Die Kinder Éomunds von Nadia

Die Kinder Éomunds von Nadia

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In ganz Edoras herrschte emsiges Treiben. Das große Julfest zur Wintersonnenwende wurde vorbereitet und alle halfen mit. Éomer und Théodred waren ausgezogen, um eine Tanne zu fällen, während Éowyn die Kinder des Waisenhauses damit beschäftigte, allerlei Schmuck aus Stroh und Tannenreisig zu basteln.

Seit jeher war die Jultanne stets auf dem großen Platz vor Meduseld aufgestellt worden, damit ihn alle Bewohner in Edoras bewundern konnten. So sollte es auch in diesem Jahr sein, doch anders als bislang sollte in diesem Jahr nicht nur die Goldene Halle geschmückt werden. Zu diesem Zweck bastelten Éowyn und die Kinder eine ganze Menge Tannenzweiggirlanden, die sie mit ihren Strohsternen und -pferden und ein oder zwei Tannenzapfen dekorierten. Sie sollten als ein Geschenk der Dankbarkeit von den Kindern an die Familien der Handwerker gehen, damit diese ihre Wohnräume oder die Hauseingänge schmücken konnten.

Éowyn stellte fest, dass ihr das Basteln der Juldekoration sehr viel mehr Freude bereitete, als das Sticken oder Nähen. Und auch den Waisen konnte sie den Schmerz über den Verlust der Familien mit dieser Beschäftigung lindern. Selbstverständlich waren die Eltern nicht vergessen, das würden sie niemals sein, aber die Kinder spürten, dass sie dennoch geschätzt und sogar geliebt wurden. Sie fanden untereinander Freunde und konnten sich gegenseitig Trost spenden.

Ein kleines Mädchen, kaum fünf Jahre jung, schleuderte in einem Anfall von Frustration einen kleines Strohbündel auf den Tisch und machte ihrem Unmut schimpfend Luft. Noch bevor Éowyn sich an das Mädchen wenden konnte, wurde es von einem der älteren Jungen angesprochen. Er schenkte dem Mädchen zunächst ein Lächeln. „Warum so zornig?“, wollte er wissen.

„Ich kann das nicht. Mein Strohpferd sieht nicht aus wie ein Pferd“, jammerte sie und verschränkte trotzig die kleinen Arme vor der Brust.

Der Junge, den Éowyn als Tinwald kannte, setzte sich geduldig neben das Mädchen. „Soll ich dir helfen?“ Es folgte nur ein Nicken, doch mehr brauchte es auch nicht. Tinwald langte über den Tisch, holte das missglückte Strohpferd zurück und betrachtete es einen Moment eingehend, ehe er die Verschnürung um die Fußfesseln und den Hals löste, die an der falschen Stelle verknotet waren. „Das ist reine Übungssache“, erklärte er dem Mädchen. „Und zu zweit geht es auch leichter. Du hältst das Pferdchen fest und ich verschnüre den Faden. Einverstanden?“ Das Mädchen nickte und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande.

„Herrin“, wurde Éowyn in ihrer Beobachtung unterbrochen, als einer der Wachmänner zu ihr trat. „Verzeiht die Störung.“

Sie legte ihre Bastelarbeit beiseite. „Was kann ich für Euch tun?“

Er wandte sich zum Eingang des Waisenhauses um, wo ein Bauern-Ehepaar stand und mit einer Mischung aus Unsicherheit und Hoffnung die Blicke durch die Gemeinschaftshalle schweifen ließ.

„Der König schickt mich mit den Beiden zu Euch, Herrin. Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?“

Éowyn nickte langsam, die Augenbrauen erwartungsvoll zusammengezogen. Sie gingen gemeinsam in den Schlafsaal der Jungen. „Sprecht“, wandte sie sich wieder an den Mann, sobald sie außer Hörweite der Kinder waren.

„Ihr habt das Ehepaar gesehen, Herrin.“ Éowyn nickte erneut. „Sie haben in den vergangenen Monaten ihre beiden Kinder verloren. Einen vierzehnjährigen Sohn und eine zehnjährige Tochter.“

Éowyns Herz sank ob der schlechten Nachricht, die doch viel zu ähnlich ihrem eigenen Schicksalsschlag war, den sie vor einigen Jahren erfahren hatte. Nur war es umgekehrt gewesen. Sie war im selben Alter wie das verstorbene Mädchen gewesen, als sie ihre Eltern verlor. „Bitte übermittelt Ihnen meine Beileidsbekundung.“

„Gewiss“, erwiderte der Wachmann. „Deshalb sind sie jedoch nicht nach Edoras gekommen, Herrin. Ihr Gut liegt ungefähr eine Tagesreise von hier entfernt. Sie wissen nicht, wie sie es im Frühjahr ohne die Unterstützung ihrer Kinder bewirtschaften sollen. Sie haben davon erfahren, dass hier ein Waisenhaus entstanden ist.“

Es dauerte einige Momente, bis Éowyn der Sinn dieses Anliegens bewusst wurde. Ihre Augen weiteten sich. Bisher hatte stets der König über die Adoptionen entschieden. „Und der König hat sie zu mir geschickt?“

Der Wachmann nickte ernst. „Sie würden zwei Kinder mitnehmen. Ihnen Liebe, Essen und Obdach geben.“

Dagegen konnte Éowyn schwer Einspruch erheben. Es war ein rauer Winter, nicht nur für diese Bauern. „Schickt die beiden zu mir. Ich wünsche mit ihnen zu sprechen.“

„Sehr wohl, Herrin.“ Der Wachmann verneigte sich und ging, um das Ehepaar zu holen.

Die Entscheidung fiel Éowyn nicht leicht, auch wenn sie nicht an den guten Absichten der Bauersleute zweifelte. Sie hatten ebenso schwere Verluste erlitten, wie sämtliche Kinder in diesem Waisenhaus. Und selbst wenn die Bäuerin erneut Kinder gebären würde, so würden einige Jahre vergehen, bis diese groß und kräftig genug waren, um auf dem Hof zu helfen.

„Herrin.“ Beide neigten das Haupt vor ihr. „Danke, dass Ihr uns empfangt.“

„Schon gut. Mein herzliches Beileid zu Eurem Verlust.“ Éowyn fühlte sie an diesem Tag nicht mehr wie das vierzehnjährige Mädchen, das sie war. Dass ihr Onkel eine solche Entscheidung ihr überließ, machte sie stolz, gleichzeitig spürte sie jedoch auch die Bürde und die Verantwortung, die damit einhergingen. „Erzählt mir ein wenig über Euch.“

Das Ehepaar sah sich einen Moment an, dann ergriff der Mann das Wort. „Wir sind Elfreda und Gwyndion, Herrin. Wir leben und bewirtschaften ein Gut nahe Norhofen, das liegt ein gutes Stück unterhalb der Wildermark, Herrin.“

Éowyn musste einen fragenden Ausdruck im Gesicht gehabt haben, dessen sie sich bis dahin nicht bewusst gewesen war. Warum sonst hätte der Bauer ihr erklärt, wo Norhofen lag? Die ging jedoch nicht näher darauf ein und wechselte das Thema. „Habt Ihr Euch bereits umgesehen?“

„Ein wenig“, gestand Gwyndion.

„Ihr müsst Adoptionspapiere unterzeichnen. Es wird jährlich jemand unangekündigt auf Eurem Hof erscheinen, der sicherstellen wird, dass es den Kindern an nichts mangelt. Jedes einzelne von ihnen liegt mir sehr am Herzen. Behandelt sie gut“, ließ Éowyn sich vernehmen und klang dabei ungewöhnlich erwachsen.

Nachdem die Formalitäten erledigt waren, entschied sich das Ehepaar dazu, Tinwald und Holda zu adoptieren.

Insbesondere Tinwald zu dieser Zeit zu verlieren, schmerzte Éowyn sehr. Sie hatte den Knaben, der sich so rührend um die kleineren Kinder mit gekümmert hatte, ins Herz geschlossen. Von nun an würde die achtjährige Holda ihm wie eine kleine Schwester sein und Éowyn zweifelte nicht daran, dass er gut auf sie achtgeben würde. Dennoch fiel der Abschied schwer und sie spürte Tränen in den Augen, als sie den Kindern nachwinkte, die eine Bastelarbeit zum Andenken mitnehmen durften, um das neue Zuhause damit zu schmücken. Ebenso hatte Éowyn beiden Kindern einen kleinen Jutesack zum Abschied überreicht, der mit Obst und Nüssen gefüllt war. Der König hatte sich einverstanden erklärt, dass Éowyn jedem in Edoras lebenden Kind ein solches Säckchen am Julfest zum Geschenk machen durfte. Da Tinwald und Holda jedoch nicht mehr in Edoras sein würden, wenn das große Fest stattfand, erhielten sie ihre Geschenke ein paar Tage vorher.

~

Ganz Edoras versammelte sich am Vorjulabend vor der Goldenen Halle und bestaunte den großen Tannenbaum, der mit allerlei Schmuck und Gebäck behangen war. Das Gebäck, so war es Tradition, durfte noch an diesem Abend abgenommen und verzehrt werden. Der Baum selbst würde für eine gute Woche auf dem Platz stehen bleiben. Erst dann durfte sich jeder Haushalt einen Zweig abschneiden und im häuslichen Kamin verbrennen. Die ätherischen Öle, die dadurch freigesetzt wurden, würden die bösen Geister des vergangenen Jahres vertreiben, das Feuer selbst sollte symbolisieren, dass niemand in diesem Winter frieren musste.

Wie in jedem Jahr hatte der König auch in diesem wieder einen Barden eingeladen, der die königlichen Gäste unterhalten sollte. In diesem Jahr, das überraschte nicht nur Éowyn, war allerdings eine Bardin gekommen, die der Gesellschaft Gedichte vortrug, Lieder sang oder einfach auf ihrer Fidel musizierte. Die rothaarige Frau, die den Namen Myrielle trug, war ungewöhnlich schön. Nicht von der Schönheit, wie man Elbenfrauen nachsagte, aber durch das rote Haar, die blasse Haut und die vielen Sommersprossen auf der Haut, unterschied sie sich sehr von den anderen Frauen aus Rohan. Éowyn fragte sich, woher sie stammte, bekam jedoch keine Gelegenheit die Frau darauf anzusprechen.

Die Tische waren so reich mit Speis und Trank gedeckt, dass halb Edoras satt davon werden könnte. Insbesondere zur Julzeit erinnerte der König seine Männer und deren Familien gern daran, wie gut es ihnen unter seiner Herrschaft ging.

Heerführer Gamling saß mit seiner Frau und den Söhnen an einem der Tische und gab eine Abenteuergeschichte zum Besten. Háma stieß mit dem Heerführer an und verschüttete dabei etwas Wein über seiner Frau, die darüber nur den Kopf schütteln konnte. Ihr gemeinsamer Sohn, Haleth, der keine drei Jahre alt war, lachte herzhaft darüber.

Éomer näherte sich unbemerkt von hinten und legte ein kleines Päckchen vor Éowyn ab. Er schenkte ihr ein verschmitztes Lächeln, als sie vor Überraschung zusammenzuckte. „Alles Liebe zum Julfest, Schwesterherz.“ Er folgte flüchtig ihrem Blick zu den Familien, die gemeinsam das Julfest feiern konnten, doch dann galt seine Aufmerksamkeit wieder voll und ganz seiner Schwester.

Sie hatte in diesem Jahr nicht mit einem Geschenk von ihm gerechnet, da er so lange mit Théodred auf der Jagd nach Orkbanden durch die Lande gereist war. Wann hatte er Zeit gefunden, ein Geschenk für sie zu suchen? Das Päckchen war sehr gleichförmig und schwer, jedoch nur wenig größer als ihre Handfläche. Sie sah mit leuchtenden Augen zu ihm auf und er setzte sich auf die Lehne ihres komfortablen Stuhls.

„Willst du es nicht öffnen?“, neckte er sie. Er war gespannt auf ihre Reaktion.

Sie strich zärtlich über den dünnen Stoff, der als Verpackung diente und zog schließlich an der Schleife, die mit einem kleinen Ilex-Zweig geschmückt war. Zum Vorschein kam ein Büchlein, das reichlich abgegriffen wirkte, jedoch auf eine gute Art. So wie ein geliebtes Buch nach vielen Jahren aussah, wenn es immer wieder und wieder gelesen wurde. „Die verschollenen Geschichten“, las sie den Schriftzug auf dem Einband vor und strich behutsam über den Buchrücken, ehe sie die ersten Seiten aufschlug.

„Für meine geliebte Théodwyn“, las sie die Widmung mit zitternder Stimme vor. Ein Kloß bildete sich in Éowyns Hals. Sie sah von dem Buch in ihrer Hand auf und ihrem Bruder in die Augen.

„Ich habe nie vergessen, wie Mutter uns früher aus diesem Buch vorgelesen hat. Vater hat mir einmal erzählt, dass er es ihr geschenkt hätte, als sie mit mir schwanger war. Sie liebte es Geschichten zu erzählen und zu singen. Und als ich sah, dass du in gleichem Maß Freude dabei empfindest, den Waisen vorzulesen oder zu singen, da wusste ich, dass dieses Buch dir gehören sollte. Mutter wäre bestimmt einverstanden.“

Ohne, dass sie es hätte beeinflussen können, rannen Éowyn Tränen über die Wangen. Sie fühlte sich in diesem Moment unendlich traurig, dass sie ohne Eltern aufwuchs und gleichzeitig war sie dankbar, dass sie noch ihren Bruder hatte. Sie erhob sich und umarmte ihn lange und innig. „Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe. Danke.“

Éomer senkte den Blick, um ihr in die Augen sehen zu können, wischte mit den Daumen die Tränen aus ihrem Gesicht und küsste anschließend ihre Stirn. Dieses Buch war eines der wenigen Andenken, dass noch von ihren Eltern geblieben war. Er hatte es viele Jahre aufbewahrt. Ursprünglich wollte er es Éowyn eigentlich erst überlassen, wenn sie selbst Mutter wurde. Ihre Hingabe und Fürsorge den verwaisten Kindern gegenüber fand Éomer jedoch so großzügig und selbstlos, dass er seine kleine Schwester schon jetzt mit dem Andenken an ihre eigene Mutter belohnen wollte. „Ich bin sehr stolz auf dich, Schwesterherz“, flüsterte er ihr in das Haar, das sie an diesem Abend aufwändig geflochten trug.

Unweit von ihnen saß Gríma und beobachtete die Geschwister über den Rand seines Weinkruges hinweg mit Argusaugen.

Myrielle, die Bardin, spielte ein neues Musikstück an, das sofort fröhliche Stimmung in der Goldenen Halle verbreitete.

Éomers Augen leuchteten auf. „Möchtest du tanzen?“, fragte er seine kleine Schwester. Keiner von beiden bemerkte Grímas Blicke, die alles andere als wohlwollend waren.

Das ließ sich Éowyn kein zweites Mal sagen. Ihnen schlossen sich zunehmend mehr Feiernde an, die um die Tische herum tanzen, sangen und lachten. Zumindest für diesen einen Abend sollte sich niemand in Rohan sorgen um die Zukunft machen.


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