlich doppelt so groß sowie dreimal so breit wie die ältesten Schüler war. Er hatte zottiges, schwarzes, vielleicht auch dunkelbraunes Haar und die Finsternis der Nacht legte ihm tiefe Schatten in sein Gesicht, das mit dem dichten, langen Bart, der ihm bis zur Brust ging, beängstigend wild aussah. Ein Riese, musste sich Jeremias, zur Salzsäule erstarrt, eingestehen. In Hogwarts gab es Riesen.

Bei dem Gedanken, was von Nicolas’ Schauergeschichten womöglich noch so alles stimmte, lief es ihm eiskalt den Rücken runter. Würde man sie Duelle austragen lassen, um herauszufinden, welchem Haus sie würdig waren? Je nachdem, in wie vielen Stücken sie aus den Duellen hervorgingen? Oder würde man sie für die Häuserverteilung wahrhaftig in den verbotenen Wald schicken, in dem Werwölfe und Todesfeen hausten?

Der Riese, der sie zu sich rief, hatte für den Trip genau die richtige Kleidung an. Ein brauner, schwerer Mantel, von dem der Junge nicht sicher sagen konnte, ob er aus Fellflicken bestand, oder ob es tote Tiere waren, die aus den Taschen hingen. Er trug außerdem in einer Hand eine Laterne, die nur ein wenig kleiner war als ein handelsüblicher Zauberkessel, und leuchtete damit über die Menge hinweg. Seine dunklen Augen ließ er über die Menge schweifen, während er abermals rief: »Erstklässler!«

»Na komm schon«, rief Keaton, der todesmutig in Richtung des Riesen gegangen war, ehe er auf halben Weg zum Schülermeer stehenblieb. Er lächelte Jeremias zuversichtlich zu und zusammen liefen sie zu der Traube Schüler, die sich um den Hünen gescharrt hatte.

Im Nachhinein verwarf der Elfjährige den Gedanken, dass irgendeine Gefahr von dem Mann ausging. Seine Eltern hätten ihn gewarnt, wenn irgendetwas Gefährliches auf ihn zugekommen wäre. Außerdem hieß es, dass Riesen mindestens sechs Meter, oftmals sogar noch größer, waren und intellektuell eher auf dem Niveau knapp oberhalb eines Gnoms rangierten, während sie sich die Geselligkeit von tollwütigen Drachen zueigen gemacht hatten. Jedenfalls wenn man den Erzählungen seiner Tante Glauben schenkte. Keinem dieser Merkmale entsprach der Rufende, der bei näherer Betrachtung zu lächeln schien und offenbar in der Lage war, simple Sätze zu bilden. Somit besaß er locker ein Vielfaches der Intelligenz eines Gnoms. So richtig konnte man das Lächeln wegen des Bartes nicht sehen, aber die Falten um die Augen erweckten einen freundlichen Eindruck. Es war also wahrscheinlich ein ganz normaler, sehr großer, kräftiger Mensch. Vielleicht war er als Kind in irgendeinen Kessel mit Zaubertrank gefallen.

»Na, dann sind wir ja endlich vollständig«, stellte der Scheinriese fröhlich fest, woran auch immer er das erkannt hatte. Er schwenkte die Laterne über sie, ehe er sich umwandte. »Folgt mir! Aber bleibt dicht zusamm’n und passt auf, wo ihr hintretet.«

Die Erstklässler folgten ihm dicht aneinandergedrängt mit etwas Sicherheitsabstand.

Jeremias war offenbar nicht der Einzige, der seine Vorbehalte hegte. Als sie sich aus der Gruppe der restlichen Schüler lösten, schaute er sich noch einmal um. Die Älteren bestiegen Kutschen, die längsseits des Bahnsteiges warteten, während sie weiter an den Gleisen entlangliefen. Genau in Richtung der Bäume. War das der verbotene Wald? In der Schwärze der Nacht war nicht einmal auszumachen, um was für Bäume es sich handelte. Sie waren groß und die Wipfel hoben sich vor dem Nachthimmel spitz, irgendwie tannenartig ab.

Wie vom Donner gerührt fuhr Jeremias herum. Die Kutschen, mit welchen die Übrigen fuhren, waren führerlos. Schnell sah er wieder nach vorn. Er durfte den Anschluss nicht verlieren, erst recht nicht, weil sie gerade eben den gepflasterten Bahnsteig verließen. Der rutschige, nachgiebige Waldboden fiel steil nach unten ab, während die Lampe des vermeintlichen Riesen das einzige Licht war, das ihnen blieb.

Da dieser die Laterne vor sich hielt, verschluckte seine massige Gestalt einen Großteil des Scheins und ließ die Schüler, die unbeholfen hinter ihm herstolperten, in einer trügerischen Dämmerung zurück.

Einige hielten tastend die Hände vor sich, um sich abzufangen, falls sie stürzten und um das Gleichgewicht auf dem abschüssigen, rutschigen Pfad zu halten. Mehr als einmal hörte Jeremias, der mit McBride sowie einem weiteren Mädchen den Schluss bildete, einen erschrockenen Aufschrei von weiter vorn, gefolgt von dem Geräusch von jemandem, der auf den matschigen Boden fiel.

Staunen, oder vielmehr Unsicherheit und höchste Konzentration, sorgte dafür, dass keinerlei Gespräch zwischen ihnen zustande kam. Viel zu sehr waren sie darauf bedacht, bloß nicht auf die Nase zu fallen oder gegen einen der Bäume zu laufen, die in den Biegungen manchmal gerade mal eine Handbreit entfernt in der Dunkelheit auftauchten.

»He!«, schallte eine verärgerte Kinderstimme von vorn bis nach hinten, während der Zug zögerlich zum Stehen kam. Hinten war schwer zu erkennen, was dort geschah. Die Gruppe von Schülern war, je weiter sie in den Wald gegangen waren, dicht zusammengerückt.

»Man, jetzt sind meine Füße nass«, jammerte ein Junge wenige Meter von ihm entfernt.

Erst jetzt bemerkte Jeremias, dass zwar das Rascheln der Äste um sie herum zu hören war, aber auch ein leises Plätschern. Es schienen die einzigen Geräusche dieser Nacht, weshalb jedes Räuspern der Kinder, jeder Schritt, so klar zu hören war, als ertöne es direkt neben ihm.

Umso lauter war die Stimme des Riesen, sobald dieser abermals das Wort ergriff. »Die Boote bring’n euch ’rüber zum Schloss. Passt auf beim Einsteigen und nich’ mehr als vier Schüler in ’n Boot!«, erklärte ihr Waldführer. »Und passt auf, dass’er nich’ zu viel schaukelt. Das Wasser is’ kalt und da lebt mehr drin, als ihr euch vielleicht vorstellen könnt. Aber eigentlich is’er ganz lieb.«

Boote? Und wer war lieb? Jeremias versuchte, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, doch auch so erhaschte er keinen Blick über die Köpfe der anderen hinweg. Wie er versuchten auch die anderen, ihre Hälse zu recken, um mehr zu sehen, dadurch hatte er keine Chance. Immerhin wusste er, dass sie auf dem Wasserweg nach Hogwarts gelangen würden. Die Information reichte voll und ganz. Den Rest, versuchte er seine Neugier zu befrieden, würde er gleich so oder so zu sehen bekommen. Ob er wollte oder nicht.

Zögerlich rückten die Schüler weiter auf. Rechts von sich sah Jeremias, wie Portia und Keaton zusammen mit zwei fremden Kindern weiter nach vorne liefen. Kaum, dass sie eingestiegen waren, konnte der Junge das kleine Ruderboot erkennen, das dort auf dem Wasser schwamm. Vorn am Bug war eine kleine Laterne befestigt. Auf der schwarzen Oberfläche spiegelte sich der flackernde Schein und nachdem vier weitere Schüler ihr Gefährt bestiegen hatten, konnte er in der Ferne weitere Lichter erkennen. Lichter, die über den See schwebten. Und Lichter, welche die Umrisse einer Burg ausfüllten, die sich schemenhaft vor dem nächtlichen Horizont abhob.

In der Ferne, auf einem Felsen, augenscheinlich mitten in dem See, lag sie also: Hogwarts, die Schule für Hexerei und Zauberei. Der Anblick des entfernten und doch so riesig wirkenden Schlosses zog den Jungen für einige Sekunden in seinen Bann, der durch McBride gebrochen wurde.

»Jetzt komm schon.« Ungnädig zog sie ihn an der Schulter mit sich zu einem der Boote. »Wir sind die Letzten.«

Gemeinsam mit zwei weiteren Mädchen würde er also gemeinsam die Überfahrt wagen müssen. Das erste Mädchen mit dunklen Haaren, mehr konnte Jeremias nicht erkennen, kletterte behände in die Nussschale, in der sie ganz nach vorne zum Bug des Schiffes kletterte, woraufhin McBride folgte. Auch, wenn er schnell nach Hogwarts wollte, ließ er der dritten Mitfahrerin im Bunde den Vortritt, die schüchtern den Blick senkte, bevor sie ängstlich zum Boot tapste. Sie war kaum größer als Jeremias und dazu scheinbar ebenso redefreudig.

Das Mädchen, das als erstes in das Gefährt geklettert war, kam zurück zum Heck und reichte der schweigsamen Erstklässlerin die Hand, so dass kurz darauf auch Jeremias ohne zu zögern auf einen der beiden hinteren Plätze neben der Schüchternen Platz nehmen konnte und das Boot sich wie von selbst in Bewegung setzte. Sanft, ohne viel zu schwanken, glitt es nahezu geräuschlos durch das Wasser.

Jeremias vernahm, wie das Mädchen neben ihm hörbar nach Atem schnappte und sah, wie sich ihre Hände in das Sitzbrett krallten.

»Man sollte doch meinen, dass es die Leute nicht wundert, wenn sie in eine Zauberschule gehen, dass ihnen dabei Magie begegnet«, murmelte McBride kopfschüttelnd.

Alle im Boot, wenn sie vier untereinander auch kaum ein Wort gewechselt hatten, wussten genau, wem diese Worte galten. Während Jeremias ihnen keine Beachtung schenkte, schnaufte die zweite Schülerin mit den dunklen Haaren, die mit McBride vorn am Bug saß.

Eine Äußerung, auf die McBride natürlich reagierte. So gut kannte der Junge sie inzwischen. »Eher sollte es wundern, dass wir mit einem ganz normalen Zug anreisen.«

»Von einem magischen Gleis, das auf einem der größten Bahnhöfe in England durch Zauberei versteckt gehalten wird«, entgegnete ihre Sitznachbarin kühl. Man konnte es als Verteidigung derjenigen auffassen, wer auch immer sich diesen Anreiseweg ausgedacht hatte.

Jeremias jedenfalls pflichtete dem Mädchen im Stillen bei. Mangelnde Kreativität war den Planern nicht vorzuwerfen. Zu wenig Magie ebenso wenig.

Im Angesicht des Konters verschränkte McBride die Arme und ihre Augen funkelten angriffslustig. Das war sogar in dem schlechten Licht zu erkennen. »Jedenfalls war sogar die Zugfahrt spannender als diese Tretbootfahrt hier. Ich verstehe absolut nicht, dass sich Leute davon beeindrucken lassen.«

»Dann hör doch wenigstens auf, uns mit deiner miesen Laune zu nerven«, brummte ihre Sitznachbarin kopfschüttelnd. »Wir anderen wollen einfach nur unseren ersten Tag genießen und freuen uns, hier zu sein. Also, wenn es dir nichts ausmacht, halt einfach deine Klappe.«

Ungläubig wie gereizt stieß McBride scharf die Luft aus. »Und da blaffst du mich an? Der Zwerg sieht mindestens so schlecht gelaunt aus wie ich.« Dabei deutete sie auf Jeremias, der sie mit einem höchst ungnädigen Blick strafte, der leider ihre Aussage sehr eindrucksvoll unterstrich. Den Spitznamen hatte er bei ihr weg, wenn er nicht aktiv etwas dagegen unternahm.

Das Mädchen neben ihr hingegen entgegnete ungerührt: »Der hält wenigstens dabei den Mund und motzt nicht in einer Tour rum!«

»Ich versuche, in dieser ach so andächtigen Stille, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber ihr könnt gern schweigend weiter die Nacht anhimmeln«, ätzte McBride zurück.

Neben Jeremias starrte das dritte, stille Mädchen die beiden angstvoll an. Womöglich befürchtete sie eine Eskalation der Streitigkeit, was im Angesicht der zu vermutenden Wassertemperaturen ungemütlich werden würde.

Auf dem Gesicht des kampflustigen Mädchens, wie auch immer es hieß, bildete sich ein liebliches Lächeln. »Wenn du schwimmen gehen willst, brauchst du das nur zu sagen.«

»Wo-Wollen wir ... also«, stammelte das zuvor so stille Mädchen neben Jeremias unbeholfen, ehe sie dann doch wieder in verlegenes Schweigen verfiel, woraufhin die beiden streitenden Mädchen in entgegengesetzte Richtungen auf den See schauten.

Erleichtert, dass endlich Funkstille herrschte, lenkte Jeremias seinen Blick ausgiebig dem umliegenden Gewässer zu, auch wenn er außer den anderen Booten vor ihnen nicht viel sah. Beim genauen Hinsehen jedoch spiegelte sich der Sternenhimmel auf der nachtschwarzen Oberfläche, die sich lediglich geringfügig durch das Fahrwasser der Schiffchen kräuselte und die Sterne in Aufruh versetzte. Es sah aus, als schwebten die Boote nicht über einen irdischen See, sondern durch den Himmel. Ein Anblick, der es bewerkstelligte, dass in den Jungen für einige Augenblicke Ruhe und so etwas wie Zufriedenheit einkehrte. Solange, bis er bemerkte, dass sie fast am Schloss angekommen waren, in dem niemand auf ihn wartete, sondern in das er ganz allein gehen würde, mit all den Fremden, und sein Blick, den er gen Boden senkte, sich erneut verdüsterte.

Er sah erst auf, als die Nacht um sie noch schwärzer wurde. Mit einem Mal hallte das Plätschern des Wassers merkwürdig wider. Sie hatten den Schatten des mächtigen Felsens erreicht und fuhren durch einen Vorhang aus Efeu. Auch, wenn das Gewächs nicht ganz bis hinab zu den Booten reichte, duckten sich nicht wenige der Schüler. Er dagegen beobachtete das Spektakel. Sie waren in eine Art Grotte gefahren. Einige Meter weiter erhellten Fackeln die Wände rechts und links des Wasserweges und sie konnten in der Ferne einen Steg erkennen.

Sie waren da. Sie waren in Hogwarts.
Kapitel 5: Kein Weg zurück by BlueScullyZ
Nach und nach kletterten sie alle aus den Booten auf den hölzernen Anleger. Der Anblick der Grotte – die herabhängenden Stallaktiten und die Spiegelungen der Laternen und Fackeln auf der nahezu unbewegten, pechschwarzen Wasseroberfläche – sowie die baldige Ankunft im Schloss, hielt sie alle in Atem, so dass lediglich der Widerhall ihrer Schritte auf dem Steg zu hören war. Die riesenhaften Füße ihres Wegweisers, die donnernd auf den Untergrund trafen, übertönten diese gespenstige Geräuschkulisse mit jedem seiner Schritte.

Der Scheinriese führte ihre stille Prozession über einen steinernen Pfad ins Innere des Felsens. Der Gang wurde, wie der unterirdische Hafen, von Flammenschein erhellt. Die Schatten der Kinder und der riesigen Gestalt vor ihnen tanzten unheilvoll an den Wänden, während hinter ihnen langsam der Klang der Wassertropfen, die von Zeit zu Zeit von der Decke in den unterirdischen See hinabtropften, verhallte.

Jeremias kam der Weg endlos vor. Steil führte der Pfad hinauf, kleine Stufen waren in den Boden eingelassen. Ungeduld ergriff von ihm Besitz und so hielt er seit dem Anleger keinen Abstand mehr zur Gruppe, sondern war Teil des Schülerpulks, das sich hinter dem Riesen vorwärtsbewegte. Das Einzige, das ihn von den meisten anderen unterschied, war sein entschlossener Blick. Während viele um ihn herum maßlos beeindruckt oder voller Vorfreude, manche auch ängstlich waren, sah Jeremias aus, als zöge er in eine alles entscheidende Schlacht. Je näher er glaubte, der Schule zu kommen, desto grimmiger wurde seine Miene, die mit einem Schlag die Dunkelheit verschleierte, nachdem sie hinaus an die frische Nachtluft getreten waren.

Eine kalte Brise schlug ihnen über die schwerlich zu erkennenden Wiesen entgegen, sobald sie statt massivem Stein Schotter unter den Füßen hatten und das Flackern des Feuers dem nächtlichen, sternenklaren Himmel wich.

Ebenso konnte Jeremias die Lichter des Schlosses wieder sehen, dieses Mal aus der Nähe. So wenig, wie der Felsen, auf dem die Burg thronte, klein war, war es das Gemäuer selbst. Es war einen kurzen Fußmarsch entfernt, dennoch sah es bereits jetzt weit imposanter aus, als er vom Ufer des Sees aus gedacht hätte. Die Anzahl der Fenster schien sich vervielfacht zu haben. Selbst mit dem Wissen, dass es ein Streich war, den die Entfernung ihnen gespielt hatte, war Jeremias erstaunt, wie riesig es tatsächlich war und dass es mit jedem Schritt, den sie darauf zumachten, noch größer wurde.

Was sie umgab, waren im spärlichen Restlicht der Dunkelheit nur vage zu erkennende Schemen, doch Hogwarts selbst erwachte den Anschein von innen heraus zu leuchten. Wenn auch nicht jedes Detail erkennbar war, so zog ihn das warme Licht in der kalten Nacht wie magisch an.

»Doch nicht so abgebrüht, wie du tust, was?«

Erschrocken fuhr Jeremias herum. Dass McBride immer noch neben ihm lief, hatte er verdrängt gehabt. Zu seinem Erstaunen musterte sie ihn keinesfalls abfällig, sondern wirkte ehrlich amüsiert. Die feindselige Erwiderung schluckte er deshalb hinunter. »Hab’ ich nie behauptet.«

»Das ist auch nichts, was man behauptet«, gab das Mädchen kühl zurück. Sie war wieder in ihrem Element. »Entweder man ist es, oder man ist es nicht.« Nun klang sie wieder schnippisch, fand der Junge.

Um sie herum brandete Gemurmel auf. Erwartungsvolles Tuscheln mischte sich mit unheilvollem Raunen.

»Ich will auf keinen Fall nach Ravenclaw«, hörte Jeremias vor sich einen Jungen sagen, der ihn nahezu um einen Kopf überragte.

»Kann ich verstehen, ich will auch woanders hin. Blau steht mir einfach nicht«, pflichtete dem Jungen ein ihm ebenso fremdes Mädchen bei.

Farben. Jeremias verdrehte die Augen. Die hatten Probleme! Blieben ihre Umhänge nicht sowieso schwarz? Es wäre ihm neu, dass sein Bruder farbige Umhänge hatte – sah man von seinen Quidditchsachen ab. Die beiden zu belehren, war jedoch nicht seine Aufgabe. Stattdessen lehnte er sich zu McBride rüber und murrte: »Da bin ich ja froh.«

»Worüber bist du froh?«, fragte sie zurück, das augenscheinlich einer anderen Unterhaltung gelauscht hatte.

Für einen Sekundenbruchteil trauerte er der Möglichkeit nach, das Gespräch durch Stillschweigen im gegenseitigen Einverständnis beendet zu haben. »Schon gut.«

Neben ihm lachte das blonde Mädchen leise auf. »Ich hätte echt nicht gedacht, dass ich jemanden treffe, dem das alles hier mehr auf den Keks geht als mir.«

Fragend wandte Jeremias sich zu ihr herum.

Zu seiner Überraschung grinste McBride ihn verstohlen an, jedoch ohne dabei ihre Hochnäsigkeit aufzugeben. »Irgendwie ist das cool.«

»Aha.« Das war alles, was Jeremias dazu zu sagen hatte. Er würde ihr bestimmt nicht auf die Nase binden, was ihm den ganzen Tag durch den Kopf gegangen war. Egal war es ihm nicht, nur den ganzen Firlefanz drumrum hätte man sich in seinen Augen sparen können. Was ihn im Gegensatz dazu absolut nicht interessierte, war, was andere von ihm hielten. Sollte McBride doch von ihm denken, was sie wollte.

Es blieb keine Zeit mehr, das lang und breit zu erklären, denn die Schülergruppe wie auch ihr Anführer stiegen einige Steinstufen empor, bevor sie vor einem riesigen, schier gigantischen Portal aus Holz stehenblieben. Schlagartig, mit dem Stillstand des Pulks, verstummten die Gespräche.

Der Riese, der vermutlich keiner war, sah vor dem Durchgang fast wie ein normalgroßer Mensch aus, während Jeremias sich vorkam wie eine Ameise, die um Einlass begehrte. Er war nicht der Einzige, der mit halboffenem Mund langsam den Blick von unten nach oben über die Pforte wandern ließ und er war ebenfalls in guter Gesellschaft, als er wie vom Donner gerührt zusammenschrak, nachdem ein markerschütterndes, hölzernes Klopfen die Stille zerrissen hatte.

Mit großen Augen betrachtete die Schar die Tür. Die Sekunden, in denen nichts geschah, zogen sich wie Bubbles bester Blaskaugummi endlos dahin. Ein Knarren ließ einige unwillkürlich zurückweichen, bevor sie realisierten, dass die Flügel des Tores sich endlich nach innen öffneten.

Über die Köpfe hinweg, von der niedrigsten Stufe aus, konnte der Junge bloß raten, wer ihnen die Tür öffnete, allerdings war die dröhnende Stimme des Riesen selbst dann schwerlich zu überhören, wenn man es mit aller Macht versuchte. Ebenso wie das Klopfen zuvor, gingen seine Worte durch Mark und Bein. »Guten Abend, Professor. Die Erstklässler.«

»Guten Abend, Hagrid. Ich übernehme ab hier«, antwortete eine Frau.

Ohne sie zu sehen, wusste Jeremias, dass sie älter und sicherlich streng war. Die Begrüßung machte auf ihn keinen sonderlich herzlichen Eindruck. Es war mehr wie bei seiner Mutter, wenn diese ihre Großtante begrüßte, die sie noch nie hatte leiden können. Höflichkeit nannten Erwachsene das. Zugegebenermaßen war der Ton der Professorin weit weniger abweisend als die Gespräche zwischen Tante Genovefa und seiner Mutter, bei denen selbst ’Könntest du mir bitte die Milch reichen?’ klang, als wünschten sie einander schlimme Dinge an den Hals.

»Folgt mir!« Dies war unüberhörbar ein Befehl, trotz der Ruhe in ihrer Stimme. Den Tonfall kannte er ebenfalls von seiner Mutter. Unweigerlich durchzuckte ihn der Gedanke, sein Zimmer nicht aufgeräumt oder eine sonstige Schandtat begangen zu haben.

So setzte sich ihr Zug im Gleichschritt in Bewegung und sie traten durch das große Eingangstor in die Halle. Kaum war Platz genug, dass auch Jeremias die letzte Stufe hochsteigen konnte, gelang es ihm, zwischen den Köpfen der vorderen Schüler hindurch, einen Blick auf die Professorin zu erhaschen. Sie war ziemlich groß, aber schmal. Das war alles, was der Junge erkennen konnte, denn sie hatte ihnen bereits den Rücken zugewandt. Ihr Spitzhut verdeckte ihren Hinterkopf. Er legte ihren Nacken in tiefe Schatten und ihr smaragdgrüner Mantel, der in dem spärlichen Licht schwarz schimmerte, wehte trotz ihres entschlossenen Tempos träge.

Zwar ebbte der seichte Wind ab, sobald sie durch die Tür getreten waren, aber im Inneren herrschte die Kälte steinerner Gemäuer. Ehrfürchtig, wie alle anderen, sah er sich in der von Fackeln und Kerzen erhellten Halle um. Sie war sehr lang und zu beiden Seiten gingen Gänge ab.

Jeremias kam sich mit einem Mal unglaublich klein vor. Schon vorher hatte es kaum einen Schüler gegeben, der ihm seinen Zwergenstatus hätte streitig machen können, doch hier in dem riesigen Foyer, in das der Hogwarts-Express bestimmt einmal quer hineingepasst hätte, fühlte er sich schier wie ein Gnom im Wohnzimmer eines Riesens – wenn Riesen so etwas wie Wohnzimmer hatten. Ob es das Licht war oder die in den Ecken lauernde Dunkelheit, die das Gebäude größer als ohnehin wirken ließ, war ein weiteres Mysterium. Trotzdem machte das Schloss mit den Wandteppichen in satten, erdigen Farben sowie den Gemälden, deren Bewohner ihnen gelegentlich im Vorbeilaufen wohlgesonnen zunickten oder sich weniger höflich abwandten, einen freundlichen, aber dennoch respekteinflößenden Eindruck.

Sie gingen rechts herum in einen Gang, aus dem bereits Stimmen zu ihnen drangen. Der Lärm musste aus dem Raum hinter der großen Tür kommen, auf die sie zuliefen. Es klang nach einer ganzen Horde Menschen; nach so vielen Schülern, als habe es mehr als nur einen Hogwarts-Express gebraucht, um sie herzubringen. Statt davor stehenzubleiben, liefen sie an der Flügeltür, welche die Ausmaße des großen Haupttor nicht ganz erreichte, vorbei.

Dort öffnete die Professorin den Eingang zu einem Raum neben der Versammlungsstätte. Der Einlass sah im Vergleich zu dem mächtigen Tor geradezu winzig aus. Sie ließ die hochgewachsene Gestalt der Lehrkraft darin gleich weniger eindrucksvoll erscheinen.

Jeremias nutzte die Gelegenheit, um im Vorbeigehen einen Blick auf die ältere Frau zu werfen.

Auf ihren schmalen Lippen lag kein Lächeln. Ihr Gesicht war bereits von Falten durchzogen. Ihr Blick allerdings, den sie gebieterisch über die Schüler schweifen ließ, war wach und aufmerksam wie der eines Raubvogels.

Als sie zu ihm sah, der zuletzt die kleine Kammer betrat, in der sich die Schüler aneinanderdrängten, wandte Jeremias den Blick schleunigst ab und stolperte einen Schritt schneller hinein, woraufhin die Lehrerin die Pforte hinter ihm schloss.

»Mein Name ist Professor McGonagall, stellvertretende Schulleiterin und Hauslehrerin von Gryffindor«, sprach sie eindringlich zu der vor ihr versammelten Schar.

Niemand, da wettete Jeremias drauf, wagte es, unaufmerksam zu sein.

»Ich heiße Sie alle herzlich in Hogwarts willkommen.«

An der Herzlichkeit hatte der Junge jedoch seine Zweifel.

»Das Bankett anlässlich des Beginns dieses Schuljahres, an welchem auch Sie teilnehmen werden, beginnt in Kürze. Im Vorfeld werden wir jedoch bestimmen, in welches der Häuser Sie gehören. Wie Sie eventuell bereits wissen, gibt es in Hogwarts vier Häuser, welche allesamt eine ehrenvolle Vergangenheit und für die Schule einen bedeutenden Ursprung haben. Ravenclaw, Gryffindor, Slytherin und Hufflepuff. Die Gemeinschaft des Hauses, dem Sie zugeteilt werden, wird die nächsten sieben Jahre gleichsam Ihrer Familie sein. Sie werden gemeinsam mit den Schülern Ihres Hauses speisen; sie werden sich die Wohn- sowie die Schlafgemächer teilen. Glänzen Sie mit Ihren Leistungen, bringen Sie Ihrem Haus Punkte. Verstoßen Sie gegen die Schulregeln oder fallen in irgendeiner Weise negativ auf, verliert Ihr Haus Punkte. Das Haus, welches am Ende des Schuljahres die meisten Punkte hat, gewinnt den Hauspokal. Bis es soweit ist, werden Sie hier warten. Ich werde Sie holen, sobald wir mit der Zeremonie beginnen. Sie sollten die Zeit bis dahin nutzen, um sich ein wenig zurechtzumachen.« Bei ihren letzten Worten ließ sie den Blick abermals über die Menge gleiten. Ungnädig blieb sie an dem ein oder anderen Schüler hängen, der auf dem Weg ausgerutscht war, oder dessen Haare nicht ordentlich lagen. Schließlich nickte die Lehrerin knapp, ehe sie mit wehendem Umhang den Raum verließ.

»Himmel, hat die Haare auf den Zähnen«, brummte ein stämmiger Junge in die Stille hinein, nachdem die Tür der Kammer hinter der stellvertretenden Schulleiterin ins Schloss gefallen war. Ihn hatte McGonagall schwerlich meinen können, als sie gesagt hatte, sie sollten sich zurechtmachen. Seine hellen Haare waren raspelkurz geschoren und sein Umhang tadellos. Seine Miene spiegelte keine positive Form der Verblüffung wider. Offenbar widersprach der Empfang seinen Erwartungen.

Um ihn herum brandete verhaltenes, zustimmendes Brummen und teils sehr leises, amüsiertes Kichern auf, während die meisten Erstklässler aussahen, als hätten sie Angst, dass Professor McGonagall jederzeit durch die Tür zurückkommen könnte, um sie zurechtzuweisen.

»Wer wollte nochmal nach Gryffindor?«, fragte ein Mädchen mit langen, braunen Haaren, das sich trotz des frechen Grinsens seine rotkarierte Schleife richtete, die seitlich an seinem Haar angebracht war.

Die Frage entlockte vereinzelten Kindern ein freies Lachen, woraufhin sich die Atmosphäre langsam entspannte.

»Wer will denn ...«, setzte ein anderes Mädchen an, stockte dann aber mitten im Satz. Erst dachte Jeremias, den schnippisch-arroganten Tonfall zu kennen, doch es war nicht Edwana, die das gesagt hatte, dann jedoch abrupt verstummt war, als sie genervt an die Decke geschaut hatte.

Fragende Blicke lagen auf ihr. Einige, darunter auch Jeremias, waren ihrem Blick gefolgt – und ebenfalls erstarrt. Nicht, weil die Decke der kleinen Kammer ebenfalls gute vier Meter hoch war, was dem beengten Raum den Charme einer mittelalterlichen Kerkerzelle verlieh, sondern weil etwas aus der Wand heraus auf sie herunterschaute. Kein magisches Gemälde, sondern ein silbrig schimmerndes Nebelwesen, das seinen Kopf durch die massive, steinerne Mauer gesteckt hatte.

Ein Geist. Ein wahrhaftiger Geist. Und in der Sekunde, in der sie zu ihm aufsahen, bildete sich auf seinem Gesicht ein freundliches Lächeln, das kaum jemand von ihnen registrierte, denn neben ihm brach eine zweite Gestalt aus der Wand. Sie schwebte vollkommen unbeeindruckt über sie hinweg, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Auf seinem ... Ja, seinem Was? Sagte man Körper? Jedenfalls glänzten auf ihm einige silbrige Flecken. Näher konnte Jeremias es nicht erkennen, denn weitere Geister kamen aus dem Gestein und beehrten sie mit ihrer zweifelhaften Anwesenheit. Irgendwo wimmerte ein Mädchen, oder ein Junge mit angstvoll hoher Stimme. Die Meisten hielten gespannt den Atem an, während sie ungläubig die transparenten Wesen über ihnen betrachteten, von denen einige zu ihnen herabsahen und den Gemälden sehr ähnlich verschieden, mal freundlich, mal ablehnend, reagierten. Andere unterhielten sich ganz ungeniert, ohne von ihnen Notiz zu nehmen.

»Die neuen Erstklässler« – »... von Jahr zu Jahr immer ...« – »Hach, so viel Leben!«

Nur ein Geist, jener der zuerst aus der Wand gesehen hatte, richtete sein Wort direkt an sie, während er endlich vollständig aus dem Gemäuer trat und sich bis ganz knapp über ihren Köpfen herabsinken ließ. »Wir sehen uns in Hufflepuff«, meinte er mit einem Zwinkern, ehe er seinen Mitverstorbenen folgte.

»Krass«, kommentierte niemand anderes als Keaton, der immer noch mit großen Augen an die Stelle starrte, durch welche die Geister in Richtung der Versammlungshalle verschwunden waren. Man hätte sagen können, er wirkte völlig entgeistert.

»Ist der Geist der Hauslehrer?«, fragte ein Junge mit piepsiger Stimme, was ihm von vereinzelten Schüler hämisches Gelächter bescherte.

Das hinderte einen anderen Jungen jedoch keinesfalls daran, stattdessen zu fragen: »Weiß jemand, wie diese Verteilung abläuft?«

Das wiederum erinnerte Jeremias an die Geschichten seines Bruders. Da sie bereits im Schloss waren, hielt er es für unwahrscheinlich, dass die Version mit dem verbotenen Wald stimmte. Mussten sie vor der gesamten Schule wirklich Duelle ausfechten? Und wenn ja, womit? Niemand von ihnen konnte zaubern.

»Ich hab gehört, man muss einen Zaubertrank trinken. Irgendwie können die dann sehen, in welches Haus man gehört«, ließ ein Mädchen kühl die Wartenden wissen. Sie war sich ihrer Sache offensichtlich ziemlich sicher. In ihren Augen lag absolut keine Furcht. Stattdessen zuckte sie gleichgültig mit den Schultern.

Die Aussicht, einen unbekannten Zaubertrank zu trinken, stieß wie so vieles zuvor auf geteilte Resonanz.

Jeremias beschloss, seine Horrorgeschichten für sich zu behalten. Sie waren genug verunsichert und würden gleich ohnehin erfahren, was passieren würde.

»Ich habe gehört, ein alter Hut teilt uns in die Häuser ein«, meldete sich der Junge mit der piepsigen Stimme erneut zu Wort.

Jemand lachte laut, aber hohl auf. »Ja klar, ein Hut! Du glaubst ja auch, dass Geister Lehrer wären«, entgegnete einer jener Schüler, die bereits bei seiner vorherigen Frage gelacht hatten.

Im nächsten Augenblick wandten sich alle Köpfe ruckartig in Richtung des Eingangs. Gleichzeitig verstummten sie jäh, denn mit einem obligatorischen Knarren wurde die Tür von außen geöffnet, in der niemand anderes als Professor McGonagall stand. »Es ist so weit«, verkündete sie förmlich und ließ abermals den Blick über sie wandern, was hauptsächlich ein Meer aus schuldbewussten sowie ängstlichen Blicken bedeutete, denn niemand von ihnen hatte die Zeit genutzt, um sich wie gefordert zurechtzumachen. »Stellen Sie sich in einer Reihe auf und folgen Sie mir.«

Ohne ein Wort zu verlieren, folgten sie Professor McGonagall geordnet zurück auf den Gang. Die Stimmen, die aus der Halle drangen, schienen lauter geworden zu sein. Jedenfalls kam es Jeremias so vor, der, da er nah bei der Tür gestanden hatte, recht weit vorn hinter einem Mädchen mit langen schwarzen Haaren in der Schlange lief.

Vor der Flügeltür blieb die Lehrerin stehen. Mit einem Blick über die Schulter versicherte sie sich, dass sie noch alle da waren. Wie auf ein unsichtbares Kommando hin, verstummten selbst hinter der Tür die Gespräche, was den dunklen Flur, in dem ihre eigenen Schatten an den steinernen Wänden flackerten, noch unwirklicher erscheinen ließ.

Dann stieß Professor McGonagall die Tür auf und sie standen das erste Mal in ihrem Leben in der Großen Halle von Hogwarts. Als hätte es an diesem Tag nicht genug Grund zum Staunen gegeben, so verschlug es den meisten von ihnen zum wiederholten Male die Sprache, als sie die vielen, ihnen zugewandten Gesichter sahen. Nach einem holprigen Start, da einige der Erstklässler plötzlich stehengeblieben waren, gingen sie an vier langen Tafeln entlang. Eigentlich bloß an zweien, denn es standen zwei der langen Tische zu jeder Seite, alle parallel nebeneinander. Die Ausnahme bildete ein kürzerer, aber höherer Tisch, der ganz vorn auf einem Podest quer zu den anderen stand. Die Personen dort waren wesentlich älter und zahlenmäßig unterlegen. Aus diesem Grund schätzte Jeremias, dass es die Lehrer waren, die er dort vor sich hatte.

In der Mitte des hohen Tisches saß ein alter Mann mit langen weißen Haaren, einem riesigen violetten Spitzhut sowie einem Bart, der hinter der Tischplatte verschwand. Er trug eine halbmondförmige Brille. Jeremias kannte ihn von einigen der Schokofroschkarten. Albus Dumbledore, der Schulleiter von Hogwarts. Seine Eltern sprachen nur in den höchsten Tönen von ihm. Ebenso Nicolas. Immer wenn er ein Wort über ihn verlor, so klang immer ein Hauch von Ehrfurcht in seiner Stimme.

Der Platz rechts neben dem Schulleiter war leer. Einen Platz weiter saß allerdings ein Lehrer, der mindestens so streng dreinsah wie Professor McGonagall. Während die stellvertretende Schulleiterin auf den Elfjährigen einen respekteinflößenden Einfluss hatte, der seine Furcht schürte, einen Fehler zu begehen, glaubte er bei dem Blick aus den dunklen Augen dieses Lehrers, diesen schwerwiegenden Fauxpas längst begangen und einen Schulverweis schon vor der ersten Unterrichtsstunde verdient zu haben. Seine kinnlangen, schwarz schimmernden Haare verliehen ihm dazu ein schmieriges, aalglattes Aussehen. Bestimmt war er kein sonderlich sympatischer Mensch.

Ganz im Gegensatz zu dem freundlich lächelnden kleinen Mann, der auf der rechten Seite von Professor Dumbledore saß. Er trug ebenfalls einen Spitzhut, jedoch in klassischem Schwarz, dazu einen hellblauen Umhang, der zu dem hellen Braunton passte, den seine Sitznachbarin trug. Mit seiner Brille, die kaum größer als seine Augen war, und den kleinen Händen, sah er wie ein Maulwurf aus, fand Jeremias.

Die Hexe neben ihm sah genauso freundlich zu ihnen hinunter. Ihre braungrauen Locken wellten sich unter ihrem Hut hervor.

Einen Platz weiter saß das genaue Gegenteil des Maulwurf-Lehrers. Sie trug eine Brille, die beinahe ihr gesamtes Gesicht einnahm. Viel schlimmer war allerdings die eindringlicher Musterung, als wolle sie die Kinder förmlich durchbohren. Es war viel unangenehmer als es bei Mister Ollivander damals in der Winkelgasse. Schnell sah er woanders hin. Diese Frau war ihm unheimlich. Einzig, dass der Riese Hagrid, wie die stellvertretende Schulleiterin ihn genannt hatte, mit am Tisch saß, registrierte er, während die übrigen Lehrer für ihn verschwommene Schemen blieben.

Die Schüler vor ihm schauten mal nach rechts, mal nach links oder bewunderten die Dekoration der Decke, der er gerade einmal für einen Sekundenbruchteil seine Aufmerksamkeit schenkte. Sie sah aus, als bestünde sie aus einem wahrhaftigen Sternenhimmel, unter dem Kugeln aus schierem Licht in einem Meer aus Kerzen tanzten.

Statt sich davon beeindrucken zu lassen, blieb Jeremias’ Blick an dem großen, blau-silbrigen Banner hängen. Das Wappen der Ravenclaws. Was war diese ganze schöne Dekoration wert? Sie war Zierde, beeindruckte, aber nutzte niemandem. Keine Verzierung, kein billiger Zaubertrick, der hier zu Anwendung gekommen war, hatte verhindern können, dass er heute allein hier stand und vom Tisch der Ravenclaws, der zu ihrer Rechten lag, niemand zu ihm herübersah. Es war nichts als Zeitverschwendung, ermahnte er sich. Entschlossen setzte er seine kalte Miene auf, die er kurzzeitig seit Betreten des Schlosses verloren hatte. Er musste sein Ziel im Auge behalten. Die Häuserverteilung war unwichtig. Er würde in jedem Haus etwas lernen. Darauf kam es an, redete er sich ein, während er den Blick finster auf das Banner gerichtet hielt, das hinter den Lehrern an der Wand hing.

Am Rande nahm er wahr, wie die Schüler vor ihm zum Stehen kamen, was er ihnen gleichtat.

Professor McGonagall deutete eine Linie vor dem Lehrerpult an, woraufhin sich die ersten zögerlich in Bewegung setzten, um sich vor dem Tisch aufzustellen.

Zwar waren sie nun den älteren Schülern zugewandt, aber der Junge sah durch sie hindurch, wie durch Geister. Er wusste, er würde kein bekanntes Gesicht finden – und jeder andere zählte nicht. Mutlos ließ er seinen Blick über die Tische schweifen. Die Kelche sowie die Teller glänzten wie reines Gold. Das warme Licht der schwebenden Leuchtkugeln und Kerzen, tauchte die Halle, anders als die Gänge, nicht in die gespenstige Aura eines Kellerverließes, sondern erhellten auch den kleinsten Winkel. Es mussten über hundert Schüler sein, die dort saßen und sie beobachteten. Allein an einer Tafel saßen bestimmt fünfzig. Jüngere wie Ältere. Manche tuschelten miteinander, andere warteten gespannt auf das Kommende. Es sollte feierlich sein, dachte Jeremias. Mit der Erkenntnis des nutzlosen Scheins war auch das Hochgefühl verblasst. Was immer käme oder wie man sie in die Häuser einteilte, es sollte einfach schnell vorbei sein.

Professor McGonagall lief an ihm vorbei, in der Hand einen Stuhl, den sie mittig vor die Reihe stellte, so dass, wer auch immer sich daraufsetzte, auf sich alleingestellt vor der Reihe Erstklässler säße und in die Masse der Schüler schaute. Der sprichwörtliche Präsentierteller hätte nicht besser in Szene gesetzt werden können. Auf den Schemel legte die Professorin einen alten, braunen, zerknitterten Hut.

Verstohlen beugte Jeremias sich vor. Er schaute zu dem Jungen, der etwa seine Größe hatte und, wie er wusste, eine sehr hohe, piepsige Stimme. Eben jener, der zuvor etwas von einem Hut erzählt hatte. Der stand da mit stolzgeschwellter Brust und puderroten Ohren, während der andere Erstklässler, der sich zuvor über ihn lustig gemacht hatte, argwöhnisch zu dem beleibten Geist stierte, der über dem Tisch der Hufflepuffs schwebte und ihnen seine gedrückten Daumen darbot.

Behielt der Junge etwa Recht? Würde dieser Hut darüber entscheiden, wohin sie kämen? Wie sollte das funktionieren? Würde er seine Farbe wechseln, wenn sie ihn aufsetzten? Oder er war mit einem Bann belegt und sie würden sich gegen ihn zur Wehr setzen müssen. Oder man würde sie auffordern, etwas mit dem Hut anzustellen. Das Ding hatte allem Anschein nach so Einiges mitgemacht. Jeremias fragte sich, ob er aus mehr als Flicken in verschiedenen Brauntönen bestand. Vielleicht war er einst schwarz gewesen und von seiner ursprünglichen Form war wegen des Rituals nichts mehr übrig. So krumm und schief, wie er dort auf dem Stuhl lag, sah er aus, als benutze ihn jemand zwischen den Jahren als Kopfkissen. Wie gut, dass es kein Tier war, sondern bloß ein Gegenstand.

Von diesem Standpunkt aus war es etwas merkwürdig, das in dieser Halle voller Menschen plötzlich alle atemlos an ihrem Platz verweilten und einen Schemel anstarrten. Musste jetzt nicht jemand etwas sagen? Oder etwas erklären? Worauf warteten sie?

Als eine Stimme aus dem Zentrum ihrer Aufmerksamkeit erklang und der Hut sich plötzlich rührte, erübrigte sich die Antwort.

Bin ich auch hässlich, alt und grau,
so stehl ich hier vorn doch jedem die Schau.

Meine Erfahrung macht mich zu einer Institution,
vereint das hohe Alter der Tradition,
mit den Andenken der Historie,
an welche ich mich noch gut erinnere.

Einmal im Jahr, da seht ihr mich,
doch nur einmal im Leben, da sehe ich dich.
Schau hinein in deine junge Seele,
und sage dir, zu wem ich dich zähle.

Eure ganze Schulzeit sollt ihr verbringen
in Gesellschaft eurer Gleichgesinnten.
Doch für jeden einen großen Applaus,
der Freunde findet, nicht nur im eigenen Haus.

Ob alte Seele oder junger Blick,
bei meiner Wahl bewies ich noch immer Geschick.
Alle Tapferen und auch den ein oder anderen Tor,
schickt ich seit jeher nach Gryffindor.

Kennt vor allem eure Loyalität keine Grenzen,
werd ich euch trotz Naivität den Hufflepuffs kredenzen.

Nach Ravenclaw kam – und so auch noch heute,
wer Wissen erachtet als die größte und wichtigste Beute.

Sobald ein dunkler Schatten zieht dahin,
sagen alle, es sei Slytherin.
Doch zu den Jüngern Salazars bestimme ich gleich,
wer Menschen zu leiten und zu lenken weiß.

So hat jedes Wesen seine Tücken,
eignet sich nicht nur, um zu verzücken.
Die Wahrheit kann schmerzen,
der Mut wie die List euch verletzen
und nicht jeder weiß echte Treue zu schätzen.

Es gibt zu jeder Manier Turbolenzen,
aber allein deshalb sollt ihr nicht zaudern.
Mit jedem Wesen kann man glänzen,
kein Grund, vor meinem Urteil zu schaudern.


Das Lied des alten, sprechenden Hutes verklang, tosender Beifall von allen vier Tischen brandete auf, während die Erstklässler die Erkenntnis sprachlos verdauten. Auf dem Stuhl vollführte die Karikatur eines Spitzhutes etwas, das einer Verbeugung gleichkam. So viel dazu, dass er nicht mitbekäme, was gleich mit ihm geschah. Was ihre Aufgabe wäre, das war Jeremias noch immer schleierhaft.

Augenscheinlich wäre kein Trick notwendig, sondern der Hut hatte irgendeine Möglichkeit, in ihren Kopf hineinzusehen. Plötzlich wünschte er sich, er müsste den Lumpen mit seinem Zauberstab nur in die Luft jagen. Alles in ihm sträubte sich dagegen, dass jemand seine Gedanken las. Was wäre, wenn der Hut merkte, dass es ihm egal wäre, wohin er käme? Dass er den ganzen Zauber hier für überflüssig erachtete und eigentlich nur zurück nach Hause zu seinem Bruder wollte? Moment, halt! Er wollte hier sein, ermahnte er sich barsch in Gedanken. Er wollte hier sein. Er wollte dafür Sorge tragen, dass sie im nächsten Jahr gemeinsam herkommen konnten. So sehr er sich danach sehnte, die Zeit mit Nicolas zu verbringen, so wenig wollte er anerkennen, dass es seine letzte war. Dagegen konnte selbst ein alter, sprechender Hut wohl kaum etwas einzuwenden haben.

»Ich werde euch der Reihe nach aufrufen. Ihr werdet dann nach vorne kommen, euch auf den Stuhl setzen und den Sprechenden Hut aufsetzen«, unterbrach Professor McGonagalls rigorose Stimme Jeremias’ Gedanken. Sie blickte streng über den Rand der Pergamentrolle, die sie soeben entrollte, zu ihnen herüber.

Den Hut aufsetzen? Na, das sollte zu schaffen sein. Auch die anderen Erstklässler, rechts und links neben ihm, die er verstohlen musterte, wirkten sehr erleichtert.
Kapitel 6: Bestimmung eines Herzens by BlueScullyZ
»Anthonyson, Portia«, schallte der erste Name ihnen entgegen.

Aus der Reihe von Erstklässlern löste sich das braunhaarige, stämmige Mädchen. Es ließ es sich nicht nehmen, sich vor Freude strahlend vor der Schar der Schüler von Hogwarts auf den Stuhl sinken zu lassen.

Professor McGonagall setzte ihr den Hut auf den Kopf. Darüber hinaus, dass er nunmehr aus Flicken bestand, war auch die Krempe sehr alt und ausgeleiert. Das Ding rutschte dem Mädchen über die lockigen Haare bis über die Augen. Zunächst geschah nicht viel, außer, dass die Erstklässlerin ihren Kopf zur Seite wandte. Sie verzog den Mund zu einem verlegenen Lächeln, sah zu Boden und ihre Ohren liefen feuerrot an. Augenscheinlich hatte der Sprechende Hut ihr ein Kompliment gemacht, jedoch entweder so leise, dass Jeremias es nicht hatte hören können, oder er las tatsächlich ihre Gedanken.

Jeremias Herz schlug schneller. Die Vorstellung, den alten Spitzhut in seinen Kopf zu lassen, verlor immer mehr an Reiz.

»GRYFFINDOR!«, rief dieser plötzlich.

Johlender Beifall brandete links von ihnen auf, woraufhin Portia die Kopfbedeckung absetzte und glücklich aber unschlüssig dastand. Offenbar überlegte sie, ob sie ihn zurück auf den Stuhl legen oder der Lehrerin in die Hand geben sollte. Letztlich nahm Professor McGonagall ihn ihr ab und die frisch ernannte Gryffindor lief zügigen Schrittes mit vor Stolz rotglühenden Ohren zu ihren neuen Kameraden.

»Belby, Marcus«, rief die Professorin den nächsten Schüler auf. Schlagartig legte sich das Gemurmel im Saal.

Ein hagerer Junge mit dunkelblonden Locken, der bestimmt einen halben Kopf größer als Jeremias war, trat zögerlich aus der Reihe hervor. Seine Hände hatte er nervös ineinandergeschlungen und biss sich auf die Oberlippe. Auch ihm setzte die Lehrerin den Sprechenden Hut auf und auch ihm rutschte er fast bis über die Augen.

Kaum, dass seine Mundwinkel verlegen zuckten, verkündete der Hut laut: »RAVENCLAW!«

Rechts neben dem Tisch der Gryffindors erhob sich tosender Beifall. Einige der älteren Schüler standen auf, andere nickten ihrem neuen Mitglied respektvoll zu. Was auch immer der Hut zu Marcus Belby gesagt hatte, es hatte bewirkt, dass der hochgewachsene Junge es tatsächlich fertigbrachte, der strengen Professor McGonagall in die Augen zu sehen, ehe er mit erhobenem Haupt zu seinen Tisch ging.

»Bell, Katie«, ertönte die autoritäre Stimme der stellvertretenden Schulleiterin.

Das vorlaute Mädchen, mit dem Jeremias im Boot gesessen hatte, trat vor. Sie schien nicht so voller Vorfreude wie Portia zu sein, jedoch sehr viel gefasster als Marcus Belby. Ihr brauner Pferdeschwanz wippte bei jedem Schritt. Sie schaffte es, würdevoll, aber nicht arrogant zu erscheinen, als sie ihren Platz vor den Erstklässlern einnahm und den Hut aufsetzte, der wegen des Zopfes hinten sicher auflag, dafür vorn umso tiefer ins Gesicht rutschte.

Es dauerte bloß Sekundenbruchteile, bis er ihr Haus verlauten ließ. »GRYFFINDOR!«

Das Prozedere wiederholte sich. Beifall, man empfing Katie an ihrem Tisch, ehe der nächste Name verlesen wurde.

»Carmichael, Eddie.«

Den Namen trug ein großer, schlaksiger Junge, der sogar Marcus Belby überragte. Jeremias glaubte kaum, dass er erst elf war. Vermutlich hatte er vor ihm Geburtstag und war bereits zwölf. Mit seinen kurzen blonden Haaren, die er brav zur Seite gescheitelt hatte, sowie seinem ernsten Gesichtsausdruck, mochte er vielleicht auch bloß älter aussehen. Als der Hut über seine Augen sank, verzog der Erstklässler keine Miene, soweit er das erkennen konnte. Auch ihre historische Kopfbedeckung verharrte eine ganze Weile regungslos.

Jeremias' Nebenmann stöhnte genervt auf, was der Blondschopf schweigend zur Kenntnis nahm. Stattdessen beobachtete er weiter die Auswahl. Immer noch war keine Entscheidung gefallen. Während sie gespannt warteten, blieb ihm schrecklich viel Zeit, nachzudenken. Wie wäre es wohl, wenn dieser magische Hut in seinen Kopf eindrang? Es tat scheinbar nicht weh, aber konnte man sich irgendwie dagegen wehren? Dieser vermaledeite Zylinder musste ein einziges blödes Wort sagen. Mit etwas Glück ließ er sich zu einer schnellen Entscheidung bewegen.

»RAVENCLAW!«, rief der Hut urplötzlich aus und ließ Jeremias erschrocken zusammenzucken.

Ob die anderen Häuser auch noch Schüler zugeteilt bekämen? Ganz rechts sahen die Schüler am Tisch der Slytherins so aus, als stellten sie sich missmutig dieselbe Frage.

»Chang, Cho«, rief Professor McGonagall das Mädchen zu Jeremias Linken auf.

Flüchtig sah er aus den Augenwinkeln, dass sie asiatische Gesichtszüge hatte. Er war hinter ihr in die Halle eingelaufen, hatte jedoch außer ihren schwarzen Haaren nichts sehen können. Allerdings hätte er auch nicht darauf geachtet, wäre sie rückwärts vor ihm gelaufen, gestand er sich ein.

»RAVENCLAW!«

Als sich erneut einige Ravenclaws erhoben, konnte Jeremias in manchen Gesichtern so etwas wie Belustigung erkennen. Die hämischen Blicke galten allerdings nicht ihrer neuen Mitstreiterin, sondern den anderen Häusern, die bisher teilweise gänzlich leer ausgegangen waren.

Professor McGonagall fuhr unbeirrt fort. »Clay, Upton.«

Ein freundlich dreinblickender Junge mit blonden Locken ging zu dem Stuhl und setzte den Hut auf, den Cho Chang dort zurückgelassen hatte. Er rutschte ihm bis zur Nasenspitze, ehe er wenig später verkündete: »SLYTHERIN!«

Der Beifall von Rechts war mindestens so überschwänglich wie bei der Ernennung von Katie Bell oder Portia. Die zuvor so lauten Gryffindors sahen Upton Clay grimmig hinterher, während die Slytherins den Erstklässler triumphierend in ihren Reihen begrüßten.

»Dean, Pierre.«

Den kräftigen Jungen erkannte Jeremias wieder, trotz dass er ihn nur von der Seite sah. Seine kurzgeschorenen Haare verrieten ihn. Dafür, dass er zuvor im Wartebereich so große Töne gespuckt hatte, sah er die Lehrerin nun besonders demütig an, als befürchtete er, sie würde ihm eins mit einem unsichtbaren Rohrstock überziehen, wenn er sie aus den Augen ließe. Ihm blieb nichts anderes übrig, denn die Hutkrempe verdeckte ihm wenig später die Sicht.

»GRYFFINDOR!«, rief der Spitzhut aus, woraufhin dem Jungen die Ohren so rot anliefen wie zuvor Portia - ob vor Stolz bezweifelte Jeremias. Schuldbewusst sah Dean noch einmal zu der Lehrerin, ehe er zu seinem Tisch ging. Auch wenn er meinte, sie hätte Haare auf den Zähnen, würde er nun wohl oder übel lernen müssen, mit Professor McGonagall klarzukommen.

»Duke, Huguette«, rief eben jene die nächste Schülerin auf.

Die Genannte schritt mit erhobenem Haupt nach vorn. Sie war offensichtlich gewillt, ihr Schicksal hinzunehmen. Als der Hut »SLYTHERIN!« rief, bereitete ihr das Akzeptieren dieser Wahl keinerlei Probleme. Zufrieden schritt sie zur rechten Seite.

Jeremias fiel auf, dass bisher noch niemand nach Hufflepuff gekommen war. Am Tisch zwischen Slytherin und Ravenclaw konnte er dennoch keine Enttäuschung auf den Mienen der Schüler erkennen, außer in der des Geistes, der sie in dem Warteraum besucht hatte und gemeint hatte, er würde sie dort wiedertreffen. Dieser hielt zwar weiterhin seine Daumen gedrückt, doch es ließ sich nicht leugnen, dass er nicht mehr so fröhlich aussah wie noch zum Beginn der Auswahl.

»Edgecombe, Marietta«, rief McGonagall die nächste Schülerin auf.

Ein zierliches Mädchen mit blondem Pferdeschwanz und schüchternem Lächeln kam zu ihr nach vorne. Sie wurde eine Ravenclaw.

Während Patricia Fawcett ihr wenig später folgte und Otho Ferreiro nach Slytherin kam, spiegelte sich im Gesicht des Geistes über Hufflepuff mehr und mehr die Verzweiflung wieder. Allerdings sahen die Gryffindors unzufriedener aus. Scheinbar warteten auch sie darauf, dass ihnen langsam wieder ein Schüler zugeteilt würde. Alphaeus Gristle jedenfalls nicht, denn diesen schickte der Hut nach Ravenclaw, was bei Jeremias die Frage aufwarf, ob ein Haus irgendwann voll sein konnte.

Nachdem auch Alphaeus Gristle sich an seinen Tisch begeben hatte, fuhr die stellvertretende Schulleiterin mit »Harmon, Laetitia« fort.

Ein blonder Junge trat aus der Reihe. Er grinste fröhlich in die Runde, ehe er nach vorne ging. Im Nacken waren seine Haare zu einem dünnen Rattenschwanz geflochten.

Moment, dachte Jeremias und rief sich den Namen noch einmal in Erinnerung. Laetitia war gar kein Jungenname, doch augenscheinlich war es kein Versehen, denn Professor McGonagall machte anstandslos weiter.

Unter der Krempe des Hutes wurde das Grinsen des Kindes breiter. Ein helles Lachen, das ganz bestimmt das eines Mädchens war, erklang, bevor der Hut zum ersten Mal rief: »HUFFLEPUFF!«

Schnell sah Jeremias zu dem Geist der Hufflepuffs, der erleichtert aufatmete und überschwänglich eine Runde über den Tisch schwebte, während unter ihm die Schüler des Hauses Laetitia fröhlich in ihre Mitte nahmen.

Gleich darauf folgte Audie Hartell, ebenfalls ins selbe Haus. Das schüchterne Mädchen mit den kinnlangen, braunen Haaren, war, wie Katie Bell, zusammen mit Jeremias im Boot nach Hogwarts gekommen. Sie freute sich sichtlich über den herzlichen Empfang. Ganz im Gegensatz zu ihrer gemeinsamen Überfahrt, wo sie nur still dagesessen hatte, schien sie sich wohlzufühlen. Jetzt strahlte sie, wenn auch etwas verlegen.

»McBride, Edwana.«

Entgegen seines Vorhabens, möglichst wenig Interesse auf das ganze Tamtam zu legen, sah er sich zu McBride um, die mit erhobenem Haupt aus der Reihe trat und siegessicher in Richtung Stuhl schritt.

Der Hut neigte sich langsam nach rechts, blieb jedoch stumm.

»Oh ne, eine Hutklemme!«, stöhnte der Junge neben Jeremias leise, der augenscheinlich darauf brannte, dass ausgediente Kopfbedeckungen in seinem Oberstübchen herumgeisterten.

Jeremias hatte dafür wenig Verständnis. »Sie sitzt doch gerade mal ein paar Sekunden da.« Verstohlen sah er aus den Augenwinkeln zu dem größeren Schüler, der kräftiger als er war; und ganz offensichtlich ungeduldiger.

Für seinen Nebenmann war das Thema damit noch nicht beendet. Gereizt zischte er zu ihm herüber: »Und der Hut regt sich null! Ich sag dir, das ist eine Hutklemme. Unter fünf Minuten kommt die da nicht weg.«

»Aha«, entgegnete Jeremias aus Höflichkeit. Da auch der andere Junge an seiner ersten Häuserverteilung teilnahm, bezweifelte er stark, dass er irgendeine Art von Expertenwissen besaß.

»Was denn? Ich will endlich wissen, in welches Haus ich komme!«, legte sein Nachbar ihm mit gesenkter Stimme sein Dilemma dar.

Vor ihnen neigte sich der Hut langsam schweigend nach links.

»Das ist doch sowieso egal. Abgesehen vom Wappen oder dem Hauslehrer gibt es da eh keinen Unterschied«, befand Jeremias ebenso mit gedämpfter Stimme schulterzuckend.

»Vergiss die Hausgeister nicht«, ergänzte das Mädchen zu seiner Linken im Flüsterton, ohne sich zu ihm zu drehen. Stattdessen stierte sie gebannt nach vorn.

Der Junge zu seiner Rechten dagegen hatte ein ganz anderes Problem. »Du willst mir nicht sagen, dir wäre es völlig egal, in welches Haus du kommst, oder?«

Diesmal sah Jeremias nicht einmal kurz zu ihm herüber, sondern antwortete stoisch: »Völlig egal.«

»Na, nach Gryffindor kommst du mit der Einstellung schon einmal nicht«, schnaubte der andere.

»Und warum nicht?« Im Nachhinein verfluchte sich Jeremias für diese Frage. Warum hatte er es nicht stumm hingenommen? Dann wäre Ruhe gewesen. Hoffnungsvoll sah er zu Edwanas Kopf und dem, was darauf trohnte. Offenbar hatte es dem die Sprache verschlagen.

Neben ihm erging sich der Junge in einer geflüsterten Begründung: »Guck doch mal auf das Wappen, Mann! Da ist ein Löwe. Ein mutiger, mächtiger Löwe! Und, sorry, aber du bist eher vom Typ Hauskatze kurz nach dem dem Mittagsschlaf.«

Wie schmeichelhaft, dachte Jeremias zynisch. Er beschloss, den Erstklässler fortan zu ignorieren.

»Guck, immer noch keine Entscheidung. Immerhin hat er mal die Krempe verzogen«, empörte sich der Schüler ungeachtet der Nichtbeachtung mit leiser, aber aufgebrachter Stimme.

»Müsste für Gryffindor nicht eigentlich ein Greif stehen?«, fragte Jeremias geistesabwesend. Sich mit dem Blödmann zu unterhalten, war um Welten besser, als darüber nachzugrübeln, was der Sprechende Hut so lange im Kopf eines Schülers zu suchen hatte. Wenn er daran dachte, dass es bei ihm ebenso lange dauern könnte, wurde ihm ganz anders.

»Na, das geht ja schlecht, oder?«

Lautlos seufzte der junge Tiller. Er musste das irgendwie beenden. »Wenn du meinst«, winkte er verdrießlich ab.

Der Ungeduldige aber fuhr unbeirrt fort. »Dann müsste man ja ein Adlergesicht draufsticken und würd' den Löwenkörper gar nicht sehen.«

»Welch ein Verlust ...«, brummte Jeremias bitter. Erst die Farben der Häuser, jetzt die Gestaltung der Wappen. Die anderen Kinder hatten wirklich beneidenswert simple Probleme.

»Dann würd man Gryffindor und Ravenclaw doch ständig miteinander verwechseln!«, redete der Junge weiter auf Jeremias ein.

»Eigentlich ja nur wenn man blind ist.«

»Na ja, gut, klar, die Farben unterscheiden sich noch ...«, gab sein Nebenmann kleinlaut zu.

»... und die Tiere«, schob Jeremias trocken hinterher, was seinen Nachbarn völlig aus dem Konzept brachte.

»Hä? Ravenclaw hat doch den Adler, Mann.«

»Aber eigentlich müsste es ein Rabe sein.« Jeremias war erstaunt, dass McBride immer noch auf ihre Entscheidung wartete. Wie lange saß sie nun schon da?

»Was?«, fragte der Junge neben ihm verwirrt.

Immer stärker trat in Jeremias der Wunsch zutage, dass es schnell zu einer Entscheidung kommen möge, nur, um dieses sinnlose Gespräch hinter sich zu lassen. »Ein Rabe. Ravenclaw, Rabenkralle, Rabe als Wappentier.«

»Nur, weil die so heißen, muss das Wappentier ja nicht automatisch auch ein Rabe sein! Gryffindor hat ja auch keinen Greifen.«

Er hatte es erfasst. Irgendwie. Genervt seufzte Jeremias. »Sag mal, kannst du nicht jemand anderen ...«

»SLYTHERIN!«

»... nerven?«, vollendete er seinen Satz gereizt, wobei er zuletzt, wie er jetzt bemerkte, zu laut geworden war. Dabei ging nun glücklicherweise jedes Wort, das er sagte, im tosenden Beifall der Slytherins unter, zu denen Edwana sich gesellte.

Neben ihm empörte sich der Ungeduldige. »Was? Und für die Entscheidung haben wir uns hier Minuten die Beine in den Bauch gestanden?«

»Mir kam es vor wie Stunden ...«, entfuhr es Jeremias trocken. Davon abgesehen: Was hatte sein Nachbar erwartet? Trompeten? Fanfaren? Die Gründung eines fünften Hauses?

»Na, bei dir geht es hoffentlich schneller. So arrogant wie du bist, kannst du dir gleich bei dem Mädel den Weg zu deinem Tisch abgucken!«, fuhr ihn sein Nebenmann von der Seite an, während der Applaus langsam verhallte.

»Wenn ich da meine Ruhe habe, soll mir das Recht sein«, gab Jeremias trotzig zurück.

»McLaggen, Cormac!«, rief Professor McGonagall den nächsten Schüler in besonders strengem Ton auf. Dabei bedachte sie ausgerechnet Jeremias und seinen Nachbarn mit einem strafenden Blick.

Der Junge neben ihm verstummte nicht bloß, sondern tat einen Schritt vor. Er war also der Gerufene und wie er es sich gewünscht hatte, schickte der Hut ihn postwendend nach Gryffindor. Die Krempe hatte seinen Kopf gerade eben berührt gehabt. Sollte er doch glücklich werden, mit seinen Löwen.

Die Ernennung der nächsten Schüler floss an ihm vorbei. Justy Merill und Graham Montague kamen nach Slytherin, während Regin Jesse Nightmoon bei dem Geist über Hufflepuff für Begeisterungssprünge sorgte. Nancy Spear wurde eine Slytherin und Eldary Summers war der nächste Hufflepuff, der langsam aber sicher für Ausgleich zwischen den Häusern sorgte. Farran Sutton bescherte den Gryffindors einen Grund zum Jubeln, gefolgt von Adelais Tacita, die nach langer Pause zu einer Ravenclaw ernannt wurde. Mit Sally Thornton bekam das Haus gleich die nächste Schülerin, nachdem Oscar Thibault nach Hufflepuff geschickt worden war.

»Tiller, Jeremias.«

Sein Herz rutschte eine Etage tiefer, ehe es besonders kräftig und schnell zu schlagen begann. Plötzlich schien es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Er spürte, wie jedes einzelne Augenpaar auf ihn gerichtet war, als könne jeder dieser Schüler und nicht bloß der sprechende, magische Hut gleich in seinen Kopf gucken. Sein Magen fühlte sich an, als hätte er hundert Schokoschwimmer-Kappas verschlungen und als er nach vorne trat, war es, als würde er über den Boden schweben. Vor Anspannung zitternd nahm er auf dem Stuhl Platz und hielt die Luft an, als Professor McGonagall den Hut auf seinen Kopf setzte. Er wog schwer, drückte seine Nasenspitze mit seinem Gewicht ein wenig herunter und seine Krempe war so glatt und abgegriffen wie er ausgesehen hatte. Immerhin musste er so die Gesichter der anderen Schüler nicht sehen. Vielleicht war es ja Absicht, dass der Hut allen Erstklässlern viel zu groß war.

»Dann wollen wir mal sehen ...«, erklang unversehens eine Stimme - mitten in Jeremias' Kopf.

Seine schlimmsten Befürchtungen wurden damit wahr. Seine Hände begannen zu kribbeln, er kniff die Augen zusammen und dachte ganz fest: »Steck mich einfach irgendwo hin!«

»Na na, nicht so voreilig!«, bremste ihn die fremde Stimme in seinem Kopf. »Als wäre es dir wirklich gänzlich egal.«

»Ist es!«, versicherte ihm Jeremias. Und das war es! »Der Unterricht ist doch sowieso überall der gleiche.« Das hatte er zuvor schon McLaggen klargemacht. Das musste er doch einsehen. Er musste nur irgendein Haus ausrufen und aus seinem Kopf verschwinden und alles wäre gut.

»Das stimmt«, befand der Hut nachdenklich.

Erleichterung machte sich in Jeremias breit.

»Aber«, fuhr er fort und versetzte ihn wieder in Alarmbereitschaft; bereit, seine Gedanken wenn nötig - wie auch immer - zu verteidigen, »trotz deines Eifers, scheint Ravenclaw für dich die falsche Wahl zu sein.«

Die Worte brachten Jeremias aus dem Konzept. Für einen Augenblick vergaß er, dass er den Hut gar nicht in oder auf seinem Kopf haben wollte.

»Oh, ist das etwa Bedauern?«, fragte die Stimme, mit unüberhörbar spottendem Unterton.

»Es ist mir egal!«, dachte Jeremias trotzig zurück. Es war merkwürdig sich mit jemandem zu unterhalten, ohne ein Wort zu sagen.

»So mit mir zu reden, erfordert Mut«, entgegnete die alte Stimme in seinem Kopf, ehe er wenig begeistert ergänzte: »Oder Ignoranz.«

Da kam Jeremias die Frage in den Sinn, ob es so eine gute Idee gewesen war, den Hut womöglich zu verärgern. War es ihm wirklich egal, in welches Haus er kam? So oder so, nun wäre es sicher zu spät. Wenn, dann hatte er es jetzt vergeigt.

»Zurück zum Wesentlichen: Ich sehe bei dir nur einen Wunsch, der mir die Wahl sehr leicht macht. Dein Herz bestimmt bloß die eine Gabe; das, was es ehrlich leiden lässt«, erklärte ihm der Sprechende Hut geduldig. »Zugegeben, neben deiner Sturheit«, fügte er brummig an. »Du kommst nach - HUFFLEPUFF!«

Das letzte Wort dröhnte so laut in Jeremias' Ohren, dass er im ersten Augenblick gar nicht bemerkte, dass am Tisch der Hufflepuffs Beifall ausgebrochen war.

Jeremias nahm den Hut vom Kopf, legte ihn auf den Stuhl und ging zu den Tischen. Zwischen den Ravenclaws entdeckte er Leon Parks' freundliches Gesicht.

Der Vertrauensschüler lächelte ihm aufmunternd zu und hob grüßend die Hand.

Jeremias winkte knapp zurück, ehe er zu den Hufflepuffs hinüberging. Dabei kam es ihm alles unwirklich vor, denn eine Frage hallte immer wieder in seinem Kopf wider: War es ihm wirklich egal? Oder wäre er doch lieber in das Haus seines Bruders gekommen? Die Begründung des Sprechenden Hutes beschäftigte ihn ebenso. Sie formte einen dicken Kloß in seinem Hals, den er herunterzuschlucken versuchte.

Am Tisch der Hufflepuffs angekommen, klopften ihm die Schüler mutmachend auf die Schulter und schüttelten seine Hand. Sie schienen allesamt froh, ihn bei sich begrüßen zu dürfen. In der Mitte der Tafel hatten sie etwas Platz gelassen. Die anderen vier Erstklässler, die vor ihm angekommen waren, warteten schon auf ihn. Von ihnen kannte er niemanden außer die zierliche Audie, die ihn verlegen anlächelte, aber nach wie vor kein Wort sagte.

Vorn war der nächste Schüler aufgerufen worden. Merrit Spike Treacy wurde in dem Moment zum Gryffindor bestimmt, als Jeremias sich setzte. Er achtete nicht weiter auf die anderen Hufflepuffs. Stattdessen flüchtete er sich in das Geschehen vorne, obwohl er das Gefühl hatte, immer noch dort zu stehen und darauf zu warten, einem Haus zugewiesen zu werden.

Cleena Triggs, ein Mädchen mit kinnlangen schwarzen Haaren, die hinten merkwürdig kurz waren, verschlug es ebenfalls nach Gryffindor. Neva Todd kam wenige Minuten später zu ihnen an den Tisch, bevor Felia Usarus Ravenclaw zugeteilt wurde.

Was er davon hielt, dass Keaton ebenfalls nach Hufflepuff kam, wusste Jeremias nicht. Er nickte ihm zu und rückte auf der Bank zur Seite, damit er sich neben ihn setzen konnte, doch die unbändige Freude der anderen, die schon Neva überschwänglich begrüßt hatten, konnte er nicht teilen, auch wenn er nichts gegen seine Reisebekanntschaft hatte.

Nachdem die letzte Schülerin, Léone Wilkins, nach Gryffindor geschickt worden war, wurde es still. Auf der Suche nach dem Grund bemerkte Jeremias, dass der große, dünne Mann in seinem magentafarbenen Mantel sich an der hohen Tafel der Lehrer erhoben hatte.

Der Schulleiter stand mit einem milden Lächeln oben hinter dem hohen Tisch. Er wartete geduldig, während es im Saal immer stiller wurde.

Vor ihm hatte Professor McGonagall ihr Pergament zusammengerollt und war gerade dabei, den Schemel beiseite zu räumen.

»Willkommen«, schallten Dumbledores Worte in die entstandene Stille hinein. Wie bei Mister Ollivander war seine Stimme ruhig, erreichte aber dennoch jeden Winkel der Großen Halle. »Willkommen zu diesem neuen Jahr in den Gemäuern von Hogwarts. Bevor wir zum wichtigsten Punkt des jährlichen Auftakts kommen und wir unsere Bäuche mit Leckereien vollschlagen können, sieht das Protokoll eine Rede vor. Und wer bin ich, mich dem zu widersetzen? Also, aufgepasst: Heidelbeersorbet. Knaller. Niff. Hinkepank. Simsalabim! Vielen Dank.« Der Schulleiter ließ sich unter dem aufbrandenden Beifall wieder auf seinen Platz sinken.

Jeremias sah zweifelnd zu ihm auf. Der Typ hatte doch nicht mehr alle Nadeln an der Tanne. Die Lehrer links und rechts neben ihm, schienen seine merkwürdigen Wortmeldungen nicht zu stören. Als er sich zögerlich umsah, stellte er erleichtert fest, dass wenigstens ein Teil der anderen Erstklässler ebenso fragend wie er aus der Wäsche blickte.

Allen voran Keaton, der mit weit aufgerissenen Augen und halboffenem Mund hinauf Lehrertisch starrte. Jetzt sah der Junge wahrhaftig wie seine Eule aus.

Mit dem Blick auf den Tisch fiel Jeremias auf, dass dieser plötzlich nicht nur mit leeren Tellern bestückt war, sondern wie aus dem Nichts gefüllte Schalen, Platten und Terrinen erschienen waren, an denen sich die anderen Hufflepuffs begeistert gütlich taten. Neben gegartem, gebackenem und frittiertem Gemüse sowie Fleisch verschiedenster Herkunft, gab es Kürbissuppe oder Pasteten.

Ein älterer Schüler schaufelte der Erstklässlerin mit den kurzen, blonden Haaren und dem Rattenschwanz ein großes Stück einer Lachsquiche auf ihren Teller, als sich ihr von hinten ein großer, bulliger Junge mit breitem Grinsen näherte und sie stürmisch von hinten umarmte. »Ich wusste doch, dass es dich zu uns Versagern treibt«, flachste er und wuschelte mit seiner großen Pranke über Laetitias kurzgeschorenen Schopf.

Das kleine Mädchen grinste ebenso breit, lachte hell auf und schmiegte sich von vorn in seine Umarmung. »War doch klar, oder?«

»Willst du auch was von der Kürbispastete?«, fragte Keaton.

Jeremias, der die Szene zwischen den beiden Kindern beobachtet hatte, schaute ruckartig hinunter auf seinen leeren Teller. Beim Anblick der Speisen war ihm bewusst geworden, dass er heute den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, aber nach dem, was er gerade gesehen hatte, war sein Appetit verflogen.

Geschwister. Laetitia und der ältere Junge waren Geschwister. Ein fieses Kribbeln durchfuhr seinen Körper, gleichzeitig schoss ihm die Hitze ins Gesicht. Der Kloß im Hals, von dem er gedacht hatte, er sei ihn endlich los, beehrte ihn wieder treu mit seiner zweifelhaften Anwesenheit. Wütend rauschte das Blut durch seine Ohren und verdrängte alles, was um ihn herum geschah. Für einen Augenblick war er allein mit seinem klopfenden Herzen.

»Aber irgendwas musst du nehmen. Ich mein, guck dir das an!«, redete Keaton begeistert auf ihn ein. »Ich hab noch nie so viel Essen auf einmal gesehen.«

Angespannt holte der Erstklässler tief Luft. Das Letzte, was er wollte, war, hier am Tisch vor allen anderen in Tränen auszubrechen. Er hatte sich den ganzen Tag solche Mühe gegeben, dass niemand davon erfuhr, ihn niemand danach fragte. Das würde er nicht alles zusammenbrechen lassen, weil ein Bruder seine kleine Schwester begrüßte, sagte er sich energisch. Langsam hob er seinen Blick, darauf bedacht, ja nicht zum Geschwisterpaar zu blicken, sondern das Essen zu betrachten. Der Anblick der gefüllten Schüsseln bereitete ihm jedoch bloß Übelkeit, aber da musste er durch. Das sah er ein. Lustlos griff er sich seinen Teller und belud ihn mit Kartoffelpüree, das vor ihm in einer großen, reich verzierten Schüssel stand. Als er den vollbeladenen Schöpflöffel daraus hervorzog, zog die Masse Fäden. Bestimmt war Käse darin. Dazu nahm er sich noch zwei kleine Würstchen und eine Pastete. Das musste als Alibi genügen.

»Hi, du musst Tiller sein«, hörte der Junge eine wenig bekannte Stimme sagen, woraufhin er aufsah.

Gesprochen hatte Laetitias Bruder, der immer noch hinter der Erstklässlerin stand. Im Gegensatz zu dem Mädchen hatte er längere Haare, die wenig sorgfältig nach vorn gebürstet worden waren. Es sah aus, als sei er heute schon durch einen unbarmherzigen Sturm gelaufen. Seine kräftige, linke Hand ruhte auf der Schulter seiner Schwester, die sich an ihrer Quiche gütlich tat und ihn verschmitzt anlächelte.

Bei dem Anblick der beiden glücklichen Geschwister erstarrte der Junge erneut. Warum musste er ausgerechnet von allen Neuen ihn ansprechen? Erst nachdem er die Schrecksekunde überdauert hatte, fiel ihm ein, dass der Schüler ihm eine Frage gestellt hatte, doch sein »Ja« verkam zu einem heiseren Fisteln. Schnell nickte der Erstklässler, um von dieser Peinlichkeit abzulenken.

Der Ältere lachte fröhlich auf. »Keine Sorge, ich beiße nicht«, meinte er den Jungen zu beschwichtigen.

»Stimmt, er schluckt im Ganzen«, fügte Laetitia an und lachte in ihre Quiche. Dafür fing sie sich von ihrem Bruder einen scherzhaften Schlag gegen die Schulter ein.

»Jedenfalls bin ich Rag«, stellte er sich vor, ehe er Jeremias die Hand reichte.

Vor ihm räusperte sich Laetitia wichtig und hob ihren Zeigefinger. »Raginmund Harmon«, vervollständigte sie seine Worte, als sei es ein besonders wichtiger Adelstitel, den er trug.

Rags gequälter Miene war jedoch anzusehen, dass sie das nur tat, um ihn zu ärgern. »Ja, danke, Schwesterherz«, brummte er, bevor er Jeremias erklärte: »Jedenfalls darf mich hier jeder Rag nennen. Das gilt wirklich für alle.« Dabei strahlte er in die kleine Runde neuer Schüler. »Na ja, ich geh dann mal an meinen Platz.«

»Mach das, Rag. Nicht, dass du noch verhungerst«, warf Laetitia ihm ungerührt an den Kopf. Auf den mahnenden Blick des Älteren erwiderte sie unschuldig: »Ich wiederhole nur, was Mama gesagt hat.«

Getroffen strich Harmon sich den Umhang glatt, womit er einen kleinen Bauchansatz entlarvte. »Pure Kraft!«, hielt er trotzig dagegen. »Außerdem würden die Klatscher mich ja sonst einfach wegpusten.« Er zwinkerte ihnen noch einmal zu, bevor er weiter nach hinten zu seinem alten Platz zurückging.

Jetzt wusste Jeremias, woher Rag die Idee gekommen war, ausgerechnet ihn namentlich zu begrüßen. Ein weiteres Gewicht, das sich um sein Herz legte. Rag kannte seinen Bruder vom Quidditch. Bei dem Gedanken bearbeitete er das Kartoffelpüree mit seiner Gabel. Der Appetit, der Hunger und überhaupt jede Lust waren ihm vergangen.

Neben ihm schwärmte Keaton mit Regin Nightmoon, dem kleinen Jungen mit der piepsigen Stimme, über das Essen, von dem sie sich immer neue Portionen aufluden. Audie Hartell hörte ihnen still zu und ab und an kicherte sie leise vor sich hin.

Oscar Thibault, ein untersetzter Junge mit blonden Haaren, die an der Seite kurzgeschoren und auf dem Kopf zur Seite gescheitelt waren, war wie Eldary Summers, einem etwas schmalerem Schüler, noch damit beschäftigt, ehrfürchtig die Große Halle zu begutachten.

Für Laetitia war diese Faszination ein Grund zum Kichern. »Vorsicht Jungs, Geist von links«, warnte sie ihre Sitznachbarn vor, als durch die Speisen hindurch der beleibte Untote auf sie zuschwebte.

»Was freue ich mich!«, verkündete er überschwänglich. Sobald er in ihrer Mitte angelangt war und die volle Aufmerksamkeit der Neuen hatte, gewann er gute zwei Meter an Höhe, von wo aus er fröhlich auf sie hinabstrahlte. »So viele neue, junge Gesichter in meinem Haus. Wenn das nicht ein Grund zur Feier ist.«

Einige Plätze weiter rief jemand: »Als bräuchtest du einen Grund zum Feiern!«

Lautes Gelächter erhob sich den gesamten Tisch der Hufflepuffs entlang, in das der Tote schallend mit einstimmte.

»Wahre Worte«, gab das durchsichtige Wesen zu, erhob jedoch kurz darauf den Zeigefinger. »Aber wisst es zu schätzen. Im Leben machen solche Anlässe weit mehr Spaß als danach. Nutzt jeden Grund, der sich euch bietet.« Nachdem er geendet hatte, betrachtete er seinen erhobenen Finger verwirrt. »Jetzt wäre ich doch beinahe ernst geworden«, bedauerte er kopfschüttelnd. »Nein, feiert, lasst es euch schmecken und willkommen in Hogwarts.«

»Was?!«, schrie einer der Älteren am anderen Ende der Tafel. »Hat der Geist gerade gesagt, wir sind in Hogwarts?«

Erneut flammte hier und da ein Lachen auf.

»Egal, ob wir dieses Jahr den Hauspokal holen; wir sind bestimmt das lustigste aller Häuser«, gluckste der Geist und entschwebte glücklich gen Decke.

Wunderbar, dachte Jeremias. Da war er, als Stimmungskanone schlechthin, ja genau im richtigen Haus gelandet.
Kapitel 7: Ein Stück Zuhause by BlueScullyZ
Jeremias brachte bloß wenige Bissen seines Mahls herunter. Es schmeckte passabel. Einzig sein Kopf hielt ihn davon ab, den Teller auf einen Schlag zu leeren, doch dieser leistete nachhaltige Arbeit. Hätte man ihm von der Seite keine misstrauischen Blicke zugeworfen, hätte er sich sicherlich selbst um die wenigen Happen gedrückt, die er zur Beruhigung der anderen herunterwürgte. Nachdem um ihn herum diverse Gespräche über Lehrer, die Geister von Hogwarts sowie Haustiere zu verfolgen gewesen waren - aus denen hervorging, dass keiner seiner Mitschüler eine Kröte besaß - fanden Keaton und Oscar eine Gemeinsamkeit, die auch die übrigen auf ein ganz neues Thema brachte.

»Du bist auch ein magischer Muggel?«, fragte der stämmige Oscar verblüfft. Seit über einer Viertelstunde unterhielten sich die beiden Jungen über die unglaublichen Dinge, die hier geschahen. Dass außer ihnen kaum jemand dermaßen hingerissen oder überrascht war, hatten sie augenscheinlich völlig ausgeblendet.

Gegenüber von Jeremias kicherte Laetitia. »Es heißt Muggelstämmiger. Aber magischer Muggel klingt lustig.«

Missmutig hatte der junge Tiller aufgesehen. Er konnte dem Mädchen jedoch keinen Vorwurf machen. Offenbar meinte sie es wirklich freundlich und wollte niemanden bloßstellen.

Neben ihm schaute Keaton betreten in die Runde. »Ich hab gehört, nicht jeder kann Muggelstämmige leiden.«

Zwar kam es Jeremias viel länger vor, aber erst am Mittag hatten sie sich im Abteil darüber unterhalten. Er konnte sich denken, wer von ihrer Reisegruppe in Keatons Augen nicht jeder gewesen war. Über die Schulter sah er flüchtig zum Nachbartisch der Slytherins, an dem Edwana irgendwo saß. Auf die Schnelle konnte er sie nicht ausfindig machen.

»Mach dir da mal keine Sorgen«, mischte sich ein älterer Schüler ein, der neben der Gruppe Erstklässler saß. Er lehnte sich weit genug nach vorne, dass alle Neuen ihn gut sehen konnten. Seine kurzen hellblonden Haare hatte er glatt nach vorn gekämmt und lächelte ihnen freundlich zu. »In diesem Haus wirst du damit gar keine Probleme haben. Manche Slytherins haben da ihre Vorbehalte. Da kommt allerdings selten jemand hin, der keine magische Abstammung hat.«

»Genau«, stimmte Laetitia ihm mit einem Selbstbewusstsein zu, als käme sie bereits viele Jahre nach Hogwarts. »Ich bin zwar reinblütig, aber das heißt nicht, dass ich automatisch besser zaubern könnte. Ich muss mich genauso hinsetzen und lernen wie du. Entweder du bist magisch begabt oder nicht. Egal, wer deine Eltern sind.«

»Gut gesprochen«, erwiderte der Ältere, lachend seinen Kelch erhebend.

Von weiter hinten rief Rag stolz: »Meine Schwester!«, was für einiges an Heiterkeit sorgte.

Auch Jeremias' Lippen zuckten. Sie formten für den Bruchteil einer Sekunde ein mehr trauriges Lächeln, als dass sie damit Freude auszudrücken vermochten. In der Tat hatte Laetitia es gut auf den Punkt gebracht.

»Ich bin ein Halbblut«, erklärte Eldary Summers grinsend. »Meine Schwester hat sich ziemlich geärgert, als ich einen Brief bekommen habe und sie nicht.«

Keaton und Oscar lachten bei der Vorstellung. »Das muss hart sein«, gestand Keaton Eldarys Schwester ihre Enttäuschung zu.

Eldary zuckte ungerührt die Schultern. »Sie ist jünger als ich. Dass sie den Brief erst später bekommt, muss ich ihr ja nicht sagen.«

»Sie wird sich bestimmt freuen, wenn sie ihn doch bekommt«, brachte Audie zögerlich hervor, die unter ihren hellbraunen Haaren bei ihrer ersten Wortmeldung in der Gruppe bis zur Spitze ihrer kleinen Nase hochrot anlief.

»Was bist du?«, fragte Oscar sie, während er sie neugierig betrachtete.

Schüchtern sah die junge Hexe so weit auf, dass sie ihn gerade eben unter ihrem Pony hindurch ansehen konnte, während ihr Lächeln breiter wurde. »Ein Halbblut, gewissermaßen. Die Eltern meiner Mutter sind beide Muggel gewesen.«

»Bei mir ist es ähnlich«, warf Neva Todd ein, die neben Audie saß. Sie hatte bisher weitestgehend geschwiegen. Offensichtlich war sie selbstbewusster als das andere Mädchen, aber trotz ihres freundlichen Gesichtsausdrucks wirkte es nervös, wie sie in die Runde schaute. »Meine Mum ist ein Muggel, ihre Mutter ebenfalls. Eigentlich haben sie gedacht, dass ich genauso wenig magisch begabt wäre. Kam dann doch anders. Ich hab' im Schwimmbad einen Krampf im Bein bekommen und das Wasser geteilt.«

Mit verstellter, tiefer Stimme verkündete Oscar ehrfürchtig: »Als nun Mose seine Hand über das Meer reckte, ließ es der Herr zurückweichen durch einen starken Ostwind die ganze Nacht und machte das Meer trocken und die Wasser teilten sich.«

»Ausgezeichnet«, lobte ihn der fette Mönch zufrieden, der hinter dem Jungen, der schlagartig leichenblass wurde und wie vom Donner gerührt herumfuhr, aus dem Nichts aufgetaucht war.

»Mein Vater ist Religionslehrer«, erklärte der verschreckte Zauberschüler verlegen. »Als er mit mir in der Kirche war und die Predigt besonders langweilig war, hat plötzlich die Orgel von allein zu spielen begonnen. Alle sind panisch rausgerannt. Die dachten, der Teufel wäre hinter ihnen her.«

Es war ihm sichtlich peinlich. Neben Jeremias konnten sich nur wenige das Lachen verkneifen. Die Vorstellung hatte was.

»Mir ist beim Zelten die Plane weggeflogen und plötzlich ist sie in der Luft umgedreht und wie ein Falke zu mir zurückgekommen«, berichtete Keaton sein magisches Erlebnis. »Und als Kinder auf dem Schulhof mal einen Hasen geärgert haben, sind sie alle wie Gummibälle ein paar Mal auf und ab gesprungen.«

»Und bei dir?«, fragte Laetitia, die augenscheinlich die Gesprächigste von ihnen allen war.

Immer noch abwesend bearbeitete Jeremias sein Püree. Er hatte halbherzig den Erzählungen gelauscht - froh darüber, dass der Kelch an ihm vorübergegangen war. Was sollte er auch groß erzählen? Zu seinem großen Verdruss galt diese letzte Frage niemand anderem als ihm. Er gab sich Mühe, die Unlust, die ihn überkam, zu verbergen. »Reinblüter«, antwortete er knapp. Erschrocken stellte er fest, wie heiser er klang. Er räusperte sich. »Ich wüsste gerade keine lustige Geschichte.« Mit den Worten schob er den kaum geleerten Teller von sich und versuchte sich an einem schiefen Lächeln, das sich falsch und irgendwie unecht anfühlte.

Ehe jemand etwas erwidern konnte, verschwand vor ihnen auf dem Tisch das Essen mitsamt der Schalen, Teller und Platten. Zurück blieben einzig ihre Kelche. Schon wieder. Neues, sauberes Geschirr erschien und läutete die nächste Runde ein. Ein Blinzeln später tauchte der Nachtisch auf, der keine Wünsche offen ließ. Selbst jenen unter ihnen, die aus Zaubererfamilien stammten, ließ es das Wasser im Mund zusammenlaufen. Eis in Blöcken sowie in lustigen wie beeindruckenden Figuren, Schoko-, Karamel-, Vanille; Saucen in allen möglichen oder unmöglichen Farben und Geschmäckern; Süßigkeiten, Kuchen, Torten, Eclairs. Und das war lediglich, was vor Jeremias Nase stand. Über den Tisch verteilten sich weitere Köstlichkeiten.

Der klebrige Duft der süßen Sünden legte sich über die Halle. Er reizte seinen ohnehin nervösen Magen. Diesmal machte er keine Anstalten, Interesse vorzuschützen, sondern flüchtete sich in seine Gedanken. Er schaute an Laetitia vorbei zum Tisch der Ravenclaws, während die anderen Neuen sich über besonders lustige Erlebnisse austauschten. Es war selten genug vorgekommen, dass er ungewollt gezaubert hatte. Wenn, dann wenn sie beide, Nicolas und er, in den Ferien herumgealbert oder sich gestritten hatten.

Verstohlen sah er zu den anderen Erstklässlern, die sich die Teller mit allerlei Köstlichkeiten vollgeladen hatten und die Leckereien genossen. Begeistert tauschten sie sich über die Geschmäcker und Lieblingswerke aus, die sekundenweise wechselten.

Jeremias wandte sich von dem fröhlichen Anblick ab. Er sah auf seinen leeren goldgefassten Teller. Wieder erklang die Stimme des Hutes in seinem Kopf. *Ist es dir wirklich egal?* Ja, sagte er sich endgültig. Er kannte am Tisch der Ravenclaws genauso wenig Leute wie hier in Hufflepuff. Es war für sein Vorhaben vollkommen egal. Sie müssen lernen, an Ihre Ziele zu glauben, Mister Tiller, rief er sich die Worte des Zauberstabmachers in Erinnerung. Ab morgen würde ihn nichts mehr daran hindern, sein Ziel zu verfolgen. Keine Zeremonien, keine nichtigen Konversationen. Selbige verstummten just wie von Geisterhand.

Vorn am hohen Tisch hatte sich ein weiteres Mal der Schulleiter erhoben, was augenscheinlich die Ursache für das allgemeine Schweigen war. Wie zuvor sah Professor Dumbledore milde lächelnd in die Gesichter der Schüler. Es wirkte, als habe er alle Zeit der Welt. Gemächlich rückte der alte Mann seine Halbmondbrille auf der Nase zurecht. Erst nach einer quälend langen Pause ergriff er endlich das Wort. »Bevor wir nun satt und zufrieden in unsere Gemächer entfliehen, um uns der wohlverdienten Ruhe hinzugeben, möchte ich einige Worte sagen.«

Jeremias unterdrückte ein Seufzen. Hoffentlich nicht wieder so ein Stuss wie zuvor.

Die Miene Professor Dumbledores wurde ernster. »Den neuen Schülern sei gesagt, dass das Betreten des Verbotenen Waldes - der Name erinnert ausdrücklich daran - verboten ist. Wir können im Schatten dieser alten Bäume für niemandes Sicherheit garantieren. Ihr tätet euch selbst den größten Gefallen, würdet ihr diese Regel berücksichtigen.«

Gemurmel brandete auf, während der weißhaarige Herr eine Pause einlegte, ehe es ebenso schnell verstummte.

Jeremias befand währenddessen widerwillig, dass in diesem Fall die Worte ganz sinnvoll gewesen waren.

»Die Älteren«, fuhr der Schulleiter fort, »möchte ich noch einmal wärmstens an diese Regel erinnern.« Sein Blick verharrte während dieser Mahnung ungewöhnlich lange am Tisch der Gryffindors, bevor er sich der Allgemeinheit zuwandte. »Zudem wurde ich von Mister Filch, unserem Hausmeister, gebeten, euch einige weitere Dinge ins Gedächtnis zu rufen, wenngleich die Konsequenzen mehr disziplinarischer Natur sind.« Professor Dumbledore deutete mit seiner Hand quer durch die Halle zum Eingang.

Vor der Pforte stand, sichtlich gekrümmt, ein älterer Herr mit schmierigen, dunklen Haaren und triumphierend-schadenfrohem Lächeln, das er mit lauerndem Blick jedem der Anwesenden schenkte, als suche er bereits jetzt, kaum dass sie angekommen waren, nach einem Grund, sie zur Strecke zu bringen. Augenscheinlich hatte er es im Kreuz. Zumindest hätte Jeremias es im Kreuz, wenn er so krumm und schief herumlaufen würde. Trotz dieses Leidens erweckte er bei Jeremias kein gesteigertes Mitgefühl. Der Herr war ihm unsympathisch. Jeremias' Aufmerksamkeit wanderte jedoch schlagartig zurück zur anderen Seite, denn Professor Dumbledore fuhr fort.

»Das Zaubern auf den Gängen ist in den Pausen untersagt. Ebenso wie das Hantieren mit magischen Gegenständen, sofern keine ausdrückliche Erlaubnis eines Lehrers vorliegt. Grundsätzlich verboten sind Zauberscherze wie fangzähnige Frisbees und bitte verschont unser Gemäuer mit Bubbles bestem Blaskaugummi. Sie sind in der Tat sehr schwer zu entfernen, was ihr feststellen werdet, solltet ihr euch an einer solchen Putzaktion beteiligen müssen. Das gilt ebenso für Schokofroschflecken und Viawine Gummis, für die es eine Verschwendung wäre, irgendwo anders als in euren Mägen zu landen. Die vollständige Liste der verbotenen Gegenstände kann in Mister Filchs Büro eingesehen werden.« Erneut richtete sich seine Aufmerksamkeit besonders auf die Gryffindors. Das schienen wahre Unruhestifter zu sein. Dabei hörte man sonst von Slytherin Schlechtes.

»Aber es gibt auch Erfreuliches zu verkünden«, berichtete er in plötzlich höchst enthusiastischem Tonfall und einem erwartungsvollen Funkeln in seinen Augen hinter den Halbmondgläsern. »Die Auswahlspiele für die Quidditchmannschaften finden in der zweiten Woche des Schuljahres statt. Wer sich dafür interessiert, möge sich gerne an Madame Hooch wenden oder ihr sprecht den Kapitän eures Hauses an. Zudem können sich bemühte wie talentierte Sänger bei Professor Flitwick melden, der für den Schulchor immer auf der Suche nach neuen Stimmen ist. Professor Sinistra bittet außerdem um Meldung, falls jemand Interesse am Koboldsteinverein oder am Zauberschachklub hat - die letzten Jahre haben wir nicht einmal ein Turnier zustande gebracht, was wir alle höchst bedauerlich finden.«

Dieses Bedauern war neben dem Schulleiter nur sehr wenigen Lehrern anzusehen.

Abermals ging ein Raunen durch die Hallen. Diesmal nicht getragen von der dunklen Aussicht, wie es wohl im Verbotenen Wald zugehen mochte, sondern interessiert und auch ein wenig verwirrt.

»Koboldstein?«, fragte Keaton. Er klang dabei so irritiert wie Oscar dreinblickte.

Ohne, dass er darüber nachgedacht hätte, antwortete Jeremias flüsternd: »Ist so 'was wie Murmeln, nur mit eckigen Steinen.« Ein Muggelspiel, das Onkel Max früher oft mit ihm gespielt hatte.

»Gogos!«, entfuhr es dem Eulenjungen begeistert.

Das wiederum war Jeremias unbekannt. Er kam jedoch nicht dazu, ihn auf die Konsequenzen einer verlorenen Partie hinzuweisen.

»Die Sänger unter euch«, machte der Schulleiter amüsiert auf sich aufmerksam, »können ihr Talent gleich hier und jetzt unter Beweis stellen. Bevor wir diese illustre Runde auflösen, singen wir wie zu Beginn jedes Jahres gemeinsam die Hymne der Schule. Jeder in seiner Lieblingsmelodie.« Mit einem Wink seiner Hand schossen goldene Linien aus der Spitze seines Zauberstabs. Sie kringelten sich in der Luft, bildeten so Buchstaben und Wörter, die vielen der Schüler hörbar bekannt waren.

Die Mutigen unter ihnen hatten bereits die ersten Töne angestimmt, kaum nachdem das erste Wort lesbar in der Luft erkaltet war. Manche schmetterten voller Inbrunst, andere murmelten eher verlegen, mit dem Ergebnis, dass Jeremias schwerlich ein Wort verstand.

Stattdessen versuchte er, sich auf die geschriebenen Zeilen zu konzentrieren.

Hogwarts, Hogwarts,
warzenschweiniges Hogwarts,
bring uns was Schönes bei,
ob alt und kahl oder jung und albern wir sehnen uns Wissen herbei.
Denn noch sind uns're Köpfe leer, voll Luft und voll toter Fliegen,
wir wollen nun alles erlernen, was du uns bisher hast verschwiegen.
Gib dein Bestes - wir können's gebrauchen,
unsere Köpfe, sie sollen jetzt rauchen!

Er las sie mehr vor, als dass er sang. Es fehlte die kindliche Freude, mit der der Hufflepuffs seinen Teil zu dem Lärm beitrug. Er fand auch nicht, dass sein Kopf voller toter Fliegen war und ein Gebäude oder eine Schule als warzenschweinig zu bezeichnen, war in seinen Augen albern. Gleichzeitig entging ihm keinesfalls der Spaß, den viele Schüler bei der Gesangseinlage zu haben schienen, und einen winzigen, kurzen Moment lang wünschte er sich, es genauso zu genießen wie sie, aber das war unmöglich. Einzig der Grundaussage der Hymne musste er zustimmen: Er wollte lernen.

»Der Zauber der Musik«, verkündete der Schulleiter verzückt, sobald die letzte Note verhallt war. »Ein ganz besonderer Zauber. Nun jedoch solltet ihr eure Gemächer aufsuchen, damit wir alle morgen frisch sind für den schnöden Tand, den wir ansonsten hier treiben.«

Also für die wirklich wichtigen Dinge, dachte Jeremias und erhob sich mit den anderen.

»Kanon, Elly, bringt ihr die Erstklässler runter?«, rief jemand an ihrem Tisch entlang. Er erntete ein doppelstimmiges Ja, nach dessen Quelle sich der Erstklässler gemeinsam mit seinen Mitstreitern umsah.

Aus der Richtung der Stimmen kam sogleich jemand mit strahlendem Lächeln auf sie zu. »Dann wollen wir euch mal euer neues Zuhause zeigen«, versprach er der Gruppe. Der strohblonde Kerl, der vor ihnen stehenblieb, machte einen tatkräftigen Eindruck. »Ich bin Kanon Ikin, Vertrauensschüler für das Haus Hufflepuff. Zusammen mit Connor.«

Neben dem hochgewachsenen jungen Mann tauchte just in diesem Moment eine junge Dame auf, die aussah, als wäre sie eine ältere Version von Portia. Sie lächelte warmherzig, war einen ganzen Kopf kleiner als Kanon, breit gebaut und hatte braune, unauffällig gewellte Haare. »Eleanore O'Connor, aber Connor genügt«, berichtigte sie Kanon keinesfalls vorwurfsvoll. »Von mir aus können wir.«

Damit gab Kanon das Startzeichen. »Folgt mir.« Beschwingten Schrittes ging er in Richtung der Flügeltüren.

Die Halle hatte sich in den wenigen Minuten, die seit der Verabschiedung vergangen waren, zu großen Teilen geleert. Geschirr und Essen waren unbemerkt von den Tischen verschwunden. Zusammen mit Keaton und Oscar, die noch immer ganz aufgeregt über das Erlebte tuschelten, lief Jeremias am Ende der kleinen Prozession, mit Ausnahme der Vertrauensschülerin, die den Schluss ihres Entenmarschs bildete.

»Macht euch keinen Kopf, dass ihr morgen die Unterrichtsräume nicht findet«, richtete Kanon von vorn an sie alle das Wort. »Am Anfang helfen wir euch ein wenig, euch zurechtzufinden. In den ersten Tagen ist es sicher verwirrend, aber mit der Zeit wird es leichter.« Er klang zuversichtlich.

Was an ein paar Gängen so verwirrend sein sollte, wurde den Erstklässlern wenige Augenblicke später bewusst, sobald der Vertrauensschüler an einer Rüstung stehenblieb, um dagegenzuklopfen. »Wir haben Glück«, verkündete er. »Peeves, unser Poltergeist, nervt meistens die Gryffindors, statt uns in die Quere zu kommen.«

»Die stehen aber auch drauf«, entgegnete Connor verhalten grinsend. Sie sprach gerade so laut, dass sie alle es verstehen konnten. »Manchmal ärgert er auch die Slytherins, aber eigentlich hat er vor dem blutigen Baron viel zu große Angst. Um auf Nummer sicher zu gehen, nehmen wir einen Umweg in den Keller.«

Mit großen Augen starrten einige Erstklässler – vor allem Oscar und Audie – die beiden Älteren an. Selbst als neben der Rüstung, gegen die Kanon geklopft hatte, ein Teil der Wand plötzlich im Boden verschwand und einen Durchgang offenbarte, regten sie sich kaum.

»Sind Poltergeister anders als die Geister in der Halle?«, fragte Oscar ängstlich. Die Spiegelbilder der Toten schienen ihm unheimlich zu sein, was ihm niemand verübeln konnte.

Connors warmes Lächeln wurde breiter. »Ach, halb so wild«, winkte sie zuversichtlich ab. »Erstmal weiter.« Sie scheuchte die Kinder in den von Fackeln erhellten Gang, der sich, kaum dass sie durch das Tor getreten waren, sogleich hinter ihnen verschloss. Da die Neuankömmlinge zu beschäftigt damit waren, sich über den Geheimgang zu wundern, konnte die Vertrauensschülerin die Frage in aller Ruhe beantworten. »Poltergeister sind keine richtigen Geister. Sie haben nie gelebt, sondern sind eine Manifestation des Chaos und des Pechs.«

Auch, wenn Jeremias Peeves noch nicht kennengelernt hatte, konnte er ihn jetzt schon nicht leiden. Chaos und Pech. Davon hatte er selbst genug. Wenn irgend möglich würde er versuchen, ihm aus dem Weg zu gehen.

Sie gingen eine schmale Wendeltreppe nach unten, an deren Ende sie eine Gabelung erwartete. Kanon wählte zielsicher den rechten Abzweig. Kurz darauf traten sie durch einen weiteren Durchgang, der hinter ihnen von einem Bild verschlossen wurde. Scheinbar waren sie auf einem der normalen Schlossgänge.

Durch ein hochgelegenes Fenster schimmerte silbriges Mondlicht hinein. Nachdem sie allerdings um die nächste Ecke gebogen waren, gab es keine Fenster mehr. Dem Mondlicht in der Dunkelheit der gemauerten Gänge wurde Jeremias sich, jetzt da es fehlte, erst richtig bewusst, trotz dass ihnen der flackernde Schein der Fackeln blieb.

»Das werde ich mir nie merken können«, murmelte Neva entmutigt. Sie fuhr sich unsicher mit einer Hand durch ihre schwarzen Locken.

Die hohe Stimme, die daraufhin ertönte, von der Jeremias befürchtete, sie könnte die Fledermäuse, die ganz sicher in diesem Gebäude hausten, womöglich gegen sie aufbringen, konnte nur Regin gehören. »Deshalb sind wir ja viele«, meinte er zuversichtlich. Er drehte sich im Lauf zu Neva herum. »Irgendwie kriegen wir das schon hin. Es muss sich ja jeder nur ein kleines Stück merken.«

»Morgen bringen wir euch zum Unterricht«, versprach Connor zwinkernd. »Ihr glaubt es jetzt vielleicht nicht, doch in einer Woche findet ihr überall hin, wo ihr hinwollt.«

Vorn an der Spitze des Trosses lachte Kanon. »Zumindest meistens.« Mit diesen wenig erbauenden Worten blieben er mit dem übrigen Zug im Gang stehen.

Hier war es Feuerschein, der den Flur in ein warmes, gemütliches Licht tauchte. Womöglich waren es aber auch die Bilder an der Wand, die Jeremias dieses Gefühl vermittelten. Geborgenheit. Malerische Landschaften, farbenfrohe Stillleben von Blumen oder Obst. Ruhe. In einer Nische lagerten diverse Fässer aus dunklem Holz, dessen warmer Farbton auf den sonst grauen, tristen Stein abfärbte, der durch den rötlichen Schein des Feuers versiegelt wurde. Wärme. Zudem kam er sich unter der niedrigen Decke vor dem Gewölbe, unter dem der große Stoß Fässer lagerte, nicht mehr so verloren vor.

»Passt jetzt besser gut auf«, mahnte Kanon sie und riss den jungen Schüler aus seinen Gedanken. »Um in den Gemeinschaftsraum zu gelangen, müsst ihr in einem bestimmten Takt gegen eines der Holzfässer klopfen. Es ist ganz wichtig, dass ihr euch den Rhythmus und das Fass genau merkt. Ansonsten kommt ihr nicht mehr allein in den Raum hinein. Für den Takt gibt es eine ganz einfache Eselsbrücke: Hel-ga Huf-fle-puff. Lang, lang, kurz, kurz, lang. Es ist wirklich ganz leicht. Ich bin sicher, ihr bekommt das hin.« Er schenkte der um ihn versammelten Runde ein weiteres zuversichtliches Lächeln. »Das Fass, an das ihr klopfen müsst, ist das zweite von unten in der Mitte des Stapels.« Gegen eben dieses wollte er sogleich klopfen, doch der Vertrauensschüler hielt inne. »Oder will jemand von euch?«, fragte er die Neuankömmlinge.

Sofort schoss eine Hand in die Höhe und mutig trat Laetitia einen Schritt vor. Iihre forsche, mutige Art war unverkennbar. Von hinten sah sie mit ihren kurzen Haaren tatsächlich aus wie ein Junge.

»Dann mal los«, sagte Ikin und trat einen Schritt beiseite.

Nun zögerlich streckte die Schülerin die Hand aus, besann sich. Dann klopfte sie gegen das Holz. Die dumpfen Schläge hallten von den Mauern wider. Ebenso wie das darauffolgende unwirklich laut klingende Knarren, dessen Ursprung die Kinder verunsichert suchten.

Sie reckten ihre Köpfe danach, bis der Deckel eines der Fässer links von Laetitia, das größte im gesamten Stapel, langsam aufschwang.

Zweite von unten, Mitte der Reihe, erinnerte sich Jeremias angestrengt und versuchte, die Faszination und Aufregung zu verdrängen. Es war wichtig, dass er diese Information bis morgen behielt, auch wenn sich die Müdigkeit allmälich bleiern über sein angeschlagenes Gemüt legte.

Kanon deutete eine Verbeugung an, mit der er ihnen den Weg in das Fass hineindeutete.

Argwöhnisch und gleichzeitig mit bewundernden Blicken traten die Erstklässler näher. Auch Jeremias konnte einen Blick ins Innere werfen. Pflastersteine bedeckten den Boden des Eichenfasses. Sie bildeten einen ansteigenden Weg. Eine Rückwand suchte man vergebens. Stattdessen führte der Pfad weiter. Zögerlich traten die Erstklässler ein.

Der Argwohn war der Ehrfurcht gewichen. Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, schauten sie nach oben. Risse zogen sich durch das Holz, durch welche warmes Licht fiel und den steilen Gang in einen dämmerigen Schein tauchte, der gerade genügte, um nicht über die eigenen Füße zu stolpern.

Es dauerte nicht lange, ehe es immer heller wurde. Eine Minute? Fünf? Jeremias war sich unsicher. Das hellere Licht kam von vorn. Es kündigte das Ende ihres Weges an. Er konnte es bereits erahnen, doch vor ihm blieben die anderen Schüler mitten im Gang stehen. Neben ihm reckte Keaton sich, um über die Köpfe hinwegzusehen. Er wusste, dass er selbst es gar nicht erst zu versuchen brauchte.

Bevor er sich einig wurde, wie er diese Erkenntnis bewerten sollte, hörte er Kanon, der mit Connor hinter ihm gelaufen war, rufen: »Geht vorn einmal durch, damit wir alle reinkommen!«

Dieser Aufforderung wurde sofort Folge geleistet.

Jeremias verärgerter Blick, als er in den hellen Raum trat, galt zunächst seinen Mitschülern, deren Augen vor Erstaunen funkelten. Erst dann sah auch er sich um und konnte nicht umhin, die aufflammende Bewunderung wenigstens in Ansätzen zu teilen.

Die Wände waren halbhoch mit hellem, robustem Holz getäfelt, das gelblich schimmerte. Es sah keinesfalls schmutzig oder angelaufen aus, sondern strahlend glänzend wie Honig. Darüber erhob sich eine graue Ziegelwand, die im Schein der warmen Beleuchtung ganz sicher kein Mahnmal der Tristesse darstellte, sondern mit der Dunkelheit, die sie verströmte, den Raum gemütlicher wirken ließ. Ganz oben, knapp unter der Decke, eingefasst von hölzernem Fachwerk, gaben runde Fenster den Blick in die finstere Nacht frei, die zu dieser Stunde lediglich aus Schwärze bestand.

Anders als auf den vielen Regalbrettern an den Wänden, auf denen kleine Töpfe mit Pflanzen standen. Sogar von der Decke hingen tönerne Gefäße mit Farnen, Gräsern oder Kletterpflanzen, die herunterwuchsen oder mittels der Aufhängung der Schwerkraft trotzten.

Die Tische, die darunter vereinzelt im Raum standen, größere lange, wie kleine runde, mit ihren Stühlen, waren aus demselben Holz wie die Vertäfelung geschnitzt. Sie machten genauso einen robusten Eindruck, nicht sonderlich fein gearbeitet. Wenn die Schnitzereien, die in einige Lehnen eingearbeitet waren, auch grob waren, ließen sich die Motive dennoch erkennen und waren mit schlicht einfach falsch beschrieben.

Das galt genauso für den Kamin, in dessen steinernen Rahmen Ornamente geschlagen worden waren, unter anderem zwei Dachse – das Symbol des Hauses. Über der Feuerstelle hing das Porträt einer älteren Dame. Wie alt genau sie war, mochte Jeremias nicht schätzen. Bestimmt mindestens so alt wie seine Mutter. Lächelnd hielt sie einen goldenen Kelch in die Höhe. Ihr Lachen passte wunderbar in diesen Raum. Warm. Herzlich.

Entgegen jedes Vorhabens fühlte Jeremias sich wohl. Fast heimisch. Statt der Wärme durchfuhr ihn ein Stich: sein schlechtes Gewissen. Er durfte sich hier nicht wohlfühlen, während zuhause ...

Wütend zuckte eine der Flammen im Kamin just in diesem Augenblick besonders hoch. Der honigfarbene, gelbe Glanz des Holzes brannte ihm in den Augen, schlich sich auf seine Zunge und der eklig süße Geschmack zog seinen Magen zusammen. Steif senkte Jeremias seinen Kopf, woraufhin ihm die Schatten der Pflanzen auf dem Boden auffielen.

»Rechts geht es zu den Schlafsälen der Jungen«, riss Kanon Jeremias aus seinen Gedanken, »und links zu denen der Mädchen. Ihr seid sicher müde. Längere Erkundungen solltet ihr auf morgen vertagen.«

Kanon brauchte sich keinem Widerstand zu erwehren. Hier und da ein unschlüssiges Murren und doch bewegten sich die Schüler langsam in Richtung ihrer Schlafsäle, dem anderen Geschlecht ein flüchtiges »Bis morgen« zuwerfend. Es war ein langer Tag gewesen.

Kanon begleitete die Jungen durch die runde Tür, die, ebenso wie der Eingang zum Gemeinschaftsraum, dem Deckel eines Fasses nachempfunden worden war. Dahinter erstreckte sich der nächste Tunnel. Decke. Wände. Alles, bis auf den gepflasterten Weg, bestand aus lehmiger Erde. Wenn man überhaupt von Wänden sprechen konnte, denn der Gang war so rund wie die Tür, die in ihn hineinführte. Es war nicht dunkel, sonst hätte Jeremias schwerlich erkennen können, dass sogar Wurzelnetze stellenweise die Tunnelwände durchsetzten. Alle paar Meter durchbrach das Licht sprichwörtlich die Decke. Es fiel durch Löcher in der Erde, obwohl über ihnen ein ganzes Schloss liegen müsste.

»Ihr habt den ersten Schlafsaal«, eröffnete der Vertrauensschüler ihnen, nachdem er an der unschlüssigen Gruppe vorbeigegangen und neben dem ersten Abzweig stehengeblieben war. Er öffnete die Tür. »Zu den Waschräumen kommt ihr, wenn ihr direkt links geht«, fuhr er unbeirrt fort, während sich seine Schützlinge vorsichtig an ihm vorbeischoben.

Die Einrichtung des Saals war dem Gemeinschaftsraum ähnlich. Eine niedrige Holzvertäfelung, sowie die grauen Steinmauern dominierten das Bild. Allerdings gab es weniger Grün. Nur in den hohen Fenstern standen einzelne, kleine Pflänzchen, zwischen denen Jeremias Len entdeckte, der sich erstaunlich sicher auf dem für ihn eigentlich viel zu schmalen Sims hielt. Verdutzt starrte er auf die Neuankömmlinge herab.

Am Boden gab es sechs Betten, die ihr Lager für das nächste Jahr, mit Ausnahme der Ferien, sein sollten. Da waren also die ganzen Überreste der Fässer geblieben, aus denen sie die Türen geschnitzt hatten, dachte Jeremias spöttisch, denn die Schlafstätten waren augenscheinlich nichts weiter als längs halbierte Eichenholztonnen. Trotzdem sahen sie unglaublich bequem aus. Mit schwarz-gelber Bettwäsche waren Kissen und Decke bezogen. Sie machten den Eindruck, als hätte noch nie jemand dort genächtigt. Daneben fielen ihm die Vorhänge auf, die an jedem Bett angebracht waren.

»Will wer unbedingt ein Bett am Fenster?«, fragte Regin strahlend in die Runde. Niemand machte ihm einen der beiden Plätze streitig.

Den zweiten beanspruchte Keaton für sich, neben dem sich Oscar einquartierte.

Jeremias war nicht traurig, dass er eines der Lager nahe der Tür beziehen musste, da Eldary sich auf dem Bett neben Regin auf die Kante gesetzt hatte. Während die anderen noch miteinander sprachen, zog er schweigend seinen Schlafanzug aus dem Koffer.

Unter den Fenstern war eine Reihe mit Schränken angeordnet. Um seinen Koffer auszupacken hatte er am heutigen Abend keine Energie mehr, wie auch die anderen, die still wie er den Entschluss fassten, dass man sich auch am nächsten Morgen noch die Zähne putzen konnte. Trotzdem beugte er sich noch einmal zu seinen Sachen.

Hinter sich hörte er einen dumpfen Aufprall, der ihn erschrocken herumfahren ließ. Maunzend und ein wenig vorwurfsvoll stolzierte die graue Waldkatze mit erhobenem Haupt an ihm vorbei, um es sich auf seinem neuen Lager bequem zu machen.

Letztlich fand Jeremias, was er suchte und schob es in das niedrige Schubfach der kleinen Kommode neben seinem Bett, bevor er unter die leichte Decke krabbelte, was Len ihm gnädigerweise gewährte, und sich auf der Matratze niederließ. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf, während er in Richtung Decke schaute.

»Die Fischpastete war so unglaublich lecker!«, schwärmte Keaton, der gerade unter seine eigene Bettdecke schlüpfte.

»Glaubt ihr, wir bekommen mal Ärger mit dem Poltergeist? Ich find' das ja irgendwie gruselig. Ich mein, kommt der nachts hier rein?«, fragte Regin unsicher.

»Quatsch, das glaub ich nicht«, hielt Eldary dagegen. »Das hätte Kanon gesagt. Ich glaub, in den Gemeinschaftsräumen sind wir ziemlich sicher.«

»Aber vom Hausgeist will ich auch nicht geweckt werden«, gab Oscar teils amüsiert zu. »Wär' schon ziemlich gruselig.«

»Mann, hör auf! Sonst kann ich gleich nicht schlafen«, jammerte Regin. »Und ich schnarche, wenn ich Alpträume habe«, drohte er, was Keaton und Eldary zum Lachen brachte.

»Wir wissen ja, wie man Vorhänge zuzieht«, beschwichtigte Oscar ihn.

Inzwischen lagen sie alle in ihren Betten, aber Eldary überkam wohl doch noch das schlechte Gewissen. »Ich bezweifel, dass der Fette Mönch sich einen Spaß daraus machen wird, dich zu Tode zu erschrecken.«

»Mich hat er fast zu Tode erschreckt«, warf Oscar zweifelnd ein.

»Ja, aber du warst dabei wach«, entgegnete Eldary. »Jemanden im Schlaf zu überfallen, ist unfair. Und gleich in der ersten Nacht erst recht. Von daher wird schon nichts passieren. Frag ihn doch einfach morgen, ob er so etwas macht. Oder sag ihm, dass du das nicht willst. Der lässt sicher mit sich reden«, schlug er Regin vor, der ihn zweifelnd betrachtete, ehe er sich ergeben in seine Kissen fallen ließ.

»Klar. Diskussionen mit einem Geist zum Frühstück. Wieso nicht?«

»Gute Nacht«, wünschte Oscar in die Runde.

Die Jungen fielen mit ein.

Selbst Jeremias ließ einen »Gute Nacht"-Gruß verlauten, was die übrigen sichtlich überraschte. Vielleicht hatten sie kurzzeitig vergessen, dass er da war.

»Sagt mal, Jungs ...«, setzte Oscar zögerlich an.

Jeremias hoffte, dass es nicht wieder auf eine Gesprächsbeteiligung seinerseits hinauslaufen würde, doch plötzlich verlosch das Licht langsam und Dunkelheit legte sich über sie alle.

»Ach, hat sich gerade erledigt.«

Endlich erfüllte Stille den Raum und läutete den Beginn ihrer ersten Nacht in Hogwarts ein.
Kapitel 8: Geisterstunde by BlueScullyZ
Die Minuten flogen an ihm vorbei. Nächtliche Schatten, tausende Atemzüge, unzählige Gedanken. Die Dunkelheit hatte ihm jegliches Zeitgefühl geraubt. Dennoch war er überzeugt davon, kein Auge zugemacht zu haben. Zu sehr war er gefangen von den vielen Fragen, auf die er keine Antwort fand. Er konnte ihnen bloß eines erwidern; einen Satz, der sich tiefer und tiefer in sein Hirn grub: Er war in Hogwarts und Nicolas nicht. Er war hier und Nicolas nicht. Er war hier. Nicolas nicht. Immer schmerzhafter fraß sich die Erkenntnis in seine Brust. Mit der Zeit wurde er taub für den brennenden Schmerz. Als er sich mit einer Hand über die müden Augen rieb, wurde ihm klar, dass er kurz eingenickt sein musste. Sein Gesicht war tränennass, doch er hatte keinerlei Erinnerungen daran, geweint zu haben.

Verstohlen sah er sich um. Im fahlen Mondlicht, das durch die Fenster fiel, ließen sich die Umrisse seiner Mitbewohner nur vage erahnen. Die schienen friedlich zu schlafen. Etwas, worum er sie im Stillen beneidete.

Er schlug so leise wie irgend möglich das Deckbett beiseite. Das Rascheln des Stoffs zerfetzte die Stille wie ein dünnes Pergament, weshalb er sich prüfend umsah.

Niemand rührte sich.

Weiterhin vorsichtig richtete sich der Junge auf. Als es still blieb und selbst Len reglos verharrte, schwang er seine Beine über die Bettkante. Zielstrebig tastete er nach der Kommode. Er fand das glatte, abgegriffene Holz. Auf der Suche nach dem Objekt der Begierde strich er mit der Handfläche über das Schubfach. Der Laut, den seine Haut auf der rauen Oberfläche erzeugte, wurde vom Hohlraum der Kommode aufgenommen. Es klang so imposant, dass Jeremias befürchtete, selbst Keaton, der am anderen Ende des Raumes lag, könnte davon erwachen. Letztlich fand er, was er suchte, griff es sich hastig, stand auf und erstarrte prompt.

Über ihm war eines der Lichter angegangen. Das Herz des Jungen schlug plötzlich im Takt der Flügel eines Kolibris. Mühsam befreite er sich aus seiner Starre, ehe er den Kopf zu den übrigen Betten wandte.

Nichts. Hatten sie einen so tiefen Schlaf? Oder war er gefangen in einem Alptraum?

Er kam nicht dazu, diese Idee weiter zu verfolgen, denn erleichtert fiel ihm auf, dass es im Raum gerade hell genug geworden war, dass er den Weg zu den beiden Türen finden konnte. Es war kein warmer, heller Schein, sondern ein silbriger Schimmer. Eher, als leuchtete der Mond durch die Öffnung in der Decke, zu der Jeremias gebannt aufschaute. Der kalte Schimmer schwemmte die Hitze, die ihm vor Schreck ins Gesicht gestiegen war, beiseite.

Entschlossen umfasste er das Papier in seiner Hand und schlich zum Eingang des Schlafsaals.Auch wenn er die Spuren der Tränen in seinem Gesicht spürte, wollte er keineswegs in den Waschraum. Die verräterischen Zeichen wischte er mit dem Ärmel seines Schlafanzugs beiseite, während er mit der freien Hand die Tür zum Flur öffnete und so vorsichtig wie möglich hindurchschlüpfte.

Kaum war die Tür hinter ihm erschreckend laut ins Schloss gefallen, wurde es im Flur heller. Hier herrschte das übliche gold-gelbe Licht vor, das zunächst bloß zu erahnen war, dann allerdings mit jeder Sekunde zunahm. Jeremias lief ohne abzuwarten den Gang entlang. Hier brauchte er auf niemanden Rücksicht zu nehmen. So ließ er ebenso keine besondere Vorsicht walten, als er die letzte leise knarrende Pforte öffnete und kurz darauf hinter sich schloss.

Wie vermutet, war der Gemeinschaftsraum leer. In der spärlichen Beleuchtung ging ein wenig vom gemütlichen Charme, den Jeremias am Abend wahrgenommen hatte, verloren. Vielleicht fehlten die Menschen. Vielleicht war es so aber auch genau richtig. Denn so lag der Raum da, wie er sich fühlte: verlassen.

Abermals wischte der Junge sich mit dem Ärmel über die Augen, die lange aufgehört hatten zu tränen, und begab sich zu einem der kleinen Tische. Es kümmerte ihn wenig, dass der Stuhl beim Zurückschieben lautstark über den Holzboden schliff.

Über ihm wurde es heller, bis er mühelos sehen konnte. Außerhalb des Lichtkegels lag der Raum weiterhin in nächtlicher Düsternis, die Jeremias getrost ignorierte. Sein Blick klebte an dem Papier, das er in Händen hielt. Seine milder werdenden Züge zeugten davon, wie die Abbildung darauf seinen Geist in sich aufnahm, um ihn von hier fortzubringen.

Von der Fotografie lächelten ihn vier glückliche Gesichter an. Seine Eltern, Nicolas und er selbst. Das Bild war kurz vor Nicolas' Einschulung aufgenommen worden. Ganz lässig hatte der ältere Bruder seinen Arm um Jeremias gelegt, der schräg vor ihm stand. Unbekümmert strahlte er in die Kamera, als dachte er in diesem Augenblick nicht im Traum daran, was einmal sein könnte. Hatte er es wahrhaftig vergessen? War er wunschlos glücklich gewesen?

Jeremias' Aufmerksamkeit wanderte zum Abbild seiner selbst. Auch aus seiner Miene sprach die Freude, der Stolz. Doch worüber? Die Vorfreude, eines Tages selbst nach Hogwarts zu kommen? Der Stolz auf seinen Bruder? Beides klang so logisch. Er wusste, dass es stimmte, aber es war vergebens, sich diese Gefühle in Erinnerung zu rufen. Sie waren unerreichbar, wie fest in ihm verschlossen. Wie die Gedanken eines Fremden. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als noch einmal so zu empfinden; unbeschwert zu sein. Frei von den dunklen Schatten, die ihn in dieser Sekunde sprichwörtlich umgaben.

Zitternd holte der Junge tief Luft, ohne den Blick von der glücklichen Familie abzuwenden. Er war sich des Schmerzes bewusst. Die Vernunft gebot es ihm, zurück in sein Bett zu gehen. Er musste morgen ausgeschlafen sein, um seine Nachforschungen zu beginnen. Diese Erinnerung brachte Nicolas nichts und ihm selbst rief sie nur allzu lebhaft ins Gedächtnis, was er befürchtete zu verlieren. Doch das war undenkbar. Es war das bisschen Glück, das er gierig daraus zog. Das blasse Echo der schönen Tage, die für diesen einen, flüchtigen Augenblick ihm bar jeder Vernunft all den Schmerz sowie die Finsternis wert waren. So starrte er weiter auf das Lächeln der anderen, verlor sich darin, stellte sich dem wilden Sturm in seinem Inneren, in dem seine Angst auf das wehrlose Glück traf, in der blinden Hoffnung, die Zukunft für einen Sekundenbruchteil zu vergessen. Er wollte einfach glücklich sein – selbst, wenn lange nicht die Zeit dafür war.

Mit einem erschrockenen, heiseren Schrei fuhr Jeremias hoch. Etwas Kaltes hatte seine Schulter berührt. Nasse Kälte, die sich sanft unter die Haut grub, ohne wirklich da zu sein. Um ihn herum war es dunkel. War er eingeschlafen? Hecktisch sah er über seine Schulter und erschrak erneut, was einen zweiten erstickten Schrei zur Folge hatte, dessen Tonhöhe ein wenig an Regin erinnerte.

In silbrigem Glanz hing schwebend in der Luft ein Geist. Der Lebensschatten eines Verstorbenen. Der Fette Mönch, wie Jeremias nach einer Schrecksekunde erkannte.

Der Geist lächelte – anders als die Tillers auf dem Foto, das der Junge noch immer in Händen hielt, keinesfalls unbekümmert. »Verzeihen Sie, aber es ist doch ein reichlich unbequemer Ort für den Nachtschlaf«, sprach der Untote. Die Worte vertrieben den Schatten aus seiner Miene, der Jeremias ratlos zurückließ. Sein Gesichtsausdruck bekam etwas Warmherziges, als die Krähenfüße um die Augen des Mannes zutage traten.

»Ich ...«, wollte der Schüler sich rechtfertigen.

Beschwichtigend hob der Mönch die Hände, bevor Jeremias ausgesprochen hatte. »Schon in Ordnung. Ich bin nicht hier, um Sie zurechtzuweisen«, beruhigte er den Jungen augenzwinkernd. »Ich dachte nur, dass es sicherlich nicht Ihre Absicht war, hier die ganze Nacht bis zum Morgengrauen zu verweilen.«

Beschämt verbarg Jeremias so gut es ging das Foto unter seinen Händen. Er gab sich Mühe, seine Unsicherheit zu überspielen. Wie lange er hier wohl gesessen hatte?

Der Geist schien seine Gedanken zu erraten. »Wir haben erst kurz nach Mitternacht«, gluckste er. »Und die erste Nacht ist für viele besonders aufreibend.«

Der Junge räusperte sich und widerstand dem Drang, sich abermals mit dem Ärmel seines Schlafanzuges über die Augen zu wischen. Er spürte die getrockneten Tränen auf der Haut, die sich wie eine dünne Kruste auf seine Wangen gelegt hatten. »Ja«, brachte er leise hervor, um überhaupt etwas zu sagen. Schließlich war es irgendwie unhöflich, kompromisslos zu schweigen.

Beschwingt schwebte der Geist an ihm vorbei und ließ sich auf dem Stuhl gegenüber sinken. Da das Möbelstück an den Tisch herangeschoben war, ragte der Oberkörper des Mönches aus der robusten Platte. Augenscheinlich machte es ihm nichts aus. »Mit einem leeren Magen schläft es sich umso schlechter«, bemerkte der Untote mit wissender Miene.

Ertappt betrachtete Jeremias die Holzplatte vor sich umso intensiver, womit er von dem skurrilen Anblick des halbdurchsichtigen Körpers, der im Tisch steckte, abließ. Es war ohnehin unhöflich, zu starren, erinnerte er sich tapfer. »Hatte keinen Hunger.« Der Trotz in seiner Stimme überraschte ihn selbst. Schließlich entsprach es der Wahrheit. Wobei Appetit der bessere Ausdruck gewesen wäre, wie ihn seine Mutter früher immer erinnert hatte, wenn er und Nico geschworen hatten, unbedingt einen Nachtisch zu brauchen, um ganz bestimmt satt zu sein.

»Vielleicht aber jetzt«, entgegnete der Geist beiläufig. »Es ist schließlich niemand hier, der Sie beobachten würde. Sie könnten in aller Ruhe Ihren Gedanken nachhängen.«

Zaghaft schaute Jeremias auf. Im Großen und Ganzen mochte der Mönch Recht haben, aber es war ohnehin alles graue Theorie. »Das Essen ist längst vorbei.« Er schaute nach unten, um dem Geist auszuweichen, gleichzeitig kochte Ärger in ihm hoch. Damit hatte er indirekt zugegeben, dass sein Magen in der Tat mit seiner abendlichen Entscheidung alles andere als zufrieden war. Und mit der am Mittag. Und mit dem verschmähten Frühstück, das er mit der Ausrede, vor der Reise nichts herunterzubekommen, ausgeschlagen hatte. »Und Sie sind hier.« Das war der zweite Umstand, der den Vorschlag des Mönches gegenüberstand.

Zu Jeremias' Überraschung erklang mit einem Mal ein vergnügtes Glucksen. »Ich zähle nicht«, widersprach ihm der Geist amüsiert. »Ich bin tot.«

Konfus starrte der Zauberschüler seinen Gegenüber an. Was an dieser Feststellung so lustig sein sollte, erschloss sich ihm nicht. Oder doch? Irgendwie schon, aber er brachte es nicht über sich, in das Gelächter einzustimmen.

»Entschuldigen Sie«, sprach der Mönch verlegen. »Ich vergesse manchmal, dass dieser Umstand für gewisse Lebende sonderlich ist.«

Sonderlich war noch nett ausgedrückt, fand Jeremias, der sich ein sehr flüchtiges, höfliches Lächeln abrang. »Aber trotzdem sind Sie ja ...«

Schritte. Hinter ihm erklangen tapsige Schritte. Schlagartig verstummte der Schüler argwöhnisch und schaute sich um. Er erblickte eine kleine Gestalt im Eingang des Gemeinschaftsraumes.

Sogar er war größer. Nur sein Kopf war wesentlich kleiner als der jener merkwürdigen Kreatur. Mit großen, wahrlich riesigen Augen, groß wie Mandarinen, starrte das Wesen ihn an. Die fledermausartigen Ohren, die es so fest angelegt hatte, dass sie auf den ersten Blick gänzlich mit der kahlen Kopfhaut verschmolzen, ließen es aussehen, als befürchte es, Jeremias würde es gleich anfallen oder bei lebendigem Leibe zerfleischen.

Oder, dachte der Schüler, es hatte Angst vor Geistern. Er konnte nur Mitleid mit diesem knochigen Wesen haben, das dort in ein weißes Tuch gehüllt stand, auf dem von einigen Soßenflecken verdeckt das Hogwartswappen prangte.

In seinen mageren Händen hielt es einen Teller, von dem der Junge befürchtete, dass das Gewicht desselben die zierliche Gestalt zu brechen drohte.

Es war das erste Mal, dass Jeremias einen echten, lebendigen Hauselfen sah.

»Ah, Korbey!«, begrüßte der Geist den verschüchterten Elfen, der zaghaft zu den beiden heraufsah, während er sich zögerlich dem Tisch näherte.

»Das Essen, um das Ihr batet, Sir«, sprach der Elf mit piepsiger Stimme, die sogar höher klang als Regins, was Jeremias bis dahin für unmöglich gehalten hatte.Den Gedanken schob der Junge jedoch beiseite, als Korbey sich streckte, um das Gedeck auf dem Tisch zu platzieren, dessen Platte auf Höhe seiner Bleistiftnase war.

Ohne groß darüber nachzudenken, griff Jeremias den Teller und stellte ihn selbst vor sich ab.

Mit noch viel größeren Augen, sodass das Gesicht des Elfen aus fast nichts anderem mehr zu bestehen schien als dem Weiß seiner riesigen Augäpfeln, dem warmen Braun seiner Iris und dem halboffenem Mund, sah Korbey den Erstklässler an.

Jeremias bekam bei diesem entsetzten Anblick schlagartig das Gefühl, etwas grundlegend Falsches getan zu haben. Hilfesuchend schaute er zum Mönch herüber, in dessen Miene fortwährend ein breites Schmunzeln zu sehen war.

»Vielen Dank, Korbey«, sagte der Geist freundlich.

Das Wesen stand immer noch sprachlos da, während sein Gesichtsausdruck glücklicherweise milder wurde. Statt namenlosem Entsetzen, spiegelte sich nunmehr Verblüffung darin.

»Danke«, brachte auch Jeremias unbeholfen hervor. Dabei schenkte er dem kleinen, offensichtlich verschreckten Wesen ein aufmunterndes Lächeln.

Korbeys Augen wurden daraufhin kleiner, begannen dafür plötzlich vor Freude zu strahlen. Hastig verneigte er sich, wobei seine lange, spitze Nase beinahe seine Zehen berührte. »Zu Ihren Diensten, Mister«, ließ er feierlich verlauten. »Falls der Herr etwas wünscht – einen Nachtisch oder eine heiße Milch mit Honig oder vielleicht eine Wärmflasche für die Nacht – wird Korbey ihm gerne behilflich sein.« Überschwänglich sprudelten die Worte aus dem kleinen Elfen heraus.

Mit diesem plötzlichen Wandel hatte Jeremias nicht gerechnet. »Nein, danke, alles gut«, lehnte er perplex ab, was erneutes Entsetzen auf der Gegenseite hervorrief. »Es ist wirklich sehr freundlich, aber ich brauche gerade nichts«, schob er eilig hinterher. »Vielen Dank.«

Das half offenbar. Ergeben senkte der Elf sein Haupt.

»Danke, Korbey«, mischte sich der Geist nachdrücklich ein.

Der Hauself wandte sich zurück an Jeremias. Auf seinem Gesicht hatte sich ein flüchtiges, unbeholfenes Lächeln gebildet. »Sir, seine Familie kann nicht zufällig einen tüch...«

Als der Fette Mönch seine Stimme erhob, war ein ärgerlicher Unterton unverkennbar. »Korbey?«

Verbissen kniff der Genannte seine Lippen fest aufeinander, vollführte einen hastigen Knicks und eilte dann fluchtartig in Richtung Ausgang. Auf halbem Wege sah er verstohlen über die Schulter hinweg. Sein flehende Blick erweckte Mitleid bei dem Jungen.

»Entschuldige«, lenkte der Geist Jeremias' Aufmerksamkeit auf sich. »Korbey ist erst seit Kurzem hier. Sein Meister verstarb unverhofft. Die Freiheiten, die er hier genießt, sind ihm neu.«

Jeremias rief sich den flehenden Ausdruck des Elfen in Erinnerung, was Zweifel in ihm aufkommen ließ. Konnte Freiheit derart quälend sein?

Dem Fetten Mönch fiel diese Skepsis ganz offensichtlich auf. »Hauselfen richten ihr gesamtes Leben ihren Besitzern aus. Ihr Lebensinhalt besteht darin, ihren Meistern gute Diener zu sein. Sie erwarten keinen Dank und keine Bezahlung. Allein zu wissen, dass sie nützlich sind, reicht ihnen vollkommen. Sehr enthaltsame Wesen, diese Elfen. Manchmal fast schon ein wenig lästig, wenn es ihnen nicht enthaltsam genug ist.«

Der Junge zweifelte weiterhin. Dass Hauselfen Diener waren, wusste er, auch wenn es in seiner Verwandtschaft niemanden gab, der einen besaß. Besaß, dachte Jeremias. Korbey war ihm sehr menschlich vorgekommen. Keinesfalls wie ein Tier. Selbst über Len würde er nie sagen, dass er ihn besitzen würde. Konnte man also Hauselfen besitzen?

»Sie sollten etwas essen«, riss ihn der Geist aus seinen Gedanken. »Sonst wird es kalt.«

Erstmals sah Jeremias genauer auf den Teller. Er erkannte, dass es sich um genau jenen handelte, den er beim Abendessen hatte stehen lassen. Dennoch dampfte der Kartoffelstampf wie beim Festmahl, das seit Stunden vergangen war. Auf den zweiten Blick erschien ihm die Portion größer. Noch einmal schielte er herüber zum Geist, der ihn erwartungsvoll wie ein Koch ansah, als habe er das Gericht eigenhändig kreiert und warte nun auf das Lob zu seinem Meisterwerk. Mit der Einsicht, dass er nicht drumherumkommen würde, lud er sich den ersten Bissen auf die Gabel. Es schmeckte unverändert gut. Nicht zu fad, sondern ein wenig salzig, vom unverkennbaren Kartoffelgeschmack ganz abgesehen. Der Mönch enthielt sich glücklicherweise jeglichen Kommentars, während der Junge langsam seinen Teller leerte. Im Schatten der Wärme, die ihn erfüllte, folgte unaufhaltsam die Müdigkeit, die neben seinem Geist, auch seine Glieder schwer werden ließ.

»Sicher, dass Sie keinen Nachtisch haben wollen?«, erkundigte sich der Mönch fröhlich, als Jeremias den leeren Teller von sich schob.

Bestimmt schüttelte der Junge den Kopf. »Nein, danke, ich bin ehrlich satt«, gestand er, ohne lügen zu müssen.

»Gut«, meinte der Geist, über das ganze Gesicht strahlend. »Schließlich ist morgen Ihr erster Schultag. Der sollte nicht mit einem knurrenden Magen beginnen. Natürlich studiert ein voller Bauch nicht gern, aber ein gänzlich leerer ist ebenfalls keine Hilfe.«

Abwesend nickte Jeremias, ehe er verstohlen nach dem Foto griff, das er verdeckt auf den Tisch gelegt hatte. Er hob es gerade so weit an, dass er die Personen darauf erkennen konnte. Für sie musste er morgen alles geben. Da durfte er sich keinesfalls gehen lassen.

»So«, setzte der Fette Mönch nachdrücklich an und schwebte einen guten Meter in die Höhe, »und damit Sie morgen weder das Frühstück noch den Unterricht verschlafen, wäre es besser, Sie gingen nun ins Bett.« Zwar bemühte er sich um eine strenge Miene, doch seine Krähenfüße verrieten ihn. Wenige Sekunden später fügte er behutsam an: »Schließlich hätte Ihr Bruder von Ihnen ...« Weiter kam er nicht.

Jeremias, der den Stuhl gerade an den Tisch zurückschieben wollte, erstarrte. Es überraschte ihn kaum, dass der Fette Mönch wusste, dass sein Bruder nach Hogwarts gegangen war. Die Worte trafen ihn dennoch. Die wohlige Wärme des Mitternachtmahls wandelte sich in ein zorniges Inferno. Wütend zischte er dem Geist über sich zu: »Was ist mit meinem Bruder? Sprechen Sie nicht von ihm, als wäre er tot! Er ist nicht wie ...!« Nach Worten ringend und von seiner eigenen Lautstärke erschüttert hielt er inne. Er suchte verzweifelt nach etwas, das Beschreibung genug wäre, aber milder als das, was ihm zunächst in der ersten Wut in den Sinn gekommen war.

Vor ihm sank der Fette Mönch mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen gen Boden. »Wie ich?«, fragte er. Nicht vorwurfsvoll, nicht wütend, nein. Voller Verständnis waren die wenigen Worte.

In Jeremias tobte ein Chaos. Er weigerte sich, dass das Mitgefühl seinen Zorn in sich aufsog. Mit aller Macht hielt er an der Wut fest. Gleichzeitig schämte er sich. Es war keinesfalls seine Absicht gewesen, den Geist zu kränken. Er wollte ihm wütend die Stirn bieten, doch er schaffte es keine Sekunde, dem Mönch in die Augen zu sehen.

»Keine Sorge«, versuchte der Geist ihn zu beschwichtigen, »ich hatte Jahrhunderte Zeit, mich an diesen Gedanken zu gewöhnen.«

Die Überreste seiner Wut kochten abermals hoch. Es war nur ein kläglicher Funken, mit denen er die letzten ungesagten Worte doch laut aussprach: »Ich weiß, dass er nicht will, dass ich traurig bin oder mich ablenken lasse, aber ich bin es leid! Er ist ja sowieso nicht hier, also kann es ihn nicht stören. Wozu dann so tun?« Beim Anblick des Geistes überkam ihn die Reue. »Trotzdem war es falsch, das zu sagen.«

»Und dennoch hatten Sie Recht«, sagte der Fette Mönch streng. »Ihr Bruder lebt und es war falsch, in der Vergangenheit von ihm zu sprechen.« Aus der Miene des Verstorbenen schlug ihm weiterhin Wohlwollen entgegen, das einen kleinen, fast erloschenen Funken Zorn aufglimmen ließ.

»Und ich sorge dafür, dass das so bleibt«, hörte Jeremias sich sagen. Es war merkwürdig, es auszusprechen. Es klang unwirklich. Es war das erste Mal, dass er seinen Plan mit jemandem teilte. In seinen Gedanken hatte es viel einfacher geklungen. Nun schwebte das Gesagte wie eine unbezwingbare Mauer vor ihm, die es zu überwinden galt.

Die Freude war aus dem Gesicht des Fetten Mönches gewichen. Sprachlos schaute er sekundenlang auf den Erstklässler herab.

Sekunden, in denen Jeremias mit sich rang. Plötzlich krochen die Zweifel aus den dunklen Ecken seines Hirns hervor, die er in der Winkelgasse gehabt hatte. Konnte er das wirklich? Hatte er, ein unerfahrener Zauberanfänger, überhaupt eine Chance? Mühsam schob er sie beiseite. Er würde es schaffen und er würde seinen Bruder heilen. Trotzig hielt er an diesem Gedanken fest und stellte sich den Erwiderungen des Geistes, die er so fürchtete. Umso entschlossener schaute er zu ihm auf. Er durfte nicht zulassen, dass irgendwelche Argumente von Erwachsenen seine Willenskraft oder seinen Plan zerstörten.

Als sich die Mundwinkel seines Gegenübers hoben, zog sich Jeremias' Magen zusammen. Der matte, entschuldigende Ausdruck kündigte die Beschwichtigungen an, die er befürchtet hatte. Er harrte starrsinnig der Dinge, die da kamen.

»Es ist sicher ein lobendes Ziel, aber ...«

»Man muss an seine Ziele glauben«, schnitt Jeremias ihm ungeduldig das Wort ab. Mister Ollivanders Worte waren ihm gut im Gedächtnis.

Die Lippen des Geistes zuckten unschlüssig in die Höhe. »Sicher ist das wichtig, aber ...«

»Ich muss es versuchen!« Entschlossen hielt der Schüler dem schmerzhaft verständnisvollen Blick des Fetten Mönches stand. Er spürte, wie seine Augen erneut zu brennen begannen und seine Eingeweide sich qualvoll zusammenzogen. »Ich werde ganz sicher nicht einfach abwarten, bis es passiert. Ich kann das nicht!«, schluchzte er. Wütend fuhr er sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Er wollte nicht weinen, aber wen interessierte das schon? »Ich muss es wenigstens versuchen«, flüsterte er leise. Verzweiflung keimte in ihm auf, während er daran scheiterte, die Tränen, die auf seinen Wangen brannten, zurückzuhalten.

»In der Tat sollten Sie es versuchen«, hörte er den Mönch sagen.

Perplex sah Jeremias auf. Wenn auch die Tränen seine Sicht trübten, konnte er an der freudigen Miene erkennen, dass der Geist voller neuer Zuversicht war.

Der Mönch beugte sich zu ihm herunter, soweit es sein Bauch zuließ. »Es ist sicherlich keine leichte Aufgabe, aber wenn Sie es nicht versuchen, werden Sie es garantiert niemals schaffen.«

»Was?«, entfuhr es dem Jungen verwirrt. Der Geist hatte ihm doch zuvor widersprechen wollen. Woher der Sinneswandel?

Abermals verlor der Gesichtsausdruck des Untoten seine Sorglosigkeit.

Jetzt verstand Jeremias, was es war, das im Vergleich zu vorher anders war: Die Miene des Geistes spiegelte genau das wider, was Jeremias fühlte, wenn er das Foto in seiner Hand ansah. Wenn er sich an schöne Tage mit seinem Bruder erinnerte. Wenn er sich all das in Erinnerung rief, mit der Angst im Nacken, genau das verlieren zu können.

»Ich bin sicherlich der Letzte, der jemandem deshalb Vorhaltungen machen sollte«, gestand der Mönch. »Schließlich bin ich ein Geist. Ich bin bloß deshalb auf dieser Erde, weil ich mich der Hoffnung hingebe, dass ich eines Tages vielleicht noch einmal zum Kardinal ernannt werde, wie ich es zu Lebzeiten immer vorgehabt hatte.«

»Sie halten es nicht für bescheuert?« Jeremias war zu überrumpelt von dem unerwarteten Zuspruch, als dass er sich die Worte hätte besser zurechtlegen können.

»Aber nein«, bekräftigte der Geist seinen Zuspruch. »Ich habe Jahrhunderte erlebt. Was zu meiner Lebzeit alles als unmöglich galt und heute alltäglich ist, hätte ich niemals geglaubt, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte.« Seine Züge wurden ernster. »Nur geben Sie auf sich Acht. Es bleibt ein Versuch.«

Lahm nickte Jeremias. »In Ordnung«, brachte er heiser hervor, ehe er nochmals über die Spuren der versiegten Tränen wischte.

Der Geist erhob sich, schwebte mit ernster Miene einige Zentimeter über dem Boden und räusperte sich. Er hob den Zeigefinger, ehe er mahnte: »Sie sollten zusehen, dass Sie nun ins Bett kommen. Es ist bald ein Uhr.«

Bevor er ging, hatte Jeremias allerdings eine weitere Frage. »Mister ...« Fetter Mönch? Stolpersteine, wohin man schaute. »Entschuldigung, aber wie kann ich Sie nennen?« Nun waren es schon zwei Fragen, die ihm auf der Seele lagen.

Der Geist war in der Tat sehr leicht auf andere Gedanken zu bringen. In derselben Sekunde begann der zuvor so ernste Mönch zu strahlen. »Meinen Namen?«, fragte er freudig überrascht. »Nun, zu Zeiten meines Ablebens«, berichtete er mit stolzgeschwellter Brust, »nannte man mich Bruder Leofstan.« Er vollführte eine Verbeugung. Bei Korbey hatte es so leichtfüßig gewirkt. Sah man dem beleibten Geist zu, konnte man auf den Gedanken kommen, es handle sich mehr um eine sehr komplizierte Turnübung, so ungelenk sah es aus. Dennoch nicht weniger feierlich.

»Bruder Leofstan«, wiederholte Jeremias, kurz zögernd, ob er die zweite Frage ganz sicher stellen wollte. »Sagen Sie, wecken Geister Schüler am Morgen?«

Glucksend schwebte der Hausgeist unter die Decke des Gemeinschaftsraums. »Ein amüsanter Gedanke, aber nein. Sollte jemand beim Frühstück vermisst werden, würde ich wohl nach dem Rechten sehen. Dafür gab es bisher jedoch keinen Anlass. Die Schüler haben, solang ich mich erinnern kann, immer untereinander sehr gut auf sich Acht gegeben.«

Beruhigt nickte Jeremias. »Danke.« Wie er in dem Augenblick bemerkte, waren seine Mundwinkel in die Höhe gewandert.

»Und nun ab ins Bett«, sprach der Geist ein Machtwort und schwebte von der Decke herab auf ihn zu, ihn mit den Armen vorwärtstreibend. »Morgen ist schließlich ein wichtiger Tag.«

Ein Gähnen überkam Jeremias, als er sich zum Gehen wandte und zu den Schlafsälen trottete. Nun, da sein Zorn verraucht war, wurde er sich der Müdigkeit, die von ihm Besitz ergriffen hatte, umso bewusster. Seine Glieder waren wie Blei, was auch für seine Augenlider galt, die schwer wie Sandsäcke geworden waren. »Gute Nacht, Bruder Leofstan«, murmelte er, öffnete die Tür und trat in den Flur der Jungenschlafsäle.

Silbriges Mondlicht empfing ihn, als er in den Schlafsaal schlüpfte. Es blieb still und so hoffte er, niemanden geweckt zu haben. Auf Zehenspitzen schlich er zu seinem Bett, auf dem Len saß und ihn mit einem vorwurfsvollen Blick bedachte. Mit dem Zeigefinger vor den Lippen bedeutete der Schüler seinem Kater, still zu sein, in der Hoffnung, er verstünde es. Bevor er das Familienfoto zurück in die Kommode legte, versuchte er noch einen Blick drauf zu erhaschen, doch dunkle und noch dunklere Flecken ließen keinerlei Kontur erkennen. So blieb ihm nur die Erinnerung. Er verstaute das Bild wohlweislich ganz hinten im Schubfach, ehe er unter die angenehm kühle Decke krabbelte, woraufhin das Licht vollständig erlosch. Mit ihm verging auch die Müdigkeit, die Jeremias Sekunden zuvor zu übermannen gedroht hatte.

Nahezu augenblicklich rückte Len näher an ihn heran, eine Vorderpfote besitzergreifend auf seine Brust gelegt.

So lag er wach da und schaute über die Umrisse der anderen Betten hinweg, in denen sich niemand regte. Gleichmäßiger, leiser Atem war zu vernehmen oder vereinzeltes Rascheln der Bettwäsche. Jeremias wusste, würde er aufstehen und wieder hinaus in den Gemeinschaftsraum gehen, würde er die geballte Erschöpfung des Tages zu spüren bekommen, egal wie wach er sich in der Dunkelheit fühlen mochte. Es half nichts. Er würde auf den Schlaf warten müssen, der ihn irgendwann in das Reich der Träume entführen würde.

Ungläubig blinzelte er, als er im Bett neben sich zwei zur Decke gerichtete Augen erblickte, die das wenige Restlicht munter reflektierten.

Regin war wach. Als hätte er gespürt, dass Jeremias ihn bemerkt hatte, wandte sein Nachbar sich ihm zu. »Konntest du nicht schlafen?«, flüsterte er gerade so laut, dass Jeremias es verstehen konnte. Wenn er flüsterte, klang seine Stimme etwas tiefer. Oder es kam ihm deshalb weniger extrem vor, weil er noch Korbeys Sopran im Ohr hatte.

»Nein«, antwortete er auf Regins Frage. Das ließ sich nur schwer leugnen. »Du auch nicht?« Im Nachhinein war seine eigene Frage nicht weniger sinnlos.

Seinen Nachbarn schien das egal zu sein. »Nein«, antwortete er. »Hast du Heimweh?«

Die Sorge des anderen Jungen versetzte Jeremias einen Stich. Den ganzen Tag hatte er sich nicht mit den anderen unterhalten und nun fragte der Junge so etwas. Hatte er Heimweh? Sicherlich traf es nicht ganz zu. Er vermisste nicht einfach nur sein Zuhause, sondern sein Zuhause, wie es einmal gewesen war. Ein echtes Zuhause, keine zukünftige Gedenkstätte. »Ja«, flüsterte er in die entstandene Stille. Ja, in gewisser Weise hatte er Heimweh. »Und du?«

Bedächtig drehte Regin sich zu ihm herüber. Dabei stützte er sich auf seinen Ellenbogen. »Auch ein bisschen«, gab er zu. »Aber ich bin einfach mega aufgeregt, dass ich hier bin.«

Unter anderen Umständen wäre es Jeremias ebenso ergangen.

»Und ganz vielleicht habe ich ein bisschen Angst, dass der Fette Mönch heute Nacht vorbeikommt«, gab sein Nachbar letztlich kleinlaut zu.

»Keine Sorge«, flüsterte Jeremias ihm zu. »Ich hab ihn gefragt. Er erschreckt keine schlafenden Schüler.« Er vermutete, dass Regin ihn mit Argwohn musterte, jedenfalls verharrte er regungslos auf seinem Bett.

»Wirklich?«, hakte der Junge nach Sekunden der Stille skeptisch nach.

»Ja«, gab Jeremias leise zurück. »Versprochen.«

Vorsichtig legte Regin sich zurück auf sein Lager. »Danke«, flüsterte er, bevor er sich unter seiner Decke zusammenrollte und es still wurde.

Wenig später schlief auch Jeremias endlich ein.
Kapitel 9: Enttäuschte Erwartungen by BlueScullyZ
Am nächsten Morgen wurden sie aus dem Schlaf gerissen. Etwas oder jemand klopfte laut gegen die Tür. Müde blinzelten sie dem hellen Sonnenlicht entgegen, das den Raum durchflutete.

»In einer halben Stunde gibt es Frühstück«, rief jemand vom Flur her. Die Stimme klang älter. Bestimmt war es der Vertrauensschüler Kanon.

Beschwerden wurden keine laut. Den meisten schrieben ein breites Grinsen sowie leuchtende Augen die Vorfreude auf den heutigen Tag ins Gesicht. Niemand brauchte länger als eine Minute, um das gemütliche Bett hinter sich zu lassen. Schnell war das Waschzeug aus den Koffern gekramt, ehe die fünf Jungen im Waschraum verschwanden, um ihre Pyjamas gegen die schwarzen Umhänge samt Spitzhut einzutauschen.

Die aufgeregten Spekulationen über das Frühstück, die Ausstattung der Bäder sowie Überlegungen hinsichtlich des bevorstehenden Unterrichts, die zwischen den Erstklässlern entflammten, ignorierte Jeremias. Er überlegte, ob es sinnvoll war, seine Schulsachen zum Essen mitzunehmen, was er letztlich lieber bleiben ließ. Kanon hätte es ihnen gesagt, wenn sie etwas hätten mitnehmen sollen. Außerdem wusste niemand von ihnen, welche Fächer sie hatten. Alle Bücher wollte er nicht mit sich herumschleppen.

Zusammen gingen sie anschließend in den Gemeinschaftsraum, in dem die beiden Vertrauensschüler sie erwarteten. Len war ebenfalls zu sehen, wie er auf dem hohen Fenstersims, mit einigen Artgenossen sein Frühstück zelebrierte, ohne Jeremias eines Blickes zu würdigen. Ob Korby den Katzen das Mahl in der Nacht hingestellt hatte?

Erst jetzt fiel Jeremias auf, wie viele Hufflepuffs es gab, denn im Gegensatz zum gestrigen Abend waren sie nicht allein. Geschäftiges Treiben herrschte im Saal, der zuvor so riesig gewirkt hatte. Vor dem Kamin, in dem ein überschaubares, prasselndes Feuer entzündet worden war, unterhielten sich drei ältere Schüler angeregt. Weitere saßen an den Tischen, entweder in Gespräche vertieft, vor einem Zauberschachbrett oder mit der Nase in einem Buch. Allgemeines, lebhaftes Gemurmel erfüllte den Raum. Es ließ ihn einerseits sehr viel kleiner aussehen, als Jeremias ihn in Erinnerung hatte, aber auch geselliger.

Neben den vielen Fremden waren auch die Mädchen ihres Jahrgangs anwesend.

»Wunderbar«, rief Connor erfreut. Sie strich ihre braunen Wellen nach hinten, als sie die Erstklässler erblickte. Zuvor hatte sie sich mit einer Schülerin in ihrem Alter unterhalten. Jetzt kam sie zu ihnen herüber. »Dann haben wir ja alle Zeit der Welt. Wir bringen euch gleich in die Große Halle und hinterher hierher zurück, damit ihr eure Bücher holen könnt. Professor Sprout hat uns zwar heute Morgen eure Stundenpläne gegeben, aber lasst die Sachen besser erstmal hier. Ihr werdet ohnehin zu beschäftigt sein, um reinzuschauen. Es langt vollkommen, eure Schulsachen nachher zu holen.« Sie reichte jedem ein Pergament, das von sogleich begutachtet wurde.

Ebenso hielt es Jeremias. Kaum hatte er seinen Plan in den Händen, besah er sich den Tagesablauf, der von nun an seine Woche bestimmte. Der Unterricht würde für ihn mit Geschichte der Zauberei beginnen.

»Oh nein, gleich die erste Stunde mit den Slytherins«, stöhnte Laetitia leise.

Zustimmend nickten Regin und Eldary, während die Übrigen sich vornehm zurückhielten. Trotzdem schien ihnen diese Konstellation ebenso unheimlich.

»Wartet erst einmal ab«, beschwichtigte sie Connor. Wenigstens unternahm sie den gutgemeinten Versuch. »Jedes Haus hat seine Schwächen, aber auch seine Stärken.«

»Was sie damit sagen will«, mischte sich Kanon ein und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen einen der Tische, »ist, dass es überall Idioten gibt.«

Der vorwurfsvolle Ausdruck in Connors Gesicht, mit dem sie zu ihrem Kollegen herübersah, war Jeremias vertraut. Seine Mutter sah bisweilen seinen Vater so an, wenn dieser weniger streng war, als sie es von ihm erwartete. »So kann man es natürlich auch ausdrücken«, entgegnete sie zähneknirschend.

»Urteilt nicht vorschnell«, pflichtete Kanon ihr bei, was sie augenscheinlich versöhnte. »Uns halten alle für dumm. Das ist genauso falsch.«

»Wir haben heute echt mit jedem Haus zusammen Unterricht«, bemerkte Eldary erstaunt. »Verwandlung mit den Ravenclaws und danach Zauberkunst mit den Gryffindors.«

»Heißt das, wir lernen in Verwandlung so richtig uns zu verwandeln?«, fragte Keaton begeistert an die Vertrauensschüler gewandt.

Mindestens einer der beiden war über den Themenwechsel sehr froh. Es war nicht Kanon.

»Nein«, entgegnete Connor schmunzelnd. »Ihr fangt mit einfachen Dingen an. Ihr verwandelt Streichhölzer in Nadeln oder später Lauchzwiebeln in Kochlöffel. Die Verwandlung der eigenen Gestalt, sogenannte Animagi, lernen die Allerwenigsten.«

»Cool!« Statt darüber enttäuscht zu sein, strahlte Keaton mit dem ebenfalls muggelstämmigen Oscar um die Wette. Ob er bereits konkrete Pläne hatte, was er mit einem selbstverwandelten Kochlöffel anstellen würde?

Neben Connor stieß sich Kanon vom Tisch ab, an dem er gelehnt hatte. »Ich denke, es wäre gut, wenn wir losgehen. Dann haben wir alle Zeit der Welt«, schlug er vor. »Wenn ihr wollt, könnt ihr eure Stundenpläne erstmal in den Schlafsaal bringen. Dann könnt ihr eure Hüte gleich ablegen. Die werden nur zu besonderen Anlässen getragen. In fünf Minuten treffen wir uns vor dem Gemeinschaftsraum.«

Kurze Zeit später, nachdem sie alle ihre Hüte weggebracht hatten, standen sie versammelt vor dem Eingang. Niemand hatte getrödelt, denn niemand von ihnen war sich sicher gewesen, wie lang der Weg zum Ausgang durch den Tunnel am gestrigen Tag gewesen war.

Wie zuvor hatten die Vertrauensschüler auf sie gewartet und geleiteten sie über einen Flur, ganz ohne Geheimtunnel, in die Große Halle. Sie mussten den Kellergang entlanglaufen und dann nach oben, sofern die Treppen sich dazu herabließen, sie nach oben zu geleiten.

Zum Erstaunen und gleichsamen Entsetzen von Oscar und Keaton bewegten sich die steinernen Aufgänge ständig zwischen den Stockwerken oder veränderten begleitet von einem steinernem Scharren gar ihre Richtung, wenn Stein an Stein rieb. Auch, wenn seine Mitschüler ihre Scheu unauffälliger zeigten, blickten sie kritisch auf die Herausforderung vor ihnen. Von unten betrachtet war es überschaubar, schließlich mussten sie lediglich abwarten, bis eine Treppe zu ihnen nach unten kam. Was aber war, wenn man oben stand und sich plötzlich vor den eigenen Füßen ein Abgrund auftat? Wie sich zeigte, war das nicht das einzige Problem.

Auf halbem Weg hinauf stieß Oscar einen erschrockenen Schrei aus, der sie alle herumfahren ließ. Der stämmige Junge war in einer Stufe hängengeblieben, die sich urplötzlich nach unten abgesenkt hatte. Der Schrei war allen durch Mark und Bein gegangen. Vor allem aber hatte der Vorfall Oscars Vertrauen in die magische Architektur nachhaltig erschüttert. Vorsichtig prüfte er fortan jede Stufe, bevor er sein Gewicht darauf verlagerte.

Im ersten Stock angekommen folgten sie dem Flur gen Süden. Zumindest behauptete Kanon das. Danach bogen sie zweimal links ab, ehe sie sich in der Eingangshalle wiederfanden, von wo aus sie sogar selbst den Weg fanden. Wenig später nahmen sie am Tisch der Hufflepuffs platz, der sie trotz der wenigen Anwesenden mit allerlei Speisen willkommen hieß. Müsli, Cornflakes, Toast, Schinken, Bohnen und vieles mehr. Hier blieben keine Wünsche offen.

Durch die wenigen Schüler, sah der Saal noch gigantischer aus. Jene, die an den Tischen saßen, waren meist nicht viel älter als sie selbst. Die übrigen Hogwartsschüler trudelten kleckerweise ein, bis der hohe Raum von Stimmen, Geschirrgeklapper und später mit Eulenschreien erfüllt war.

»Ich werd verrückt!«, staunte Keaton. Über ihren Köpfen waren die ersten Vögel durch die hohen Fenster hereingeflogen, beladen mit Briefen, Zeitungen oder gar Paketen.

Grinsend fragte Laetitia: »Du hast doch eine Eule, oder? Die kann das auch.«

Eine Vorstellung, bei der Keatons Augen noch größer wurden, wodurch der Junge seinem Haustier erneut erschreckend ähnlich wurde. »Meine Mutter stirbt vor Schreck, wenn ich ihr einen Brief mit einer Eule schicke«, prophezeite er mit einem schelmischem Grinsen, das sich langsam in seinem Gesicht bildete.

Jeremias hingegen starrte auf seine gebackene Bohne, die er zuvor aufgespießt hatte. Auf halben Weg zum Mund war er erstarrt. Statt die Nacht zu nutzen, um einen späten Brief an seine Familie zu schreiben, wie er es hoch und heilig versprochen hatte, hatte er dagesessen und ein Foto angestarrt. Nun würde es einen Tag länger dauern, bis er von seiner Ankunft berichten konnte. Obwohl Schuldgefühle seinen Magen traktierten, zwang er den Bissen herunter. Appetit hatte er keinen. Eigentlich gehörten gebackene Bohnen zu seinen morgendlichen Leibspeisen, doch heute kamen sie ihm vor wie blutige Gedärme. Das gesammelte Fett auf der halbleeren Platte mit gebratenem Speck bereitete ihm allein beim Ansehen Übelkeit.

Seine Strategie: möglichst wenig darüber nachdenken und seine Portion herunterschlingen. Versiegelt wurde das Mahl letztlich mit einer trockenen Scheibe Toast, die er still vertilgte, während der Rest sich in Spekulationen zum heute stattfindenden Verwandlungsunterricht erging, wonach sie bereits beim Abendessen in der Lage sein würden, Mitschüler bunt zu hexen. Gleichzeitig schwoll die Geräuschkulisse in der Großen Halle immer weiter an.

Wie auf Kommando erstarb das Geplapper, als Kanon zu ihnen kam, um sie zurück in den Gemeinschaftsraum und anschließend zum Klassenzimmer zu bringen. Sie alle schoben eilig ihre Teller von sich und erhoben sich von ihren Plätzen, Blicke tauschend, die vor Vorfreude glühten.

»Aber geht ihr mal vor, ich komme nur mit«, meinte der Vertrauensschüler. Mit der Hand wies er den Jüngeren den Weg zum Ausgang der Großen Halle.

Die flammende Begeisterung war in manchen Gesichtern dem Argwohn gewichen.

Einzig Laetitia zuckte lässig mit den Schultern. »Klar.« Scheinbar frei von jedem Zweifel, schritt sie unbekümmert voran.

Jeremias, getrieben davon, sein Werk endlich zu beginnen, und Eldary folgten ihr, was die Übrigen überzeugte.

»Ah, Babysitter?«, fragte jemand auf dem Weg aus der Halle. Der ältere Junge war ihnen entgegengekommen. Aus welchem Haus er kam, war nicht zu erkennen. Wie jeder trug er einen schwarzen Umhang. Unverhohlen musterte er im Vorbeigehen den Vertrauensschüler der Hufflepuffs.

Kanon schüttelte bloß den Kopf und sagte, sie sollten weitergehen, aber als Jeremias sich zu ihm umdrehte, erkannte er, wie sich seine Gesichtszüge verhärteten.

Sie waren viel zu aufgeregt gewesen, um sich lange von dem Zwischenfall in der Großen Halle beeindrucken zu lassen. Schnell drehten sich die Gespräche wieder um Verwandlungen und magische Pflanzen sowie Tiere. Jeremias merkte, dass der ruhigste Platz bei Audie war, die mit einem schüchternen Lächeln der Gruppe folgte. Dass er sich zu ihr gesellte, quittierte sie mit einem zaghaften Ausdruck der Freude, den er mechanisch erwiderte.

Als sie an der ersten Gabelung zögerlich stehen blieben, kam sein Plan, sich zurückzuhalten, ins Wanken. Laetitia und Keaton hatten eine vage Vermutung, aber zu einem Ergebnis kamen sie mit ihrem »Ich denke links"-"Meinst du nicht eher rechts?"-Disput keinesfalls. Eine lange Minute lang hoffte Jeremias, dass er sich irrte, doch sie blieben unschlüssig wo sie waren.

»Wir sollten nach links gehen«, durchbrach er zur Überraschung seiner Mitschüler das Gespräch der beiden. Nicht, weil er Laetitia mehr vertraute als Keaton. Er hatte andere Gründe. »Man kann die Treppen hören.«

Vollkommen verdattert sahen die Kinder ihn an, während sie zeitlich dem entfernten, steinernen Kratzen lauschten, das nun, da sie schwiegen, deutlich aus der Ferne von links zu vernehmen war.

Es war unvermeitlich, dass sich seine Mitschüler an den nächsten zwei Gabelungen, an denen Laetitia unsicher war und auch Keaton oder Oscar ratlos schienen, an ihn wandten. Jeremias' Taktik, sich im Hintergrund zu halten, hatte sich damit erledigt. Er war froh, dass Kanon die Führung übernahm, nachdem sie ihre Schulsachen für den heutigen Unterricht geholt hatten.

Irgendwo im zweiten Stock – Kanon hatte den Teil des Schlosses als Ostflügel bezeichnet – blieben sie vor einer massiven, beschlagenen Holztür stehen. Die meisten Räume, an denen sie bisher vorbeigekommen waren, verfügten über einen ähnlich robusten Eingang.

Aus den Bogenfenstern gegenüber der Tür konnten sie einen Blick in den Innenhof erhaschen, in dem ein Kiesweg das spärliche Grün durchschnitt. Zwei Schüler hasteten über den Pfad. Ansonsten war er wie leergefegt, doch eine ihm wohlbekannte, weibliche Stimme, zog seine Aufmerksamkeit auf sich.

»Hier sind wir richtig«, verkündete Edwana McBride stolz der ihr folgenden Gruppe. Als sie prüfend hinter sich sah, wippte ihr blonder Pferdeschwanz.

Zumindest das Mädchen schräg hinter ihr, das in etwa dieselbe Größe hatte, aber einen noch bestimmenderen, wenn nicht sogar arroganten Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte, war ganz offensichtlich kaum überzeugt. Dabei schaffte sie es, trotz ihrer braunen Locken alles andere als locker auszusehen. Ein straff gebundener Dutt hätte perfekt zu ihrem Auftreten, den schmalen Lippen sowie ihrem analytischen Blick gepasst. Der Gesichtsausdruck, mit dem sie die Hufflepuffs musterte, war keinesfalls schmeichelhaft. »Sieht immerhin so aus, als hätten wir unsere Klassenkameraden für die nächste Stunde gefunden«, räumte sie ein. »Ob die vor dem richtigen Raum warten?«

»Ihr könnt nur ...!«

»Ein Vertrauensschüler hat uns den Weg gezeigt«, unterbrach Jeremias Laetitia, deren gereizter Tonfall nach Eskalation geschrien hatte, kühl. Bevor er es ausgesprochen hatte, verfluchte er sich für sein loses Mundwerk. Schon wieder hatte er die Aufmerksamkeit unbedacht auf sich gelenkt. Andererseits war eine lautstarke Auseinandersetzung nun einmal vollkommen unnötig.

Als Ergebnis seiner Einmischung lag das Interesse der Slytherins nun auf ihm. Dem Großteil stand die Frage auf der Stirn, wer er war oder ob man auf sein Wort etwas geben konnte. Zu Jeremias' großer Überraschung breitete sich auf dem Gesicht eines blonden Jungen eine Art höfliches Lächeln aus. Trotz genauem Hinsehen konnte der Hufflepuff keine Häme oder Spott darin erkennen.

Der größere Slytherin trat aus der Gruppe heraus und streckte ihm die Hand entgegen. »Upton Clay«, stellte er sich freundlich vor.

Auch wenn Jeremias versuchte, sich aus den Häusern nichts zu machen, überraschte ihn das zuvorkommende Verhalten. Sprachlos schüttelte er die Hand, während er in Gedanken den Haken an der Sache suchte, so dass er seinen eigenen Namen mit einiger Verzögerung hervorbrachte.

»Er ist okay«, ergriff McBride überraschend für ihn Partei, ehe sie sich direkt an ihren ehemaligen Mitreisenden wandte. »Zugegebenermaßen hatte ich irgendwie damit gerechnet, dass du zu uns kommen würdest.«

Erneut fiel Jeremias keine gute Antwort ein, weshalb er lediglich unschlüssig mit den Schultern zuckte. Es war ja nicht so, dass er irgendetwas dafür getan hätte, nach Hufflepuff zu kommen.

»Schön zu sehen, dass nicht jeder uns für das ultimative Böse hält oder tut, als hätten wir Schlotzkrätze«, fuhr Upton offensichtlich erleichtert fort.

Ein drahtiger Junge, der weiter hinten im Pulk der Slytherins stand, zuckte bei diesen Worten gelassen mit den Schultern. »Tja, so ist es eben an der Spitze. Einsam.«

»Ist es nicht etwas früh, sich als Spitze zu bezeichnen?«, entfuhr es Jeremias trocken. »Ihr hattet bisher keine einzige Unterrichtsstunde.«

Upton, der noch immer vor ihm stand, lächelte peinlich berührt. »Ich denke, es liegt in der Natur eines jeden Menschen, das Beste aus seiner Lage zu machen. Meint ihr nicht?«

Eine Friedensgeste, die auch bei Jeremias' eigenen Leuten kritisch betrachtet wurde. Jetzt war es von Vorteil, dass er McBride kannte, denn auch sie gehörte zu den wenigen, die sich damit scheinbar arrangieren konnten. Der zweite, auf den das zutraf, war überraschenderweise nicht Keaton.

Der muggelstämmige Eulenjunge sowie sein neuer bester Freund Oscar starrten ihn und Upton an, als hätten sie Hochverrat begangen, obwohl sie von den Rivalitäten der Häuser erst am Abend zuvor erfahren hatten.

Regins unbeholfenes Lächeln dagegen wirkte geradezu erleichtert.

»Sicher«, entgegnete Jeremias in die entstandene Stille. Bestimmt versuchte jeder das Beste in seiner Lage zu sehen. Dass die Slytherins meist zu den besten Schülern gehörten, war allgemein bekannt. Ungläubiges Schnauben unterbrach seinen Gedankengang jäh.

»Ob ihr wirklich so lieb und nett seid, werden wir ja sehen«, brummte Laetitia. Dass sie den Slytherins bloß so weit traute, wie ihr Zauberstab reichte, war damit klargestellt.

»Wenn ihr sowieso schon entschieden habt, dass wir verabscheuungswürdig sind, können wir uns die Mühe gleich sparen«, war McBrides Meinung zu dem Thema, die Jeremias dazu veranlasste, genervt die Augen zu verdrehen und die Tür anzustarren, in der Hoffnung, dieser Kinderkram würde ein schnelles Ende finden.

Bevor jemand die unschlüssige Stille durchbrechen konnte, die sich zwischen den Fronten breitgemacht hatte, öffnete sich plötzlich eben jene Pforte, die Jeremias eindringlich gemustert hatte. Einen flüchtigen Moment überkam den Jungen der Gedanke, ob sie sich deshalb geöffnet hatte. Natürlich vollkommener Quatsch. Oder?

»Zugegebenermaßen gehört zu einem friedlichen Miteinander, dass beide Parteien sich Mühe geben«, wandte Upton ein, was Laetitia, wie Jeremias aus dem Augenwinkel sah, mit einem höchst skeptischen Blick quittierte, ehe sie sich ebenfalls zu der Tür drehte.

Kaum, dass Jeremias den ersten Schritt darauf zuging, tat es ihm die Klasse nach und wandte sich dem Eingang des Unterrichtsraums zu.

Die Kammer, ein ziemlich passender Begriff für das schummerige Zimmer, war leer. Zwar fiel Sonnenlicht durch die beiden Fenster auf der linken Seite, in dessen Strahlen Staubkörner tanzten, doch die dunkle Holzvertäfelung schluckte nahezu jede Helligkeit, die es wagte, die Grenzen dieses Klassenzimmers zu überschreiten. Vier Reihen Schreibpulte, zwei je Reihe, standen ordentlich verteilt. Sie boten Platz für je zwei Schüler. Allesamt waren sie auf die beiden Stelltafeln hinter dem Lehrerpult ausgerichtet. Während die Hufflepuffs zunächst unschlüssig stehen geblieben waren, drängten sich die Slytherins an ihnen vorbei. Sie belegten zielstrebig die vorderen beiden Tische, sowie zwei der rechten, dunkleren Seite.

»Sind wohl lichtscheu«, flachste Eldary leise über die Schulter hinweg zu den Hufflepuffs, was Keaton und Oscar mit einem Glucksen untermalten. Selbst Regin, Laetitia sowie die zurückhaltende Neva schmunzelten.

Jeremias war es egal. Er schob sich an den anderen vorbei und ließ sich ebenfalls auf der rechten Seite in der dritten Reihe nieder. Schräg vor ihm saß McBride, die ihn mit einem wissendem Grinsen bedachte. Ein stilles Lob für seine Wahl, für das er nur ein Kopfschütteln übrig hatte. Wegen ihr hatte er sich dort nicht hingesetzt. Vielmehr war der Grund, dass er befürchtete, zwischen den quirligen Hufflepuffs ständig abgelenkt zu werden. Das war alles.

Wie um seine Ahnungen zu bestätigen, nahmen die beiden Muggelstämmigen, die sicherlich einiges zu besprechen hatten, nebeneinander Platz. Laetitia und Eldary setzten sich ebenfalls in die dritte Reihe, jedoch auf die linke Seite. Beide sahen fragend, mit unterschwelligem Vorwurf, zu ihm herüber, der allein saß und das Treiben der Klasse so gut wie möglich zu ignorieren versuchte. Da die beiden Mädchen, Audie und Neva sich, wie zu erwarten gewesen war, in die letzte Reihe verdrückt hatten, war es Regin, der sich mit schüchternem Lächeln neben ihn zwischen die Slytherins schob, die er mit unverhohlenem Unbehagen abwechselnd betrachtete.

Um ihm Platz zu machen, räumte Jeremias die Bücher, die er auf dem Tisch abgelegt hatte, schnell beiseite. »Sie werden dich schon nicht beißen«, brummte er seinem neuen Sitznachbarn zu.

Regin bemühte sich, weniger bekümmert auszusehen. Bei seinem kläglichen Versuch blieb es auch. Er verstaute seine Bücher unter dem Tisch, ehe er sich zu Jeremias herüberlehnte. »Was ist, wenn wir doch im falschen Raum sind? Hier ist ja niemand«, raunte er ihm leise zu.

Zugegebenermaßen fand es auch Jeremias merkwürdig, dass von dem Lehrer keine Spur zu sehen war. Die Tür schien sich von allein geöffnet zu haben. Genauso schloss sie auch sich wieder.

Alle wandten ihre Köpfe herum. In jedem Gesicht, das Jeremias verstohlen musterte, konnte er Unsicherheit erkennen, wobei manche es sehr gut verbergen konnten. Zwischen Audies schreckensweiten Augen und McBrides betont gelassener Miene lagen Welten. Jedenfalls war er nicht der Erste, der zu dem Schluss kam, dass es wenig zielführend war, eine geschlossene Tür anzustarren.

Ein spitzer Aufschrei lenkte ihre Aufmerksamkeit schlagartig zurück zur ersten Reihe, in der eine pummelige Slytherin mit rotblonden Haaren erschrocken Alarm geschlagen hatte, dann mit vor den Mund geschlagenen Händen verstummt war. Mehr außergewöhnliches, außer die erstarrten Mitschülerin, suchten sie vergebens. Das taten die übrigen ihr gleich und waren mindestens ebenso verblüfft.

»Ich fasse es nicht«, nuschelte Regin neben ihm. Zeitgleich mit Jeremias hatte er den Geist erblickt, der durch die Tafel hindurch in den Raum geschwebt war.

Vollkommen unbeeindruckt von der schreckensstarren Schar kam der Untote hinter dem Rednerpult zur Ruhe.

Regins Fassungslosigkeit hätte keiner Worte bedurft, denn sie war ihm in aller Deutlichkeit ins Gesicht geschrieben, in die weit aufgerissenen Augen, mit denen er das halbdurchsichtige Wesen vor der Klasse bestaunte. Jeremias war sich sehr sicher, dass seinem Tischnachbar die verstohlenen Blicke vereinzelter Slytherins entgingen, die diese ihm über die Schulter hinweg zuwarfen.

»Das ist schon das zweite Mal, dass du Recht hast«, raunte er dem Jungen neben sich zu. Ob sie alle sich daran erinnern konnten, wie sie gestern in dem kleinen Nebenraum zusammengepfercht gestanden hatten? Leider war jener Störenfried, der Regin für seine Frage, ob der Geist des Fetten Mönchs der Hauslehrer des Hauses Hufflepuffs wäre, abwesend. Jeremias war sich jedoch sicher, dass einige der Anwesenden diese Idee ebenfalls für schwachsinnig befunden hatten und nun eines Besseren belehrt wurden.

Das Gespenst ließ sich davon in keiner Weise beeindrucken. Aus einer Tasche, die wie er aus silbrigen Rauchschwaden bestand, zog er ein durchsichtiges Buch, das er vor sich ablegte, während er mit unbeeindruckter, ruhiger Stimme, ohne von seiner geisterhaften Lektüre aufzusehen, zu dozieren begann: »Nun, ein neues Schuljahr hat begonnen und ich heiße Sie an der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei willkommen. Mein Name ist Professor Binns, meines Zeichens Lehrer für die Geschichte der Zauberei. In meinem Unterricht werden Sie keine Zauberstäbe oder Kessel benötigen, da wir uns in Ihrer sehr nahen Zukunft den Fakten und Ereignissen der Vergangenheit zuwenden werden. Eine unverzichtbare Basis für Ihre Ausbildung zu reflektierten, umsichtigen und vernunftorientierten jungen Zauberern.«

Mit jeder Silbe, die den Mund des Geistes verließ, bereute Jeremias seinen Entschluss weniger. Es war ein Irrtum gewesen, dass Binns ruhig oder konzentriert zu Werke ging. Stattdessen war sein Vortrag derart monoton vorgetragen, dass das Wort Totlangweilig eine vollkommen neue Dimension erreichte. Seine Bemerkungen hingen trocken wie Staubwolken in der Luft, ganz gleich, wie wahr der Inhalt sein mochte. In Kombination mit dem Inhalt des Unterrichtsfachs eine mörderische Mischung, denn Jeremias fesselte an den zu erwartenden Litaneien absolut nichts. Was brachte ihm das Wissen über irgendwelche längst geklärten Konflikte? Vollkommen unnötiger Ballast.

»Wie üblich werden wir mit einem sehr einfachen Sachverhalt in die Thematik einsteigen, um es für Sie greifbarer zu machen«, fuhr der Geist unbeirrt fort. »Bitte holen Sie Ihr Geschichtsbuch heraus. Schlagen Sie die Seite einhundertdreiundfünfzig auf, um meinen Ausführungen zu den verschiedenen Völkern der magischen Welt besser folgen zu können.«

Der Rest der Klasse war sich offensichtlich uneins darüber, was sie von dem Professor der Zaubereigeschichte halten sollten. Fragende, zweifelnde Blicke wurden getauscht, andere wiederum, unter ihnen McBridewana und das Mädchen, das neben ihr saß, zeigten sehr gut, was sie vom Unterricht des Geistes hielten. Ihre Grimassen, mit der sie sich unter ihren Tisch beugten, um ihre Lehrmaterialien hervorzuholen, illustrierten gut, dass sie ebenso motiviert wie Jeremias selbst waren.

Ähnliches tat auch Jeremias, nur dass er sich nicht sein Geschichtsbuch griff, sondern den Stapel unschlüssig musterte, ehe er ein grünes Buch mit roten Intarsien, »Tausend Zauberkräuter und -pilze« von Phyllida Spore, auf seinen Tisch legte. Im Gegensatz zu Erzählungen über Trolle und Wichtel und wie sie sich mit Zauberern vertrugen, konnte er das, was in ihrem Kräuterkundebuch stand, wirklich gebrauchen. Zumindest hoffte er das. In den Ferien hatte er vorwiegend erfolglos in dem Werk für Verteidigung gegen die Dunklen Künste geblättert. Dazu, die übrigen Bücher zu begutachten, war er kaum gekommen. Das ließ sich hier offensichtlich sehr gut nachholen.

Noch bevor er es aufschlagen konnte, stupste Regin ihn von der Seite an. »Das ist das falsche Buch«, flüsterte er ihm zu.

Ob er da alleine draufgekommen war? Das freundlich-schüchterne Lächeln im Gesicht seines Sitznachbarn machte es Jeremias schwer, ihm bösen Willen zu unterstellen, weshalb er sich den bissigen Kommentar verkniff. »Danke, ich weiß.« Er schlug das Buch auf, während er sicherheitshalber prüfend in Richtung des Geister-Professors sah.

Neben ihm sah Regin verwirrt zwischen dem Lehrer und ihm hin und her. Er war offensichtlich überfordert, mit der Frage, was er nun tun sollte. »Aber ...«, flüsterte er einen Hauch energischer und gleichzeitig verwirrter Jeremias zu, der ihn mit beschwörendem Ton unterbrach.

»Ich schlag bloß schnell was nach«, zischte er seinem Mitschüler zu. »Pass du lieber auf, sonst kriegst du wegen mir Ärger.« Das war die netteste Entgegnung, die ihm eingefallen war. Am liebsten hätte er seinem Nebenmann gesagt, er solle sich um seinen eigenen Kram kümmern, aber das brachte er nicht übers Herz.

»Nun, da Ruhe eingekehrt ist, werden wir beginnen«, verkündete Professor Binns im unverändert monotonen Tonfall, der es Jeremias unvorstellbar machte, dem Mann länger als zwei Minuten zuzuhören, ohne ins Reich der Träume zu entfliehen. »Die älteste Zusammenkunft von ...«, begann der Geist zu, kam allerdings nicht weiter. Statt lediglich seine Rede zu unterbrechen, war er erstarrt, als er die Klasse gemustert hatte. Nun schaute er niemand anderen als Jeremias an.

Der Junge hielt dem Blick des Professors stand, doch sein Herz schlug ihm bis zum Hals und plötzlich fühlte sich seine Kehle an, als wäre das letzte Glas Kürbissaft statt wenige Minuten Tage her. Hatte der Lehrer von seinem Platz aus womöglich erkannt, dass das falsche Buch auf seinem Tisch lag? Waren die Tische verzaubert? Erkannten sie womöglich den Betrug? Unter seinem Umhang wurde ihm im Angesicht der durchschimmernden Gestalt, dessen Miene sich in verärgerte Falten legte, gleichzeitig heiß und kalt. Das Buch pulsierte wie sein eigenes Herz wild in seiner Hand.

»Nun, haben Sie eine Frage?«, erkundigte sich der Geist, aus dessen Tonlage zum ersten Mal so etwas wie eine Gefühlsregung herauszulesen war. Ganz offensichtlich war er über die Notwendigkeit einer Unterbrechung sehr unglücklich.

Jeremias' Kehle fühlte sich mit einem Mal noch ausgedorrter an, während er verzweifelt nach einer Erklärung suchte, so dass die Stimme hinter ihm ihn ruckartig herumschnellen ließ.

»Nein, Sir, aber ...«, setzte der Schüler hinter ihm entrüstet an. Der Slytherin saß allein in der letzten Reihe. Mit seinen braunen, zottigen Haaren sowie der unzufriedenen Miene, machte er keinen geselligen Eindruck.

Jeremias atmete erleichtert aus, sobald ihm klar wurde, dass der Lehrer gar nicht wegen ihm aufgehorcht, sondern der Junge hinter ihm aufgezeigt hatte. Sowohl das Herzklopfen als auch die plötzliche Hitze verzogen sich schlagartig. Zurück blieb ein Schatten des Schreckens, der ihn davon abhielt, sofort wieder in das Inhaltsverzeichnis seines Buches unter seiner zitternden Hand zu schauen. Sicherheitshalber wollte er das Gespräch abwarten, falls es überhaupt eines geben würde, da der Lehrer für Geschichte der Zauberei augenscheinlich andere Pläne hatte, als den Slytherinschüler ausreden zu lassen.

»Nun, wenn Sie keine Frage haben, Mister, dann würde ich es begrüßen, wenn Sie mir weiter zuhören würden. Die älteste Zusammenkunft ...«

»Aber Sir«, wetterte der Junge, der auf niemand Geringeren als den Hufflepuff vor sich deutete: Jeremias.

Der Beschuldigte, der keinen Schimmer hatte, was der Mitschüler ihm zur Last legen wollte, erstarrte erneut, dem brennenden Blick des Mitschülers ausgesetzt, der die altbekannte Unruhe in ihm aufflammen ließ. Da bekam er eine Ahnung, was sein Hintermann vorhatte. Er betete inständig, er mochte sich irren oder der Schüler würde es sich anders überlegen.

»Er hat gar nicht ...«, begann der Slytherin, den Jeremias stumm beschwor, doch bitte den Mund zu halten, was erstaunlicherweise tatsächlich geschah, weil Professor Binns ihm abermals ins Wort fiel.

»Ich wiederhole mich höchst ungern, aber wenn Sie keine Fragen haben, würde ich Sie inständig bitten, es zu unterlassen, den Unterricht zu stören. Sollte Ihr Mitschüler ein Problem haben, ist er sicherlich in der Lage, das selbst anzubringen. Für mich hat es nicht den Anschein, dass irgendwelche Unklarheiten bestünden. Gehe ich richtig in der Annahme?« Diesmal sah der Lehrer unmissverständlich zu Jeremias, der sein neuerliches Glück kaum fassen konnte.

Stumm, mit fortwährend trockener Kehle nickte Jeremias. »Alles gut, Sir«, antwortete er mit fester Stimme, die ihn selbst positiv überraschte.

»Wie erfreulich«, entgegnete Professor Binns, zur Bestürzung des Jungen hinter Jeremias. »Die älteste Zusammenkunft zwischen Zauberern und magischen Wesen ...« War den ersten Worten, die der Geist von sich gab, eine Spur von Freude anzuerkennen gewesen, wohl, weil er seinen Satz endlich vollenden konnte, verfiel er einen Lidschlag später in seine übliche Monotonie.

Trotzdem wagte Jeremias es nicht, in sein Buch zu sehen. Noch immer zitterten seine Hände. Außerdem spürte er die unnachgiebige Musterung seines Hintermanns in seinem Nacken. Auch McBride sah über ihre Schulter hinweg misstrauisch zu ihm. Er stand unter Beobachtung. Genau das hatte er vermeiden wollen. So lauschte er unfreiwillig den geleierten Ausführungen seines Lehrers. So viel Sinnvolles, das er in der Zeit hätte tun können und er vergeudete sie wegen der Missgunst irgendwelcher Neider. Der aufwallende Trotz war es, der ihn dazu anstachelte, langsam den Kopf zu senken. Fortwährend prüfend, ob jemand ihn im Visier hatte, schaute er sich um, doch kam seinem Ziel immer näher. Letztlich, nachdem bereits die Hälfte der Stunde um war und bestimmt die Hälfte der Schüler mit schweren Lidern oder ihrer Konzentration haderte, konnte er endlich das Inhaltsverzeichnis überfliegen, das leider nicht nach Nutzen der jeweiligen Kräuter sortiert war. Grundlagen der Aufzucht, Wachstumsbedingungen, Schädlinge und Krankheiten, Besonderheiten der verschiedenen Arten. Es würde eine Weile dauern, bis er herausgefunden hätte, welche der beschriebenen Pflanzen Heilkräuter waren oder welche er gepflegt ignorieren konnte. Beinahe war er froh, dass der Unterricht noch eine Weile andauerte.

Professor Binns stellte keine Fragen. Er sah die meiste Zeit seine Schüler nicht einmal an, sondern war voll und ganz in der Geschichte versunken, ja, geradezu verschmolzen. Es schien ihm vollkommen zu entgehen, was um ihn herum passierte, während er mühelos, aber genauso emotionsbefreit, über das berichtete, was er für wichtig hielt.

Leider war die Struktur des Lehrbuchs nur ein Teil dessen, was Jeremias bei seinen Nachforschungen bremste. Zwischenzeitlich sah er sich um, möglichst, ohne den Kopf zu bewegen. Der Lehrer war der zweite Faktor, weshalb es nicht so lief, wie geplant. Der dahinplätschernde Vortrag des Geistes, der sich weiter um das Zusammentreffen von Zauberern und Elfen drehte, prasselte in seiner Gleichförmigkeit der chinesischen Wasserfolter ähnlich auf ihn nieder. Es war unmöglich, völlig in dem Buch zu versinken. So vergingen die Minuten in dem halbdunklen Raum nicht halb so erfolgreich, wie er sich das vorgestellt hatte. Dass es seinen Mitschülern ähnlich erging, die sich die ersten beiden Schulstunden an einer Akademie für Zauberkünste wahrscheinlich vollkommen anders vorgestellt hatten, half ihm keinesfalls über die ernüchternden Minuten hinweg.

Als Professor Binns den Unterricht mit den Worten »Lesen Sie bis zur nächsten Stunde die Seiten hundertdreiundfünfzig bis hundertfünfundfünfzig. Fassen Sie die Ereignisse dieser wichtigen Zusammenkunft zusammen« beschloss, meinte der Junge ein kollektives, erleichtertes, sehr leises Seufzen zu vernehmen. Für wenige Sekunden konnte es die Menge scheinbar nicht glauben, dass ihrer Langeweile ein Ende gesetzt war, dann erfüllte das geschäftige Rücken von Bänken und Rascheln von Umhängen das Klassenzimmer, sobald die Schüler hastig ihre Bücher nahmen und ihr Heil in der Flucht suchten.

Jeremias dagegen ließ sich Zeit. Er las den letzten Satz über die Nautische Henne zu Ende – ein graziles Wassergewächs, das in der Nähe von Meermenschenkolonien siedelte. Es konnte zur Behandlung von Höhenangst verwendet werden und eigenete sich außerdem als Bindemittel für Pudding oder Soßen. Erst dann schlug er das Buch zu. In einem Anflug von Verfolgungswahn schob er es mittig in den Stapel, ehe er mitsamt seines Hab und Guts den Raum gemeinsam mit zwei Slytherinschülerinnen verließ.

Draußen warteten seine Klassenkameraden. Es war kein freudiger Empfang. Allen von ihnen war das Lächeln aus dem Gesicht gewichen. Stattdessen musterten sie ihn schweigend und offenbar ratlos. Erst, als die Tür hinter Jeremias zufiel, brach Laetitia das Schweigen.

»Du hast echt Glück gehabt«, sagte sie mit gesenkter Stimme, nachdem sie sich versichert hatte, dass die Slytherins außer Hörweite verschwunden waren. »Das hätte uns Punkte kosten können!«

Freudlos lachte Jeremias auf. Punkte, dachte er. So ein Kinderkram. »Hat es aber nicht.« Ohne eine weitere Verteidigung seinerseits wandte er sich ab, um zum nächsten Raum zu gehen. Seinetwegen brauchten sie hier keine Wurzeln zu schlagen. Neben der Tatsache, dass er keine Ahnung hatte, wohin genau sie mussten, hielt ihn einer seiner Mitschüler am Arm fest. Eldary, wie Jeremias feststellte, als er sich zu demjenigen umsah.

Die kleine Falte über seinen Augenbrauen ließ den Größeren unerwartet aufgebracht wirken. »Es wäre echt blöd, wenn wir gleich am ersten Tag Punkte verlieren würden«, unterstrich er Laetitias Einwand, die mit verschränkten Armen hinter ihm stand.

Jeremias verdrehte bei dem Anblick genervt die Augen. Da hatten sich zwei gefunden. »Wenn das eure einzige Sorge ist«, gab er mit gesenkter Stimme zähneknirschend zurück, »geb ich mir Mühe, sollten Hufflepuff jemals wegen mir Punkte abgezogen werden, die woanders rauszuholen.«

»Es wär gut, wenn du erst gar keine verlieren würdest«, brummte Laetitia verstimmt.

Zunehmend aufgebracht sah Jeremias aus schmalen Augen zu ihr und ließ Eldary, der direkt vor ihm stand, links liegen. »Warum? Weil du sonst vor deinem Bruder schlecht dastehst, oder was?« Die Worte taten ihm leid, bevor er sie ausgesprochen hatte, aber es war zu spät.

»Nein«, knurrte das vorlaute Mädchen, das den Vorwurf offenbar so persönlich auffasste, wie er gemeint gewesen war, »weil unser Haus sowieso einen schlechten Ruf hat!«

»Hey, wirf mir das vor, wenn ich den Notendurchschnitt irgendwann mal nach unten reiße, aber nicht nach der ersten Stunde«, entgegnete er, darum bemüht, trotz seines Zorns möglichst wenig verbrannte Erde zu hinterlassen.

»Na ja«, mischte sich plötzlich Keaton, wenn auch sehr zögerlich, ein, »man muss dazu sagen, dass die Stunde echt langweilig war.«

Die unerwartete Unterstützung verschlug Jeremias die Sprache.

Der Muggelstämmige, der neben ihm stand, sah unschlüssig zwischen den Parteien hin und her. Er war zartrosa angelaufen. Die plötzliche Aufmerksamkeit war ihm wahrscheinlich unangenehm. »Ich mein nur, ich hab nebenher die Seiten in dem Buch gelesen. Da stand exakt das drin, was Professor Binns erzählt hat.« Noch viel leiser, so dass man es nur mit viel Mühe verstand, fügte er kleinlaut an: »Ich hab selbst überlegt, ob ich mir zur nächsten Stunde einen Comic mitnehme, damit ich wach bleibe.«

Der letzte Kommentar brachte Oscar zum Grinsen, der sich jedoch wegdrehte, um nicht ebenfalls Laetitias Zorn auf sich zu ziehen.

Das aufgebrachte Mädchen mit den kurzen Haaren hatte sich allerdings so weit Jeremias das erkennen konnte beruhigt. »Auch wahr«, gab sie zerknirscht zu. »Vielleicht bin ich auch etwas geknickt, weil ich mir den Unterricht irgendwie spannender vorgestellt habe.«

Wie ein Pfeil schnellte plötzlich etwas auf Jeremias zu, der erschrocken einen Schritt zurückwich.

»Tut mir leid«, gestand Leatitia, die offenbar ehrlich um Frieden bemüht war ihm ihre Hand hinhielt. »Auch, dass ich mich aufgeführt habe, wie ein Quidditchkapitän.«

Erstaunt betrachtete Jeremias die Hand vor sich, ehe er sie kommentarlos ergriff. »Schon gut. Das passiert.« Er wusste eigentlich sehr gut, dass Laetitia seine geringste Sorge war. Es war unfair, sie anzublaffen. Trotzdem war sein Griff viel zu fest, sein Blick zu hart und seine Stimme zu kalt, um seine Mitschülerin von der Ehrlichkeit seiner Worte zu überzeugen. Das wusste er selbst.
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