Die Kinder Éomunds von Nadia

Die Kinder Éomunds von Nadia

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Dieser Tage hatten die Handwerksgilden in Edoras alle Hände voll zu tun. Die Schneiderinnen hatten den Auftrag erhalten Bettwäsche und Kleidung zu nähen, die Drechsler zimmerten ein Doppelbett nach dem anderen, um möglichst viele Schlafplätze für die Kinder bieten zu können. Auf dem Dach arbeiteten mehrere Handwerker daran, die losen Schindeln wieder zu fixieren und sämtliche Löcher zu stopfen. Der große Kamin im mittleren Hauptraum war gereinigt und zum Herd umgebaut worden. Mehrere Tische und Bänke waren davor aufgestellt worden, womit der Speisesaal so gut wie fertig war.

Éowyn half dem Töpfer dabei, das Geschirr aus dem Karren auszuladen, der seitlich vor dem neuen Waisenhaus stand. Sie war froh und dankbar, dass die Gilden und Handwerker teilweise bis in die späte Nacht daran arbeiteten, sämtliche Aufträge zu erfüllen.

Nach fünf langen Tagen war es geschafft. Aus den alten Handwerkshallen war ein Waisenhaus entstanden, das Betten für mehr als dreißig Kinder bot. Die Kammer rechts neben dem Speisesaal war für die Jungen vorbestimmt, die linke Kammer für die Mädchen. Der König hatte veranlasst, dass sich des Tags zwei Frauen um die Kinder kümmern würden und nachts würden zwei der Soldaten des Königs über sie wachen.

Die Kunde verbreitete sich schnell. Und so kam beinahe täglich eine neue Kutsche an, die verwaiste Kinder aus den umliegenden Dörfern brachten. Manche waren halb verhungert, andere schwer krank. Éowyn kümmerte sich um sie, so gut sie konnte und half den Ammen und Heilern bei der Versorgung. Manche Kinder waren bereits so schwach, dass sie ihre Suppen nicht selbst auslöffeln konnten. Und so fütterte Éowyn jene Kinder, deckte sie anschließend mit warmen Fellen zu, las oder sang ihnen vor.

Éomer bekam sie dieser Tage nur selten zu Gesicht. Er war jedoch stolz auf ihre Leistung, besonders unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Gríma ihr als Handlanger zur Seite gestellt worden war. Éomer hatte hin und wieder nach ihr gesehen, hatte dafür gesorgt, dass man Gríma im Auge behielt, damit dieser seiner geliebten Schwester nicht zu nahekam. Außer langen, sehnsüchtigen Blicken hatte Gríma es jedoch nicht gewagt, sich Éowyn zu nähern.

Die Wolken über Rohan brachten weiteren Schnee. Die Stadt auf dem Hügel lag unlängst unter einer dichten weißen Schneedecke begraben und wirkte friedvoll, beinahe wie verzaubert. Hier konnte Éomer durchaus vergessen, wie es in den umliegenden Landen zuging. Gerade zu dieser Jahreszeit trieben sich Orkbanden scheinbar besonders gerne durch ihre Ländereien, schlugen zum Teil ganze Herden von Wildpferden und rodeten Rohans Wälder.

Éowyn streichelte einem kleinen Jungen über das zerzauste Haar, nachdem sie ihm in ein frisches, wenn auch zu großes Leinenhemd geholfen hatte. Ihr Bruder stand am Eingang zur Schlafhalle der Knaben und beobachtete sie, ein sanftes Lächeln auf dem Gesicht. Der kleine Junge bedankte sich und drückte Éowyn herzlich. Erneut wuschelte sie ihm durch das nussbraune Haar und bemerkte schließlich ihren Bruder.

Sie trat zu ihm heran. „Hilfst du mir, die Kinder ins Bett zu bringen?“

Éomer schüttelte langsam den Kopf. „Ich würde gerne, aber ich muss selbst zeitig schlafen gehen. Théodred und ich brechen morgen vor Sonnenaufgang auf. Ich kam, um mich einstweilen zu verabschieden.“

„Du reitest schon wieder aus? Wann wirst du zurückkehren?“ Ungewollt schossen ihr Tränen in die Augen. Es war immer dasselbe. Jeder Abschied konnte ihr letzter sein. Jedes Mal fragte sie sich, ob er zurückkehren würde. Und wenn ja, ob tot oder lebendig.

Sofort zog Éomer sie in eine feste Umarmung und schmiegte seine Wange an ihr Haupt. „Ich hoffe, dass wir rechtzeitig zum Julfest zurück sein werden.“

Das Julfest zeichnete jene Tage aus, in denen die Menschen und zum Teil auch andere Völker Mittelerdes die Wintersonnenwende feierten – das Ende des vergangenen Jahres und den Beginn des kommenden. Stets gab es in der Nacht von Sonntag auf Montag ein riesiges Feuerwerk in Edoras, das man selbst in den entlegenen Gegenden Rohans zu sehen vermochte. So zumindest erzählte man es sich.

Éowyn war nie außerhalb Edoras‘ gewesen, um jene Erzählungen bestätigen zu können. Sie wollte zu jener Zeit auch niemals woanders sein. Die ganze Stadt wurde für das Julfest geschmückt, selbst die Bäume und Sträucher. In den Fenstern der Häuser standen Kerzen und es gab Essen und Trinken für alle. Es war die Zeit der Selbstlosigkeit und Nächstenliebe, in der es üblich war, vor allem die armen Menschen der Stadt zu beschenken.

„Du wirst sehen, ich bin zurück ehe du merkst, dass ich fort war“, flüsterte er ihr in das blonde Haar.

Daran zweifelte Éowyn, auch wenn sie mit dem Waisenhaus alle Hände voll zu tun hatte. Théoden hatte ihr diese große Aufgabe nicht umsonst zukommen lassen, doch davon ahnte das Mädchen nichts.

„Wenn dir Gríma zu nahekommt, sag es dem König. Er wird nicht zulassen, dass dir etwas geschieht.“

Allein seinen Namen zu hören, verursachte Éowyn eine Gänsehaut.

„Gebt auf euch acht und kommt unversehrt wieder“, bat sie ihn mit zitterndem Kinn und bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren, als sie auf und ihrem Bruder in die vertrauten braunen Augen sah.

„Versprochen“, lächelte Éomer, dessen Hände ihr Gesicht umrahmten. Seine Daumen streichelten über die Zartheit ihrer Wangen. Schließlich gab er ihr zum Abschied einen Kuss auf die Stirn und verharrte einen Moment länger mit den Lippen auf ihrer Haut als die Etikette erlaubte. Dann löste er sich und marschierte strammen Schrittes davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

Tinwald, ein Knabe von zehn Jahren, gesellte sich zunächst wortlos neben Éowyn und folgte ihrem Blick. „Wenn ich groß bin, will ich ebenfalls zu den Eored gehören.“

Sie sah zu ihm hinüber und lächelte, ehe sie nickte. Tinwald hatte weit größere Chancen als sie selbst. Als Mädchen konnte sie höchstens eine Schildmaid Rohans werden, niemals eine Hauptfrau. Nie zuvor hatte eine Frau die Eored angeführt, diese Ehre war den Männern vorbehalten.

Tinwald schnappte sich ihre Hand. „Liest du uns noch eine Geschichte vor?“

Abermals nickte Éowyn. Den Kindern abends vorzulesen, war zu ihrer liebsten Beschäftigung des Tages geworden. Der Stress und die Anstrengungen des Tages waren dann endlich vorbei, in der Stadt wurde es still, in den Hallen und Kammern warm und gemütlich.

„Liest du uns die Geschichte des Untergangs Númenors vor?“

Diesmal verneinte das Mädchen und schüttelte den Kopf. „Ich habe gestern eine andere Geschichte in der Bücherei gefunden. Die wird euch ganz sicher gefallen. Darin geht es um einen Königreich der Zwerge, das weit nördlich von Rohan liegt, und einem gefährlichen Drachen.“

„Zwerge sind habgierig und …“

Éowyn legte Tinwald ihren Zeigefinger auf die Lippen. „Nicht alle Zwerge sind gleich. Unter ihnen gibt es auch wahrlich große Helden.“ Sie musste Tinwald nicht erzählen, dass ein paar der Schmuckstücke, die der König ihr bisher geschenkt hatte, von Zwergenhänden geschaffen waren. Zwar hatte Éowyn noch nie einen Zwerg gesehen, doch mochte sie die Geschichten und Legenden, die von ihnen erzählten. Einzig seltsam fand sie, dass Zwerge keine Frauen hatten. Éomer hatte ihr einmal erzählt, Zwerge würden aus Erdlöchern und Berghöhlen kriechen und praktisch erwachsen zur Welt kommen. Die einzige Liebe, die Zwerge kannten, war die Liebe zu edlen Metallen und Juwelen. Der Gedanke betrübte Éowyn seit jeher.

Tinwald wagte es nicht ihr zu widersprechen und ließ sich bereitwillig von ihr zu seinem Bett begleiten, wo sie ihn zudeckte. Dann nahm sie auf dem Stuhl Platz, der unweit der Tür zum Schlafsaal stand, zog ein kleines, halb zerfleddertes Büchlein unter dem Rock hervor und begann bei Kerzenschein, den sieben gespannten Jungen die Geschichte um den Einsamen Berg Erebor vorzulesen.

~

Sie pustete die Kerzen aus und schob das Büchlein unter ihren Rock zurück. Ein paar der Jungen riefen ihr noch eine gute Nacht zu, ehe sie sich zurückzog. Im Schlafsaal der Mädchen war es bereits dunkel. Elfrun hatte den Mädchen ebenfalls eine Geschichte erzählt, wie Éowyn wusste. Wohl aber eine, die von der Entstehung Mittelerdes handelte. Das Mädchen wusste nur zu gut, wie gerne Elfrun diese Geschichte erzählte, hatte es diese doch selbst schon so oft gehört, dass es sie ebenfalls auswendig hätte wiedergeben können.

Zwei alte Männer saßen am Feuer beim Kamin und wünschten ihrer Herrin ebenfalls eine erholsame Nacht. Sie waren die Nachtwache. Männer, die zu alt oder auch zu krank waren, um noch mit den Eored auszureiten und in Rohan nach dem Rechten zu sehen. Als Nachtwache des Waisenhauses hatten sie wenigstens noch eine kleine, wenn auch weniger rühmliche Aufgabe. Sie hatten ihr Leben oft genug für Rohan riskiert und das Volk beschützt. Éowyn fand, dass sie sich einen ruhigen Lebensabend verdient hatten.

Das Mädchen zog den samtenen Umhang eng um die zierlichen Schultern, sobald es vor die Tür trat, und setzte die dazugehörige Kapuze auf. Es war eine sternenklare, windstille Nacht, aber sie war bitterkalt. Der Schnee, der die Stadt bedeckte, glitzerte sanft im Schein der Sterne. Éowyn atmete tief durch und stieß eine kleine Wolke warmer Luft aus als sie ausatmete.

„Meine Herrin …“

Sie erschrak fürchterlich und fuhr zu der Stimme herum, die wie aus dem Nichts hinter ihr erklungen war. Es war niemand anderes als Gríma, der aus den umliegenden Schatten trat und sich zu ihr begab.

„Verzeiht, Herrin, ich wollte Euch keine Angst machen. Ihr solltet zu so später Stunde nicht allein durch die Stadt gehen.“

In Edoras war noch nie etwas Schlimmeres geschehen als ein kleiner Diebstahl hier und da. Meist begangen von den ärmsten unter den Armen. Sie hatte keinen Grund sich zu fürchten – außer vor Gríma selbst. „Ihr solltet längst in Eurer Kammer sein und schlafen, oder dem König Rat erteilen, oder was immer Ihr sonst tut. Ihr habt mich in der Tat erschreckt! Dabei bin ich vermutlich nirgendwo in Rohan so sicher wie hier in Edoras.“

„Ihr habt vollkommen recht, Herrin. Vergebt mir meine Gedankenlosigkeit. Ich habe mir lediglich Sorgen um Euer Wohlbefinden gemacht. Erlaubt mir, Euch in die Goldene Halle zu begleiten.“ Er senkte sofort den Blick, um dem ihren zu entgehen. Der Zorn, der so manches Mal in ihren Augen aufblitzte, jagte ihm angenehme Schauer durch den Körper. Sie besaß ein inneres Feuer, dessen Hitze er nur allzu gerne verspüren würde. Doch nicht jetzt, sie war noch zu jung, aber in guter Zeit, wenn sie reif genug war.

„Von mir aus. Aber ich verlange von Euch, dass Ihr damit aufhört, mir aufzulauern.“

„Gewiss“, erwiderte er untertänig und verneigte sich tief vor ihr. Er konnte ihren strengen Blick deutlich auf sich ruhen spüren, ehe sie ihren Weg fortsetzte und den Berg hinaufging. Gríma folgte ihr in gebührendem Abstand von ein paar Schritten, ließ sie jedoch nicht aus den Augen bis sie ihr Ziel erreichten, das Mädchen sich knapp verabschiedete und ihn vor der Goldenen Halle stehen ließ wie einen ungebetenen Vagabunden. „Eines Tages“, flüsterte Gríma, „wirst du mir gehören.“

Die Wärme, die in der Goldenen Halle vorherrschte, drang Éowyn sofort unter die Haut. Sie atmete erleichtert durch, jetzt, wo sie Gríma endlich los war – zumindest für diesen Tag. Ein paar Männer saßen noch mit dem König zu Tisch, tranken Met und unterhielten sich in gemäßigtem Ton. Éowyn ging hinüber zu ihrem Onkel und küsste seine Stirn. Er legte einen wärmenden Arm um ihre schlanke Gestalt und sie erlaubte sich einen Moment auf die Lehne seines komfortablen Stuhls zu sitzen, der mit einem prächtigen Hirschgeweih an der Rücklehne verziert war.

„Wie war dein Tag, meine Liebe? Wie geht es den Kindern?“

Sie schenkte ihm und auch den anderen Männern ein erschöpftes Lächeln. „Es war ein anstrengender, aber auch ein lohnender Tag. Bis auf einen kleinen Husten bei drei der Kindern, geht es allen gut. Sie werden sich bestimmt erholen, jetzt da sie wohlwollend von Euch betreut werden.“

„Nicht ich betreue diese Waisen, liebste Éowyn. Du bist es. Dir gebührt das Lob. Und ich bin sehr stolz auf dich. Du hast in dieser Woche sehr viel geleistet und härter gearbeitet, als ich es dir zugetraut hätte.“

„Auf Éowyn!“, rief einer der Männer aus und hob seinen Metkrug an. Alle übrigen, auch der König selbst, folgten seinem Beispiel.

„Auf Éowyn“, wiederholte der König, „die Barmherzige!“

Ihre Wangen begannen zu glühen. Sie war heilfroh, dass es halbdunkel in der großen Halle war und nur das Feuer im Kamin ihnen Licht spendete.

Fortan trug sie den Titel ‚die Barmherzige‘ in ganz Edoras. Besonders unter den armen Leuten wurde sie durch ihre Mildtätigkeit geradezu berühmt. Éowyn merkte zum ersten Mal in ihrem Leben, was sie bewirken konnte und dass es ihr ein gutes Gefühl gab, wenn sie anderen Menschen half. Ihr Leben schien endlich einen Sinn zu haben. Denn Hunger und Armut waren beinahe ein ebenso gefährlicher Feind, wie Orks und Bilwisse. Ihre Waffen waren lediglich andere. Und als sie dies erkannte, wurde sie endlich wieder fröhlicher.


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