Die Kinder Éomunds von Nadia

Die Kinder Éomunds von Nadia

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Der letzte Monat des Jahres war bereits zur Hälfte um, als die kleine Merwyn, der neueste Zuwachs im Waisenhaus, von einem heftigen Fieber befallen wurde. Merwyn war eine Bauerstochter und ein Einzelkind. Hauptmann Gamling hatte sie ganz zufällig halb erfroren hinter den abgebrannten Ruinen ihres Elternhauses gefunden. Éowyn hatte das kleine Mädchen, das gerade mal sechs Jahre alt war, aus dem Waisenhaus, wo es zunächst untergebracht worden war, in ihre eigenen Gemächer geholt, damit es die anderen Kinder nicht anstecken konnte. Zunächst war König Théoden dagegen gewesen, doch als sie ihm versprach, selbst vorsichtig zu sein und Abstand zu dem kranken Kind einhalten würde, da hatte er nachgegeben.

So kam es, dass Éowyn das kleine Waisenmädchen Tag und Nacht betreute. Sie machte ihm Wadenwickel, kühlte die Stirn mit feuchten Tüchern und legte zwei Kupferwärmflaschen, die sie immer wieder mit Schnee füllte, rechts und links neben Merwyn unter die Bettdecke. Das Mädchen zitterte am ganzen Leib, doch nicht wegen der Kälte, sondern vielmehr wegen des hohen Fiebers. Sie sprach unsinnige Dinge im Schlaf und rief weinend nach der Mutter, die niemals wieder kommen und nach ihr sehen würde.

Drei Tage und drei Nächte vergingen, bis der Fieberwahn des Kindes endlich nachzulassen schien. Éowyn hatte dieser Tage selbst nur wenig Schlaf gefunden, so dass sie schließlich vor Erschöpfung auf dem Stuhl vor dem Bett mit dem Kopf auf Merwyns Decke eingeschlafen war. Die kleine Hand des Kindes streckte sich mühsam nach dem blonden Haar seiner Herrin aus, streichelte über das Haupt und bedankte sich im Stillen für die Zuwendung. Dann tat die kleine Merwyn ihren letzten Atemzug und schlief wieder ein.

Als Éowyn erwachte, ruhte Merwyns Hand immer noch auf ihrem Haupt. Lächelnd nahm sie die kleine Hand in ihre eigenen und freute sich zunächst darüber, dass die Hitze endlich aus dem kleinen Körper gewichen schien. Nach einem Moment der Erleichterung erschrak Éowyn jedoch, denn sie sah, dass sich die Brust des Kindes nicht mehr unter seinen Atemzügen hob und senkte. Sofort wich auch die restliche Müdigkeit von ihr. Sie stand so ruckartig auf, dass der massiven Holzstuhl nach hinten kippte und polternd zu Boden fiel. „Merwyn!“ Sie rüttelte den kleinen Leib, wollte das Kind aufwecken. Sicher schlief es nur ganz fest. Es konnte nicht tot sein. Es ging dem Mädchen doch besser! Éowyn wurde ganz schwindelig vor Sorge um Merwyn. „Hilfe!“, schrie sie unter Tränen und eilte den Flur entlang und die Treppen hinab in die große Halle. Sie stolperte beinahe über die eigenen Füße und konnte sich gerade noch abfangen, ehe sie die Stufen hinabstürzte.

„Éowyn!“ Der König erhob sich mit sorgenvoller Miene von seinem Thron auf der kleinen Empore. Mit wenigen Schritten erreichte er sie und öffnete seine Arme. Sie taumelte in seine Umarmung und klammerte sich an ihm fest, weinte bittere Tränen in seine Brust. „Was ist geschehen?“

„Merwyn“, schluchzte Éowyn, „sie atmet nicht mehr.“ Der König verstärkte seine Umarmung, hielt ihren bebenden Körper und streichelte ihr über das wellige, blonde Haar. Die gut gemeinten Worte des Trostes kamen nicht bei ihr an. Wie war es möglich, dass sie Merwyn trotz aller Bemühungen verloren hatte? Sie hatte doch alles getan, was die Heilerin ihr geraten hatte. Sie hatte den Körper versucht zu kühlen, hatte ihr viel Flüssigkeit und warme Suppe eingeflößt und ihr vorgelesen. Warum war es ihr nicht möglich gewesen, ihr junges Leben zu retten?

„Vielleicht war die Sehnsucht nach ihren Eltern größer als ihr Wunsch weiterzuleben“, gab der König leise zu bedenken.

Éowyn weinte weiter in sein Hemd, bis sie keine Kraft mehr hatte und die Beine unter ihr nachgaben. „Mein liebes Kind“, flüsterte Théoden ihr ins Haar, ging in die Knie und hob sie auf seine starken Arme, „du wirst dich jetzt erstmal ausruhen. Deine Selbstlosigkeit in Ehren, aber fürs Erste ist damit Schluss.“

Die Männer in der Halle sahen dem König nach, der Éowyn die Treppen hinauftrug und ins Gemach ihres Bruders brachte. „Éomer wird es mir nicht verzeihen, wenn du dich selbst für andere aufopferst und dabei zugrunde gehst.“ Er legte sie behutsam auf dem großen Bett nieder und deckte sie fürsorglich zu.

„Ich habe versagt.“ Jedes ihrer Worte wurde von einem Schluchzen begleitet.

Théoden saß auf der Bettkante und betrachtete sie ernst. „Du hast nichts Falsches getan, meine Liebe. Du hast alles für dieses Mädchen getan. Das Fieber hat sie geholt. So tragisch es auch ist, da sie noch so jung war, der Tod dieses Kindes ist nicht deine Schuld. Du hast nicht versagt.“ Er strich ihr die Tränen mit seinen großen und rauen Händen aus dem Gesicht und küsste schließlich ihre Stirn. „Und nun schlaf, liebste Éowyn, und träume von sonnigeren Tagen.“

Kaum, dass der König Éomers Gemächer verlassen hatte, kuschelte sich Éowyn immer noch schniefend in die Kissen. Erst nachdem ihre Tränen versiegt waren und die Nase allmählich wieder frei wurde, nahm sie unverkennbar den Duft ihres Bruders wahr, der tief in seinen Kissen steckte. Sie presste ihr Gesicht hinein und atmete seinen Duft ein. Wie sehr sie sich doch wünschte, Éomer wäre jetzt bei ihr, um sie zu trösten. So wie er bei ihr gewesen war, als sie zuerst ihren Vater und schließlich auch die Mutter verloren hatten. So, wie er immer für sie dagewesen war.

~

Éomer saß beim Lagerfeuer und rührte nachdenklich mit dem Löffel in seiner Suppenschale herum. Ein paar der Männer um ihn herum sangen ausgelassen und scherzten miteinander, während der wolkenverhangene Nachthimmel über ihnen weiteren Schnee herabrieseln ließ und Éomer einmal mehr daran erinnerte, dass das Julfest immer näher rückte. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, seiner kleinen Schwester etwas zu schenken. Im vergangenen Jahr hatte er ihr einen silbernen Anhänger an einem Lederriemen geschenkt, der das Wappen der Eorl trug, einen Pferdekopf mit langer Mähne. In diesem Jahr war er etwas ratlos, was er ihr mitbringen konnte. Zumal er nicht einmal wusste, ob er rechtzeitig zum Julfest wieder in Edoras sein würde.

Hier, inmitten des fallenden Schnees, der Kälte und dem Lärm der Männer, vermisste er die Behaglichkeit der Goldenen Halle und die Sanftmütigkeit seiner kleinen Schwester. Er vermisste ihre großen Augen, wenn er ihr von den Orks und Bilwissen berichtete, die er zusammen mit Théodred erschlagen hatte. Sie wusste vermutlich, dass er manches Mal in seinen Erzählungen übertrieb und dass er die wirklich gefährlichen Momente, die sein eigenes Leben oft genug in Gefahr brachten, verschwieg.

„Wie geht es dem Arm?“ Théodred kam zu ihm herüber und ließ sich mit seiner eigenen Suppenschale neben seinem Vetter auf den Baumstumpf nieder. Die Sonne würde bald aufgehen, was bedeutete, dass sie für die nächsten Stunden etwas ruhen konnten. Orks waren Geschöpfe der Nacht und deshalb selten bei Tageslicht unterwegs.

Éomer betrachtete den notdürftigen Verband, der die Wunde an seinem linken Oberarm bedeckte. „Der Arm ist noch dran.“

Théodred nickte und begann seine Suppe zu löffeln. Es war eine fade Suppe, da sie nur noch wenige Vorräte und beinahe kein Salz mehr dabei hatten. Aber es war eine heiße Mahlzeit, die von innen heraus wärmte und guttat. „Du hast Glück, dass die Klinge nicht vergiftet war, die dich getroffen hat.“

Der Jüngere zuckte die Schultern. „Der Ork hat mich kaum berührt.“

„Dafür hat es aber erstaunlich stark geblutet“, merkte sein Vetter an. „Du scheinst mit den Gedanken woanders gewesen zu sein. Du muss dich im Kampf besser konzentrieren, Éomer.“

Als ob er das nicht wüsste. Was konnte er denn dafür, dass er der Kämpfe mit jedem vergehenden Tag müder wurde? Im Winter in Zelten zu schlafen und den Launen der Natur ausgesetzt zu sein, entsprach nicht unbedingt dem, was er sich derzeit wünschte. Selbstverständlich wollte er die Riddermark vor Orkgesindel und dergleichen beschützen, aber die weiten Reisen und die viel zu kurzen Ruhephasen dazwischen machten ihn zunehmend mürbe. Ganz besonders jetzt zur Winterzeit.

„Fragst du dich nicht auch manchmal, was die Orkbanden so weit in den Süden treibt?“ Éomer sah seinen Vetter fragend an. „Es werden mit jedem Jahr mehr, ihre Angriffe immer häufiger.“

„Ich frage mich viel eher, wie sie sich fortpflanzen. Hast du je einen weiblichen Ork gesehen?“

Éomer wollte sich gar nicht vorstellen, wie die Fortpflanzung bei solch abscheulichen Kreaturen stattfand. Selbstverständlich kamen sie von irgendwoher, aber er glaubte nicht, dass Orks auf natürlichem Wege entstanden. „Wahrscheinlich kriechen sie aus Erdlöchern.“

„Wie Zwerge, meinst du?“ Théodred hob belustigt eine Augenbraue.

Die Gemeinsamkeit gab Éomer zu denken. Wenn Zwerge und Orks gleichermaßen aus Erdlöchern schlüpften, entsprangen sie dann demselben Übel?

Théodred gab dem Jüngeren einen Schubs gegen die Schulter. „Nun zieh nicht so ein Gesicht.“

„Dann bring mich nicht auf derart unsinnige Gedanken. Jetzt habe ich vor Augen, wie sich Orks und Zwerge womöglich fortpflanzen oder auch nicht. Wen interessiert, woher sie kommen? Wichtig ist, dass wir sie zurücktreiben müssen. Sollen sie doch im Norden des Landes verhungern, wenn sie nicht zur eigenen Viehzucht taugen und sich auch sonst nicht behelfen können.“ Welchen anderen Grund könnte es geben, außer dem des Nahrungsmangels, dass die Orks sich zunehmend nach Rohan wagten, um dort Vieh aller Art zu reißen? Die armen Bauern, die versuchten, ihr Hab und Gut zu verteidigen, mussten meist mit dem Leben dafür bezahlen. Manche, so besagten es Gerüchte, wurden von den Orks verschleppt und versklavt, andere dienten in Notzeiten als Nahrung! Orks waren wahrlich abscheuliche Kreaturen und niemand wusste so genau, wie sie sich vermehrten. Nur, dass sie zahlreicher wurden, daran bestand kein Zweifel. Und sie bewegten sich südwärts …

~

Fünf Tage später passierten sie endlich Edoras‘ Haupttor. Die Bewohner der Stadt nickten den Eored zur Begrüßung zu. Éomer war nie glücklicher gewesen endlich wieder zuhause zu sein! Sein Hintern schmerzte von den vielen Stunden auf Feuerfuß‘ Rücken und sicher war sein geliebter Hengst heilfroh, wenn er sich im Stall ausruhen und frisches Heu fressen konnte. Durch die dicke Schneedecke, die über ganz Rohan ausgebreitet war, war es unterwegs manches Mal schwer gewesen, ausreichend Futter für alle Pferde zu finden.

Der Stallmeister nahm seinem Hengst den Sattel ab. „Ich werde ihn sofort abreiben und ihn versorgen, Herr.“

„Habt Dank, Cleowine“, nickte Éomer und übergab ihm Feuerfuß. Théodred kam bereits aus dem Stall heraus, nachdem er Brego hineingeführt hatte. Das eigensinnige Pferd ließ sich nicht einmal vom Stallmeister selbst striegeln. Es grenzte schon fast an ein Wunder, dass Éowyn sich dem Tier nähern konnte. Éowyn. Er konnte es kaum erwarten sie wiederzusehen. Beinahe drei Wochen waren inzwischen vergangen.

„Ich werde meinem Vater Bericht erstatten“, ließ Théodred sich vernehmen. „Geh du zu deiner Schwester. Wir sehen uns zum Abendessen.“

Das ließ sich Éomer kein zweites Mal sagen. Die Rüstung ablegen und sich mit warmen, anstelle von eisigem Bachwasser waschen zu können, danach sehnte er ihn jetzt. Doch zuerst ging er zum Waisenhaus, wo er seine kleine Schwester vermutete. Und tatsächlich, er fand sie vor dem Kamin in einem Schaukelstuhl sitzend und den Kindern eine Geschichte vorlesend.

„Und was ist dann passiert?“, fragte einer der Jungen, die Stimme voller Ungeduld.

„Es gelang Bard, dem Bogenschützen, den abscheulichen Drachen zu treffen“, fuhr Éowyn fort, die ihren Bruder noch nicht bemerkt hatte. „Der Schwarzpfeil traf in genau an jener Stelle, an der ihm eine Schuppe fehlte. Ohne diesen Schutzpanzer war selbst Smaug verwundbar. Mit einem animalischen, schmerzerfüllten Aufschrei schoss er weit hinauf in den nächtlichen Himmel, um dann leblos auf die Seestadt hinabzufallen.“

„Ha, das geschieht ihm recht!“ Es war derselbe Junge, der schon zuvor gesprochen hatte.

„Habt Ihr schon einen Drachen gesehen, Herrin?“, wollte eines der Mädchen wissen.

Éowyn schüttelte ihren blonden Kopf. „Zum Glück nicht. Drachen sind unberechenbar und gefährlich. Und soweit ich weiß, war Smaug der letzte seiner Art.“ Sie klappte das Buch zu. „Morgen geht es weiter. Die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende.“ Die Kinder bettelten, dass sie ihnen noch ein weiteres Kapitel vorlas, doch ihre Augen waren müde. Daher schüttelte sie den Kopf und blieb bei ihrem Versprechen, am nächsten Tag weiterzulesen.

Sobald sie sich von ihrem Platz erhob und das Kleid glattstrich, trat ihr Bruder aus dem Schatten hervor und lächelte. „Du bist zurück!“, rief Éowyn voller Freude und rannte auf ihn zu. Es gelang ihm trotz der Erschöpfung sie aufzufangen und zweimal im Kreis zu drehen, ehe sie einander fest umarmten. „Endlich bist du wieder da.“

Als er seine Schwester wieder absetzte, bemerkte diese den Verband an seinem linken Arm. „Du bist verwundet!“

„Nur ein Kratzer“, verharmloste er die Verletzung. „Es sieht schlimmer aus, als es ist.“

„Soll ich nach einer Heilerin schicken?“ Éowyn stand die Sorge übers ganze Gesicht geschrieben. Der kürzliche Verlust Merwyns lastete noch auf ihren jungen Schultern. Manchmal träumte sie von ihr.

Éomer schüttelte den Kopf. „Ich möchte mich nur waschen und endlich frische Kleidung anziehen.“ Er stank wie ein Viehhüter, das wusste er.

„Kinder, wir sehen uns morgen!“, sagte Éowyn, die sich zu den Waisen umwandte und ihnen winkte. Sie alle verabschiedeten sich von ihr, dann nahm sie ihren Bruder bei der Hand und führte ihn Richtung Medulseld.

~

Während ihr Bruder sich Stück für Stück aus den teils zerlumpten und verkrusteten Kleidern schälte, ließ Éowyn vor dem Kamin eine Wanne mit schönem, heißen Wasser für ihn ein. Die Kammerdiener hatten mehrere Eimer heißen und auch kalten Wassers dafür herbeigebracht. Erst kürzlich hatte Éowyn eine wundervolle Seife erstanden, die durch ihren Sandelholzduft gut zu ihrem Bruder passen würde. Sie holte diese aus einer Tasche ihres Rockes hervor und legte sie auf einem nahen Hocker bereit. Nachdem Éomer sich bis auf die langen, fleckigen Unterhosen ausgezogen hatte und zögernd zur Badewanne herüberkam, konnte Éowyn erstmals einen Blick auf seine Verletzung werfen.

Die Wunde war oberflächlich verkrustet, aber recht tief. Sie war sich nicht sicher, ob diese von allein ausheilen würde. „Vielleicht sollte die Heilerin doch einen Blick darauf werfen. Wenn sich die Wunde entzündet …“ Die Künste der Heilung waren Éowyn weitestgehend fremd, aber sie wusste, wie eine schlimme Wunde aussah und wie gefährlich es sein konnte, wenn diese nicht sauber verheilte.

„In Ordnung. Nach dem Bad.“ Es war ein ehrliches Versprechen.

Éowyn drehte sich nickend um, so dass sie mit dem Rücken zu ihm stand. Éomer entledigte sich auch dem letzten Kleidungsstück und stieg in die Badewanne. Für einen kurzen Moment kam ihm das Wasser viel zu heiß vor, doch dann wurde es angenehmer und er ließ sich seufzend davon umarmen.

Éowyn nahm etwas von dem kleinen Schemel, der in der Nähe stand, und hielt es ihm vors Gesicht. „Riech mal“, bat sie ihn dann.

Er schnupperte gehorsam und lächelte anschließend zufrieden.

„Die habe ich für dich gekauft. Ich wollte sie dir eigentlich zum Julfest schenken. Heute hast du sie vermutlich nötiger.“

„Die Seife duftet sehr gut“, bestätigte er. „Danke.“

Éowyn nahm sich eine kleine Zinnkanne, füllte diese mit warmem Badewasser und goss es anschließend ohne Vorwarnung über Éomers Kopf. Danach begann sie damit seine langen Haare einzuseifen. Während sie ihm den müden Kopf massierte und Éomer beinahe einschlief, summte sie eine Melodie, die ihn an ihre Kindheit erinnerte. Ihre Mutter hatte dieses Lied gemocht und oft gesungen, wenn sie die Kinder gebadet oder die Wäsche gewaschen hatte. Éomer konnte sich nicht mehr an die Liedzeilen erinnern, wohl aber die Melodie. Éowyn schien es ähnlich zu gehen.

„Wie ist es dir in meiner Abwesenheit ergangen? Habe ich etwas verpasst?“, wollte er nach einer Weile wissen. Éowyn seifte ihm derweil den Rücken und die Achselhöhlen ein.

Wo sollte sie nur anfangen? Gríma hatte sich erstaunlich gesittet verhalten. Er hatte ihr geholfen, wann immer sie Hilfe nötig hatte, hatte sie spät abends vom Waisenhaus abgeholt und war ansonsten die Tage damit beschäftigt gewesen, den König zu beratschlagen. Sie war sich nicht sicher, was sie über sein Verhalten denken sollte, aber sie fühlte sich nicht mehr bedrängt. Danach erzählte sie Éomer von den vielen Waisenkindern, die inzwischen in Edoras ein neues Zuhause gefunden hatten. Und natürlich erzählte sie ihm auch von Merwyn. Dabei stiegen ihr ungewollt wieder Tränen in die Augen. Sie hatte seit dem Tod des Mädchens nicht mehr in ihrem eigenen Bett geschlafen. Es war wohl frisch gemacht und ihre Räume gründlich gereinigt worden, dennoch gruselte es sie in ihre Gemächer zurückzukehren. Sie hatte sich so sehr über Éomers Rückkehr gefreut, dass ihr erst jetzt klar wurde, dass sie von heute an wieder in ihren Gemächern würde schlafen müssen. Aber von ihrer Furcht wollte sie ihrem Bruder lieber nichts sagen, um nicht schwächlich zu wirken.

~

Beim gemeinsamen Abendessen mit dem König und dessen Hauptmännern, berichteten Théodred und Éomer ausführlich von ihren Kämpfen. Sie erzählten von den niedergebrannten Höfen, dem verlorenen Vieh, aber auch von der Freundlichkeit der Gastwirte in den etwas größeren Dörfern, in denen sie unterwegs mal eine Nacht hier und dort verbracht hatten.

Selbstverständlich verfielen die Männer in ausgedehnte Planungen und Strategien, wie man zum Beginn des neuen Jahres weiter vorgehen sollte. Gríma schlug dabei vor, dass die Soldaten des Königs nicht nur auf Streife durch die Lande reiten, sondern stationär an diversen Außenposten eingeteilt werden sollten. Die Idee schien dem König zu gefallen. Wenn sie die Männer in ganz Rohan in größeren Schaaren verteilten, wären sie schneller einsatzfähig und könnten vor allem die weiter außerhalb gelegenen Gutshöfe und Ländereien verteidigen.

Der König wollte die Umstellung veranlassen, sobald das Julfest vorüber war. Bis dahin sollten seine Männer ein paar Tage frei haben und sich erholen können. Nur ausgeruhte Soldaten, waren gute Kämpfer.

Éowyn war bei all dem Gerede der Männer mit dem Kopf an Éomers Schulter gelehnt eingeschlafen. Der dünne Umhang war ihr von den zierlichen Schultern gerutscht. Éomer drehte sich behutsam, um sie nicht zu wecken und hob sie auf die Arme. „Ich bringe sie ins Bett.“

Der König nickte bestätigend.

„Soll ich dir helfen?“ Théodred war schon aufgestanden und an seiner Seite.

Éomer schüttelte jedoch den Kopf. „Sie wiegt nicht besonders viel. Ich kann sie allein tragen. Allerdings werde ich ebenfalls gleich zu Bett gehen“, ließ er sämtliche Anwesenden wissen. „Gute Nacht.“

Die Männer verabschiedeten sich und so manch einer nahm sich ein Beispiel an dem jungen Éomer, als sie sich ihrer eigenen Erschöpfung bewusst wurden. Gríma sah den Geschwistern stumm nach.

Kaum in ihren Gemächern angekommen, erwachte Éowyn in seinen Armen. Éomer legte sie dennoch auf das Bett und wollte sie gerade zudecken, als sie sein linkes Handgelenk erstaunlich entschlossen festhielt. „Die Heilerin hat noch nicht nach deiner Verletzung gesehen.“

„Morgen, liebste Schwester. Ruh dich aus“, sagte Éomer gutmütig. „Du bist vollkommen erschöpft.“

Éowyn nickte gähnend und ließ sich in die kalten Kissen sinken. Der vertraute Geruch nach ihrem Bruder fehlte ihr sofort. Sie hatte sich viel zu leicht daran gewöhnt, in seinem Bett zu nächtigen. Jedoch wagte sie es nicht, ihm davon zu erzählen, dass sie sich in ihrem Zimmer schauderte, seit Merwyn in ihrem Bett verstorben war. Sie schloss daher die Augen und ließ Éomer glauben, dass sie bereits wieder eingeschlafen war.

~

Als Éomer am nächsten Morgen gut ausgeruht erwachte, dauerte es einen langen Moment bis er realisierte, dass er nicht allein in seinem Bett lag. Éowyn musste sich in der Nacht in seine Räume und vor allem in sein Bett geschlichen haben, ohne dass er etwas davon bemerkt hatte. Sein Vetter würde ihn für den Mangel an Achtsamkeit auslachen, wenn er davon erführe. Allerdings durfte niemand davon erfahren. Es war ihnen schließlich seit geraumer Zeit verboten ein Bett zu teilen.

Éowyns Kopf ruhte auf seiner Brust, während sie einen Arm und auch ein Bein um ihren Bruder gelegt und sich ganz eng an ihn gekuschelt hatte. Éomers Herz schlug unruhig in seiner Brust. Ein Teil von ihm genoss die Wärme des anderen Körpers, seine Weichheit. Er legte probehalber einen Arm um Éowyns Schultern, streichelte ihr zärtlich übers Haar. Sie duftete so wunderbar, wie nur eine junge Frau duften konnte. Selbst im Winter roch Éowyn nach Frühling und Sonne.

Sie rieb ihre Wange an seine Brust und er vermochte trotz seines Nachthemds ihr Lächeln zu spüren. Und noch etwas anderes spürte er – und zwar überdeutlich – und das war alles andere als angenehm. Nicht in diesem Zusammenhang! Erschrocken schob er Éowyn daher von sich herunter, damit sie die Veränderung seines Körpers nicht bemerkte. Und er hoffte, bei Ilúvatar, dass sie sein hartes Geschlecht nicht unter der Bettdecke sehen konnte.

„Du dürftest gar nicht hier sein!“, herrschte er sie an.

Sie setzte sich abrupt im Bett auf, wodurch die Decke von ihr herunterrutschte, und fröstelte augenblicklich. Das Feuer im Kamin war über Nacht erloschen, die eisige Kälte war von draußen durch die Wände eingezogen. Sie schlang die Arme um ihre Mitte und bewegte sich langsam rückwärts aus dem Bett bis sie mit den nackten Füßen auf den kalten Holzdielen stand.

„Wenn der König davon erfährt … wir … dürfen das nicht mehr.“ Éomer fuhr sich fahrig durchs lange Haar, das ihm wild über die Schultern hing. „Rasch, geh in deine Gemächer, ehe deine Magd bemerkt, dass du nicht in deinem Bett geschlafen hast.“

Sie nickte beklommen und rieb sich die Arme, um sie zu wärmen. „Es tut mir leid.“

„Schon gut, nun geh!“ Seine Stimme hatte jegliche Strenge verloren, klang nur noch bittend, fast schon verzweifelt. „Geh!“

Éowyn rannte barfuß hinaus auf den Flur, zog die Tür zu Éomers Räumen hinter sich zu und eilte dann lautlos in ihre eigenen Gemächer. Dort kroch sie in das viel zu kalte Bett und starrte verwirrt an die Holzverzierung der Zimmerdecke. Wenn sie die Augen schloss, glaubte sie immer noch Merwyn in ihren Räumen wahrzunehmen. War das möglich? Würde Éomer verstehen, dass das tote kleine Mädchen der Grund war, weshalb sie nicht mehr in ihren eigenen Gemächern schlafen wollte? Oder würde er sie stattdessen auslachen und erst recht wie ein Kind behandeln? Sie schloss schaudernd die Augen und zog sich schließlich die Bettdecke über den Kopf, um sich darunter zu verstecken.


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