Die Kinder Éomunds von Nadia
Die Kinder Éomunds by Nadia
Summary: Nach dem Verlust der Eltern, nahm König Théoden die Kinder seiner Schwester bei sich auf. Dies ist ihre Geschichte.
Categories: Literatur > Der Herr der Ringe Characters: Éomer, Éowyn, Gríma Schlangenzunge, Original Character, Théoden, Théodred
Genre: Family, Hurt/Comfort, Sibcest
Pairing: Éowyn / Éomer
Challenges:
Series: Keine
Chapters: 14 Completed: Nein Word count: 38646 Read: 213762 Published: 15 Sep 2015 Updated: 25 Aug 2022
Story Notes:
Ich kenne vor allem die Filme. Die Bücher hab ich vor einer kleinen Ewigkeit gelesen und mein Gedächtnis ist nicht gerade das Beste.
Hintergrundinformationen beziehe ich u.a. von http://ardapedia.herr-der-ringe-film.de und ähnlichen Enzyklopädien. Erschlagt mich daher bitte nicht, wenn mein erster Ausflug nach Mittelerde nicht perfekt ist.

Warnung: Die Geschichte könnte im weiteren Verlauf Sibcest beinhalten. Wer damit nicht klarkommt, sollte ab hier einfach nicht weiterlesen.

1. Als Mädchen unter Männern by Nadia

2. An der Schwelle zur Frau by Nadia

3. Jugendlicher Übermut by Nadia

4. Die Barmherzige by Nadia

5. Schmerz und Trost by Nadia

6. Wintersonnenwende by Nadia

7. Schneeschmelze by Nadia

8. Getrennte Wege by Nadia

9. Ein Pakt mit dem Teufel by Nadia

10. Zurück in Aldburg by Nadia

11. Vertrauter Feind by Nadia

12. Nach all den Jahren by Nadia

13. Wundfieber by Nadia

14. Reue by Nadia

Als Mädchen unter Männern by Nadia
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Historische Anmerkung
3009 Drittes Zeitalter
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Ein greller Schrei drang durch die Hallen Meduselds und durchschnitt die Stille der friedlichen Nacht. Éomer schrak sofort alarmiert im Bett auf und sah sich in seinem Schlafgemach um, die Hand um das Heft seines Schwertes und bereit jeden unerwünschten Eindringling zu erschlagen. Es dauerte einen kurzen Moment, ehe er sich der tatsächlichen Situation bewusst wurde. Bis er begriff, dass kein Feind in Edoras eingefallen war, sondern lediglich seine geliebte Schwester wieder einen ihrer schrecklichen Träume hatte. Éowyn wurde zu jener Zeit des Jahres oftmals von Alpträumen heimgesucht, in welchen sie den Tod der Eltern immer wieder aufs Neue durchlebte.

Rasch warf er die Felle zurück und eilte zum Schlafgemach seiner Schwester. Théodred stand bereits vor ihrer Tür, wirkte verschlafen und schien nicht so recht zu wissen, ob es ihm gestattet war die Tür zu öffnen, um nach Éowyn zu sehen. Ein erleichtertes Lächeln umspielte die müden Züge seines Vetters. Éomer legte ihm eine Hand auf die Schulter, sobald er ihn erreichte. „Ich kümmere mich um sie. Geh wieder schlafen.“

„Vielleicht sollten wir einen Heiler um Rat bitten. Es muss doch etwas geben, das ihre Träume besänftigt“, überlegte Théodred flüsternd.

Éomer zog die Vorschläge seines Vetters grundsätzlich immer gern in Erwägung. Immerhin war Théodred einige Jahre älter und erfahrener, aber in dieser Hinsicht widersprach Éomer seiner Meinung. „Ich würde es vorziehen, ihr den Kummer auf andere Weise zu lindern.“

„Sie ist deine Schwester.“ Théodred zuckte die Schultern und kehrte in seine eigenen Räume zurück.

Éomer sah ihm nach, ehe er die Tür zu Éowyns Schlafgemach öffnete und eintrat. Im Kamin, nahe ihrem großen Bett, loderte ein kleines Feuer. Die tanzenden Flammen warfen ein Lichtspiel aus warmen Orangetönen und Schatten an die Wände. Mit einem leisen Klicken fiel die Tür hinter Éomer zu.

„Éowyn?“, fragte er behutsam und trat an ihr Bett. Sie lag mit dem Rücken zu ihm. Trotz des schwachen Lichtes vermochte Éomer zu sehen, dass ihre Schultern bebten. „Kann ich etwas für dich tun, geliebte Schwester?“ Der blonde Haarschopf bewegte sich leicht und deutete ein Kopfschütteln an. Éomer konnte deutlich hören, dass sie schluchzte. „Hast du erneut von unseren Eltern geträumt?“, hakte er sanft nach und setzte sich auf den Rand ihres Bettes.

Endlich drehte sie sich zu ihm herum und sah ihn aus feuchten Augen an. „Ich sah dich im Traum sterben“, flüsterte sie heißer und begann neuerlich zu weinen.

Dies zu hören erstaunte Éomer doch sehr. Ihm war bisher nie etwas geschehen, seit er begonnen hatte gemeinsam mit ihrem Vetter Théodred und den Mannen des Königs auszuziehen, um Orks, Bilwisse und anderes Pack zu erschlagen. Er schlüpfte zu ihr ins Bett unter die Felldecke und ließ zu, dass sie ihren Kopf auf seine Brust legte. „Hörst du mein Herz schlagen, Éowyn? Es geht mir gut. Ich bin hier …“

Sie nickte kaum spürbar, doch es dauerte einige Minuten, bevor sie sich langsam beruhigte und der Tränenfluss nachließ. Éomers Nachtgewand, ein einfaches Leinenshirt, war feucht von ihren salzigen Tränen. Mit dem rechten Arm hielt er seine jüngere Schwester im Arm, während er ihr mit der linken Hand das goldene Haar streichelte. „Was kann ich tun, um dir zu helfen, Schwester?“

Ihre Antwort kam zögerlich, als fürchte sie seine Reaktion. Sie hob ihren Kopf, um ihm in die Augen sehen zu können. „Lehre mich mit dem Schwert zu kämpfen. Ich möchte eine Schildmaid Rohans werden.“

Éomer lächelte verständnisvoll, doch angesichts der Tatsache, dass Éowyn gerademal vierzehn Jahre jung war, bezweifelte er, dass es ihr Onkel, der König, gestatten würde. Vielleicht, wenn es ihm gelänge zunächst Théodred zu überzeugen und wenn sie dann gemeinsam vor den König treten würden.

„Das ist ein großer Wunsch“, erwiderte er nach einigem Zögern.

Sie nickte leicht. „Das ist mir bewusst. Aber ich fürchte mich vor der Hilflosigkeit, Éomer. Ich möchte nicht nur mich selbst, sondern auch dich und alle anderen schützen können, die ich liebe und die mir teuer sind.“

Ihr Wunsch war nicht weiter verwunderlich, nachdem sie hatte zusehen müssen, wie ihre Mutter am gebrochenen Herzen gestorben war, nachdem sie ihren Gatten im Kampf gegen eine hinterhältige Horde Orks verloren hatte. Ihre Mutter war keine Schildmaid gewesen, hatte den Kampf stets verabscheut und sich immer auf den Schutz ihres Bruders, König Théodens, und ihres geliebten Gatten Éomunds verlassen. Keiner von beiden hatte sie davor bewahren können, letztlich am Kummer über den Verlust Éomunds sterben zu müssen.

Ein solches Schicksal sollte seine Schwester nicht erfahren müssen. Éomer wollte ihr helfen und so nickte er schließlich. „Ich werde sehen, was ich tun kann, aber versprechen will ich dir nichts. Du bist noch sehr jung, Éowyn. Der König schenkte mir mein Schwert zum sechzehnten Geburtstag, wie du dich vielleicht erinnerst. Es wäre denkbar, dass es noch ein paar Jahre dauert, ehe er gestattet dich in der Kunst des Schwertkampfes zu unterweisen.“ Er sah tiefe Verzweiflung in ihrem Blick aufleuchten. „Ich werde mein Bestes tun, um unserem Onkel dein Anliegen vorzutragen. Ich verspreche es dir.“ Offenbar war ihr sein Wort genug, denn ihre Mundwinkel zuckten und deuteten zumindest ein Lächeln an.

„Ich danke dir.“

„Danke mir noch nicht“, erwiderte er sanft und streichelte ihre Wange, ehe er ihr einen Kuss auf die Stirn gab. Er wollte nicht, dass sie sich zu große Hoffnung machte. Er bezweifelte, dass der König ihr in so jungen Jahren bereits ein Schwert aushändigen würde.

Éowyn legte ihren Kopf wieder auf seine Brust und schlang den rechten Arm um seinen Oberkörper. „Bleib heute Nacht bitte bei mir.“

Sie hatten sich als Kinder stets ein Bett geteilt. Selbst dann noch, als der König sie bei sich aufgenommen hatte. Erst als Éomer allmählich zum Manne wurde, hatte der König ihm erklärt, dass es sich nicht mehr ziemte das Bett mit der eigenen Schwester, die er mehr liebte als sonst einen Menschen, zu teilen. Mit seinen damals vierzehn Jahren hatte Éomer es kaum verstehen können, Éowyn mit ihren zehn Jahren noch viel weniger. Heute war Éowyn so alt, wie Éomer damals und sie schien sich ebenfalls nichts weiter dabei zu denken.

Allerdings war Éomer nicht entgangen, dass seine geliebte Schwester langsam zu einer Frau heranwuchs. Ihr Körper hatte sich sehr verändert, war zunehmend weiblicher geworden. Und gerade in diesem Augenblick wurde er sich dessen noch bewusster als je zuvor, da sie sich an ihn schmiegte und ihre zarten Brüste dabei seinen Körper berührten. Das Gefühl war viel zu angenehm, als dass er es genießen konnte. Er durfte es nicht genießen.

„Ich kann nicht hier schlafen, Éowyn“, ließ er seine Schwester wissen und schob sie ein Stück von sich herunter. Sofort vermisste er ihren zarten Körper und ihre Wärme und wusste erst recht, weshalb er unbedingt gleich gehen sollte.

„Weshalb nicht?“, fragte sie mit Unverständnis in ihrem Blick.

Éomer verließ die warme Bettstatt endgültig und sah seine Schwester, wie er hoffte, mit strengem Blick an. „Wir sind keine Kinder mehr. Es gehört sich nicht, dass wir ein Bett teilen.“ Es wäre nicht halb so schlimm, würde er es nicht insgeheim genießen, ihr nahe zu sein. „Es war des Königs Entscheidung uns getrennte Schlafräume zu geben, Éowyn. Das hat seinen Grund. Du zweifelst doch nicht etwa die Entscheidung unseres Onkels, des Königs, an?“

Sie schüttelte sofort vehement den Kopf. „Nein, selbstverständlich nicht“, sagte sie schon beinahe beschämt.

Der König hatte sicher Recht mit seiner Entscheidung, er war schließlich ein weiser Mann. „Ich werde dem König morgen deinen Wunsch vortragen.“ Natürlich hätte Éowyn ihren Onkel auch selbst fragen können, doch wenn es um solcherlei Dinge ging, schickte sie gerne ihren Bruder vor. „Versuche noch ein wenig Schlaf zu finden. Es sind noch einige Stunden bis Sonnenaufgang.“

Éowyn nickte langsam, zog die Felldecke bis unters Kinn und kuschelte sich in das Kissen. Éomer betrachtete sie noch einen Moment lang, während ihr Blick den tanzenden Flammen im Kamin galt. Sie wurde zunehmend schöner, wie er fand. Und besonders in diesem Moment, da sie rein und unschuldig in ihrem Bett lag, wurde Éomer sich dieses Umstands bewusst. Es war ganz gewiss eine intelligente Entscheidung des Königs gewesen, dass sie getrennte Räume hatten.

In jener Nacht gelang es Éomer nur schwer wieder in der Einsamkeit seiner Gemächer einzuschlafen.

~

Als die Sonne über Edoras aufging und ihre ersten dünnen Strahlen durch Éomers Fenster schickte, war dieser unlängst erwacht. Der Wunsch seiner Schwester hatte ihm keine Ruhe gelassen und er wusste, dass er zunächst versuchen sollte seinen Vetter Théodred zu überzeugen. Dazu musste er seinen Vetter auf dem Trainingsplatz aufsuchen, denn es verging kein Morgen, an welchem Théodred nicht bereits vor dem Frühstück dort anzutreffen war.

In aller Hast schlüpfte Éomer daher in seine Kleider, kämmte sich grob das schulterlange, blonde Haar und eilte aus seinem Gemach. Die Sonne schien zwar frei vom wolkenlosen Himmel und vertrieb die letzten Schatten der Nacht, doch war kaum noch Wärme in ihren Strahlen, jetzt da sich der Herbst über Rohan ausbreitete und die Tage immer kürzer wurden.

Wie erwartet fand Éomer seinen Vetter an einer der Trainingspuppen, auf die er mit seinem Schwert aus verschiedenen Richtungen einschlug. Für einen kurzen Augenblick beobachtete er Théodred, ehe er sich eines der Übungsschwerter vom nahegelegenen Waffenständer nahm und einige Schritte auf seinen Vetter zuging.

„Einen wehrlosen Feind zu erschlagen, ist keine große Kunst“, ließ sich Éomer vernehmen.

Théodred erschrak sichtlich, hatte er doch nicht damit gerechnet, dass ihm jemand Gesellschaft leisten würde. „Willst du mich herausfordern, Vetter?“, fragte er daher und schenkte Éomer ein aufforderndes Lächeln.

„Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dich eines Tages zu schlagen.“ Éomer hatte bisher niemals ein Übungsgefecht gegen seinen Vetter gewonnen. Théodred hatte ihm alles beigebracht, daher kannte er Éomers Stärken und Schwächen wie niemand sonst. Dennoch war es immer wieder ein Spaß, sich erneut der Herausforderung zu stellen. Éomer liebte Herausforderungen. Er wusste, dass er nur an ihnen wachsen und besser werden konnte.

Théodred schüttelte immer noch lächelnd den Kopf. „Wenn du deinen Tag unbedingt mit einer Niederlage beginnen willst, so soll es mir recht sein.“ Und damit griff er auch schon an, in dem er einen Ausfallschritt auf Éomer zu machte und das Schwert auf ihn niedersausen ließ.

Jedoch hatte Éomer mit einem direkten Angriff gerechnet und wich geschickt zur Seite aus.

„Konntest du Éowyn gestern Nacht beruhigen?“, fragte Théodred, wich seinerseits einem Schwerthieb aus, vollführte eine galante Drehung und holte zum Schlag aus. Beide Schwerter trafen mit einem lauten metallischen Klirren aufeinander, so dass kleine Funken stoben.

Éomer nickte und war dankbar, dass sein Vetter das Thema sogar selbst zur Sprache brachte. „Ja, es ist mir gelungen. Allerdings hat sie eine Bitte an mich herangetragen, zu welcher ich deine Meinung brauche.“

Für einen Moment verharrte der Sohn des Königs. Éomer erkannte ernsthaftes Interesse in seinem Blick. „Welche Bitte?“

Éomer senkte sein Schwert. „Sie wünscht eine Schildmaid Rohans zu werden“, sagte er frei von Schalk.

„Sie ist noch ein halbes Kind“, gab Théodred gemessen zu bedenken.

Mit vierzehn war sie dem Kindesalter entwachsen, fand Éomer. Allerdings war sie auch noch keine Frau. „Sie fürchtet sich, Théodred. Sie fürchtet sich davor, jene Menschen zu verlieren, die in ihrem Herzen wohnen, so wie einst des Königs Schwester ihren Gatten verlor. Sie fürchtet sich davor, weder sich selbst noch einen von uns schützen zu können, sollte der Tag je kommen …“

„Éomer, geschätzter Vetter, ich verstehe was du mir zu sagen versuchst. Doch kann ich mir nicht vorstellen, dass mein Vater sein Einverständnis zur Ausbildung geben wird. Nicht in diesem Jahr und vielleicht auch noch nicht im kommenden.“

„Wir könnten sie zunächst mit Holzschwertern üben lassen, bis sie die Grundbewegungen beherrscht. Es wäre harmlos“, versuchte Éomer die Stimme seines Vetters für sich zu gewinnen.

„Und lächerlich“, ergänzte Théodred. „Sie würde sich wie ein veralbertes Kind fühlen und das weißt du. Wir haben als Kinder mit Holzschwertern gespielt. Das wird nicht ihrer Vorstellung entsprechen.“

„Es wäre doch nur für eine gewisse Zeit, bis der König …“ Éomer hielt inne, als ihm die Sinnlosigkeit seiner eigenen Worte bewusst wurde. Sein Vetter hatte vollkommen recht mit seiner Einschätzung Éowyns. Sie würde sich niemals mit derart banalen Übungen zufriedengeben.

„Du kannst ihren Wunsch gerne vortragen, aber ich erinnere mich noch wie du bitten und betteln musstest und wie mein Vater hart blieb, bis er der Ansicht war, du hättest das richtige Alter erreicht.“ Théodred hielt einen Moment inne, erlaubte Éomer sich an jene Zeit zu erinnern. „Wenn es ihr Wunsch bleibt, wird sie ihre Ausbildung zu gegebener Zeit bekommen. Sie muss sich einfach noch etwas gedulden, so wie es jeder von uns tun musste.“ Damit war das Thema für Théodred erledigt und er ging wieder in Angriffsposition.

Was sollte er nur Éowyn sagen? Er hatte ihr versprochen mit dem König zu sprechen. Er hatte die Hoffnung in ihren Augen gesehen. Um ein Haar traf ihn Théodreds Schwert, doch es gelang ihm gerade noch, den unerwarteten Seitenhieb mit dem eigenen Schwert abzublocken. Trotzdem lag Éomer keine zehn Minuten später rücklings auf dem Boden, die Spitze des Schwertes seines Vetters zeigte auf seinen Kehlkopf. Er hatte den Kampf verloren.

„Wenn du mich das nächste Mal herausforderst, sorge dafür, dass deine Gedanken beim Kampf sind. Du musst lernen dich auf die Situation zu konzentrieren, Éomer, sonst kostet es dich eines Tages das Leben.“

Am liebsten wollte Éomer widersprechen, doch er wusste natürlich, dass Théodred nur sein Bestes im Sinn und außerdem recht hatte. Er musste lernen seine Gedanken abzuschalten, sobald er in einen Kampf verwickelt war. Egal ob dieser nun Training oder blutiger Ernst war.

~

Wenig später trug Éomer beim gemeinsamen Frühstück dennoch Éowyns Wunsch an den König heran. Théoden wischte sich den Mund, rieb nachdenklich die Fingerspitzen der rechten Hand aneinander und blickte schließlich seine Schwestertochter direkt an, anstatt ihren Bittsteller.

„Sieh mich an, Kind“, bat er Éowyn, deren Augen starr vor Unsicherheit auf ihrem silbernen Teller ruhten.

Nur zögerlich wagte sie es dem König ins Gesicht zu blicken. Éomer konnte sehen, dass sie fürchtete verspottet zu werden. Schon allein die vom König gewählte Anrede schien das bisschen gehegte Hoffnung zu zerschmettern.

Des Königs Blick war sanft und gutmütig, ja eigentlich schon väterlich, wie Éomer beruhigt feststellte, auch wenn eine gewisse Strenge in seiner Stimme lag. „Es wird der Tag kommen, Éowyn, da du alt genug bist ein Schwert zu führen, doch dieser Tag ist nicht heute. Wenn der Tag kommt, werde ich stolz sein, dir dein erstes Schwert zu überreichen und du wirst verstehen, warum ich deine Bitte zum heutigen Tag ablehnen muss. Dein Mut ist bewundernswert und deine Gründe erfüllen mich mit dem Stolz, der einem Vater gebührt. Doch auch Éomund hätte nicht gewollt, dass ich seine geliebten Kinder vorzeitig das Töten lehre.“ Der König sah, dass Éowyn ein Aber auf den Lippen hatte, fuhr daher umso nachhaltiger und auch bestimmter fort. „Den Kampf mit dem Schwert zu lernen, bedingt immer der Bereitschaft einem anderen Geschöpf das Leben zu nehmen. Sei dies zur Selbstverteidigung oder in Absicht. Du magst glauben, dass es Ruhm und Ehre mit sich bringt eine Schildmaid Rohans zu sein, doch vertraue mir, meine liebe Éowyn, die Bürde des Tötens wiegt deutlich schwerer. Einmal ein Leben genommen, wirst du es nicht wieder rückgängig machen können und es wird dich für immer verändern.“

Den letzten Satz sprach der König wieder deutlich gutmütiger, doch dadurch fühlte sich Éowyn kein bisschen besser.

Éomer verstand des Königs Entscheidung besser als ihm lieb war. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er den ersten Bilwiss erschlagen hatte. Natürlich war ein Bilwiss kein Geschöpf, um das man hätte allzu sehr trauern müssen. Dennoch hatte es ein seltsam, ungutes Gefühl in Éomer hinterlassen. Es war etwas Anderes, wenn man Tiere erlegte, um ihr Fleisch zu essen und ihr Fell zu verarbeiten. Éomer hatte seiner Schwester einst die Felle zweier Schneehasen von der Jagd mitgebracht, die eine Schneiderin ihr zu herrlichen Handschuhen verarbeitet hatten, welche ihre Hände im Winter wärmten. Dies war der Kreislauf des Lebens.

Bilwisse, Orks und selbst Warge waren dunkle Geschöpfe, die nichts als Tot und Verderben über die Lande brachten. Er hatte gelernt sie zu töten und ihre Kadaver anschließend zu Hauf zu verbrennen. Éomer war sich jedoch nicht sicher, ob er sich seine liebliche Schwester so kaltblütig mordend vorstellen wollte.

Théodred warf über den Tisch hinweg einen mitfühlenden Blick in Éowyns Richtung, doch sie schenkte ihm keine weitere Beachtung. Überhaupt regte sie sich nach der Ausführung des Königs nicht mehr und ließ ihr Frühstück unberührt. Kaum, dass der König den Speisesaal verließ, eilte auch Éowyn hinaus und floh eilends in ihr Gemach, wo sie ihrem Kummer freien Lauf lassen konnte.

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Gríma, die rechte Hand des Königs, ging vor der Tür zu Éowyns Gemach nervös auf und ab. Éomer beobachtete ihn aus sicherer Entfernung, stand verborgen, nahe des Treppenaufgangs. Er spähte um die Ecke und hörte, wie Gríma etwas flüsterte, das er jedoch aus der Entfernung nicht verstehen konnte. Gerade als Gríma an Éowyns Tür klopfen wollte, trat Éomer aus seinem Versteck in den offenen Korridor hinaus.

„Was wollt Ihr von meiner Schwester, Gríma?“, verlangte er zu erfahren und erkannte, dass sich der Ratgeber des Königs ertappt fühlte.

Dennoch straffte der blasse Mann seine Schultern. „Nun“, begann er in honigsüßem Ton, „Eure Schwester wirkte aufgebracht, als sie vor wenigen Minuten auf den Stufen beinahe in mich hineingelaufen wäre.“

„Und Ihr glaubt, Sie will Euren Trost?“ Éomers Stimme klang erhaben, fast arrogant. „Geht und steht dem König mit Rat zur Seite, während ich mich um das Wohl meiner Schwester kümmere.“

Gríma missfiel eindeutig der Ton, der ihm entgegenschlug, doch wusste er, dass er als Ratgeber des Königs im Rang immer noch unter Éomer stand. Er reckte trotzig das Kinn, wie Éomer zufrieden feststellte und senkte dann sein Haupt, ehe er, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, davon huschte.

Etwas an Gríma war Éomer zuwider, er konnte nur noch nicht genau sagen, was es war.

Den Gedanken abschüttelnd klopfte er schließlich an Éowyns Tür.

„Verschwinde!“, drang dumpf ihre erzürnte Stimme zu ihm hinaus auf den Korridor.

„Ich bin es, Éomer. Lass mich ein, Schwesterherz.“

Eine Reaktion blieb aus. Éomer verharrte einige Momente wartend, dann klopfte er erneut. „Lass mich ein. Ich bitte dich.“

Mit einem Mal wurde die Tür aufgerissen und er sah in das zornige, verweinte Gesicht seiner Schwester.

„Du hast nicht mal versucht ihn zu überzeugen!“ Und damit wollte sie ihrem Bruder die Tür wieder vor der Nase zuschlagen, doch Éomer stellte rasch einen Fuß in den noch offenen Spalt.

„Er ist der König, Éowyn. Ich kann doch nicht meinem König widersprechen“, erklärte Éomer sich zerknirscht. „Lass mich ein und wir reden in Ruhe und unter vier Augen darüber.“ Er sah sich im Korridor um und glaubte einen Schatten hinter jener Ecke verschwinden zu sehen, in welcher er sich selbst kurz zuvor verborgen hatte. „Wir werden belauscht“, flüsterte er seiner Schwester dann zu.

Éowyn zögerte noch einen Moment. Wenn er gewollt hätte, wäre er einfach in ihr Gemach getreten. Sie vermochte nicht wirklich ihn davon abzuhalten und das wussten sie beide. Schließlich gab Éowyn nach und verriegelte hinter ihrem Bruder die Tür.

„Wer hat uns belauscht?“, wollte sie wissen, sobald sie unter sich waren.

„Gríma“, raunte Éomer. „Es scheint, er ist zunehmend von dir angetan.“

Éowyn erschauderte sichtlich bei seinen Worten. „Eher sterbe ich, als dass mich dieser …“

„Sshh“, beruhigte er seine Schwester sofort. „Er wird niemals Hand an dich legen. Nicht so lange ich lebe.“ Éowyn warf sich in Verzweiflung an seine Brust und suchte instinktiv Schutz bei ihm. Éomer legte seine Arme um ihre zierliche Gestalt und streichelte ihren Rücken. „Es tut mir leid, dass ich heute nicht mehr für dich tun konnte.“

„Ich hasse es mich so zu fühlen“, murmelte sie in seine dunkelgrüne Tunika und klammerte sich noch fester an ihn.

„Solange du dich nicht selbst verteidigen kannst, werde ich eben umso mehr auf dich achten. Du wirst sehen, die nächsten Jahre gehen schnell vorüber und dann wirst du deine Ausbildung bekommen.“

Sie löste sich ein Stück weit von ihm und sah ihm direkt in die Augen. Ihre Wimpern waren verklebt von Tränen, ihre Augen gerötet. „Was, wenn er sich mir nähert, wenn du nicht da bist? Wenn du mit Théodred auf der Jagd bist und ich hier allein bin? Wie soll ich mich gegen ihn zur Wehr setzen? Ich weiß gar nicht, was er von mir will. Aber sein Blick verursacht mir Gänsehaut.“

Als Mann wusste Éomer nur zu gut, was Gríma in seiner Schwester sah. Sie wurde von Tag zu Tag schöner, liebreizender und weiblicher. „Er bewundert deine Anmut“, erklärte Éomer so unschuldig es ihm möglich war.

„Grímas Blicke sind voller Wollust“, erwiderte sie angeekelt. „Es scheint, dass er mich bereits als Frau wahrnimmt. Wir beide dürfen schon lange kein Bett mehr teilen. Und dennoch behandelt mich jeder Mann hier wie ein Kind.“ So plötzlich wie sie Schutz in den Armen ihres Bruders gesucht hatte, stieß sie ihn wieder von sich und ging hinüber zum Fenster. Ihr Blick schweifte über Edoras und noch darüber hinaus. Sie fühlte sich eingesperrt, wie ein Vogel im Käfig.

„Du bist kein Kind mehr“, erwiderte Éomer leise, beinahe flüsternd und trat hinter sie. Über ihren Kopf hinweg folgte er ihrem Blick, während seine Hände sie an den Schultern hielten. „Du wirst bald feststellen, dass Gríma bei weitem nicht der einzige Mann bleiben wird, dem deine wachsende Reife auffällt. Es werden Männer kommen, die dich zur Frau nehmen wollen und dem König ihre Aufwartung machen werden.“

„Ich will nicht, dass mich jemand so ansieht. Es gefällt mir nicht, wie ich mich dabei fühle.“

Éomer lächelte bei ihren Worten und platzierte einen Kuss auf ihr Haupt, genau dort am Hinterkopf wo sich die beiden geflochtenen Zöpfe trafen, die wie eine sanfte Krone ihre Schläfen verließen und über ihren zarten Ohren entlang verliefen. „Siehst du“, flüsterte er nun, „du bist noch keine Frau. Nicht, wenn du nicht genießen kannst, dass dich Männer begehren. Es werden nicht alle wie Gríma sein und irgendwann wird einer kommen, der auch dir gefallen wird.“

Sie lehnte sich nach hinten gegen seine Brust, griff nach seinen Händen und führte sie um ihre Taille. „Ich hoffe, dass niemals einer kommen wird, der mich von hier wegbringt. Ich wünschte, wir könnten für immer zusammen hierbleiben.“

Oh, wie sehr er diesen Wunsch doch mit ihr teilte. Er würde ihre Unschuld so gerne für immer bewahren und die Zeit anhalten können. Doch er wusste, dass er sie eines Tages ihrem zukünftigen Mann würde übergeben müssen. Ebenso wie er irgendwann für sich selbst eine Frau finden und eine eigene Familie gründen musste, wenn er den Fortbestand seiner Blutlinie bewahren wollte.
An der Schwelle zur Frau by Nadia
Die kommenden Tage zog sich Éowyn weitestgehend zurück. Sie gab vor, sich unwohl zu fühlen und die Männer hakten nicht weiter nach. Éomer sorgte sich jedoch zunehmend um seine Schwester, die täglich melancholischer zu werden schien und schickte schließlich nach ihrer Amme, die dieser Tage immer seltener nach Éowyn sah, da sie kein Kind mehr war und daher keinen Bedarf mehr hatte, Elfrun zu sehen. Éowyn hatte inzwischen eine Magd, ein Mädchen in ihrem Alter, das ihr bei den Alltäglichkeiten helfend zur Seite stand. Da sich seine Schwester jedoch zunehmend zurückzog, hielt Éomer den Besuch der erfahrenen Amme für ratsam.

„Ihr habt nach mir schicken lassen, Herr?“ Elfrun stand in der Goldenen Halle am Tisch neben Éomer, der von seinem Krug abließ und der Frau anbot, sich zu ihm zu setzen. Zögerlich ließ sich die Frau mittleren Alters auf den Stuhl neben ihm sinken. Er kannte Elfrun nun schon viele Jahre. Sie war fast schon ein Mitglied der Familie, aber eben nur fast. „Es geht um meine Schwester“, sagte er und trank einen Schluck Met. Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund und stellte den Krug zurück auf den massiven Holztisch, der Platz für mehr als zwanzig Männer bot. „Sie ist in letzter Zeit sehr – wie soll ich sagen? – eigensinnig.“

Elfrun nickte, wartete ab.

„Es fällt mir schwer, selbst mit ihr darüber zu sprechen. Sie weicht mir seit einigen Wochen aus. Ebenso dem König und ihrem Vetter …“

„Wie kann ich Euch dabei helfen, Herr?“, wollte sie mit gutmütiger Neugierde wissen.

Éomer machte sich noch ein bisschen gerader und streckte die noch jungenhaften Schultern durch. „Ich fürchte, meine Schwester hat ein Frauenleiden, von welchem nur Ihr sie zu heilen vermögt.“

Elfrun hatte alle Mühe nicht amüsiert zu lächeln. Sie wollte nicht respektlos erscheinen. „Ein Frauenleiden?“

Unbeholfen räusperte sich Éomer daraufhin. „Ihr wisst schon …“, begann er und gestikulierte dabei. „Sie verhält sich unwirsch und ist schnell gereizt. An anderen Tagen sieht sie aus, als weine sie den halben Tag und dies scheinbar grundlos.“

„Grundlos sicher nicht“, warf Elfrun nachdenklich ein. „Es ist manchmal schwer für junge Mädchen, wenn sie sich an der Schwelle zur Frau befinden“, räumte die Amme ein. „Erinnert Euch doch nur daran, wie Ihr Euch selbst diesem Alter gefühlt habt. Kein Kind mehr, aber doch auch noch kein Mann …“

Éomer zog die Stirn kraus und schüttelte schließlich den Kopf. Ein Teil von ihm schien Éowyn zu verstehen, doch der andere fand ihr Verhalten dennoch mehr als seltsam.

„Ich werde gerne mit ihr sprechen“, bot die Amme schließlich zu seiner Erleichterung an.

„Habt Dank, Elfrun.“

~

Die Amme klopfte beherzt an Éowyns Schlafgemach. Es dauerte einige gedehnte Augenblicke bis ihr geöffnet wurde. Éowyns zunächst mürrisches Gesicht erstrahlte in einem Lächeln, sobald sie ihre alte Amme erblickte. Sofort umarmten sich die beiden, ehe Éowyn ihren Gast hereinbat und hinter Elfrun die Tür schloss.

„Wie geht es dir, Kind?“ Elfrun war nie jemand gewesen, die lange um den heißen Brei redete. Sie hatte einen klaren Auftrag, den sie zu erfüllen gedachte. Vielleicht ihren letzten, überlegte sie etwas wehmütig. Jetzt da Éowyn sie im Grunde nicht mehr brauchte, hatte sie darüber nachgedacht, wieder in ihre alte Heimat Rem zu ziehen. Mütterlich legte sie dem Mädchen ihre rechte Hand an die Wange.

Éowyn schmiegte sich für einen flüchtigen Moment in die raue Handfläche und schloss die Augen. „Gut“, erwiderte sie dann. „Ich vermisse dich.“

Etwas Schöneres hätte sie ihrer alten Amme kaum sagen können. „Mir geht es genauso, Kind.“ Beide seufzten sie, ehe sie, in Ermangelung anderer Sitzgelegenheiten, nebeneinander auf Éowyns Bett Platz nahmen. „Man sagt, du seist in letzter Zeit etwas eigensinnig geworden.“

„Das war ich doch schon immer.“ Éowyn zuckte die Schultern. „Mein Bruder hat dich geschickt, nicht wahr?“

„Möchtest du mir erzählen was geschehen ist?“, fragte Elfrun, anstatt zu antworten.

Das Mädchen ließ sich nach hinten aufs Bett fallen und starrte für einen langen Moment an die hölzerne Zimmerdecke. „Sie behandeln mich wie ein Kind. Ich darf noch keine Schildmaid werden, wie es anderen Frauen vor mir gestattet wurde. Ich habe immer noch dieses lahme Pony, weil man mir nicht zutraut auf einem ausgewachsenen Pferd zu reiten, dabei könnte ich mich locker auf Brego oder Feuerfuß halten. Striegeln darf ich die Pferde, aber nicht reiten. Das ist einfach …“ Sie seufzte theatralisch und stützte sich auf die Ellbogen, um Elfrun wieder ansehen zu können.

„Beide Pferde sind viel zu groß und zu wild für dich. Mit Oscar hast du ein treues Tier, das dich nie im Stich lassen wird.“ An Éowyns Gesichtsausdruck vermochte es Elfrun deutlich zu erkennen, dass dem Mädchen nicht gefiel, was die Amme ihr sagte. „Du wirst noch ein ausgewachsenes Pferd bekommen, wenn du alt genug dafür bist.“

„Du bist nicht besser als mein Bruder oder der König!“, begehrte Éowyn zornig auf. „Ich hasse es, dass mich alle Welt wie ein Kind behandelt. Ich wünschte Mutter wäre noch am Leben.“

Dem Wunsch konnte Elfrun nur zustimmen. Gerade jetzt befand sich Éowyn in einem sehr schwierigen Alter. Wäre sie als einfaches Mädchen aufgewachsen, würde sie sich weniger schlecht als jetzt fühlen, daran hegte die Amme keine Zweifel. Adlige Mädchen lernten Sticken und Singen, während jene aus den unteren Gesellschaftsschichten im Haushalt helfen oder gemeinsam mit und für die Eltern arbeiten mussten. Sie hatten keine Zeit sich den Kopf über derlei Banalitäten zu zerbrechen, die purer Luxus waren. Für Éowyn brach eine Welt zusammen, weil sie kein Schwert führen und kein ausgewachsenes Pferd reiten durfte. Sie machte sich keinerlei Gedanken darüber, dass ihre Magd kaum älter als sie selbst war und bereits arbeiten musste, um täglich Nahrung und Obdach zu haben. „Du solltest dankbar sein, Kind. Der König versucht dich zu schützen und bietet dir ein sicheres Heim.“

„Das ist mir bewusst.“ Éowyn legte sich wieder flach hin. „Es macht mich wahnsinnig immer hier in Meduseld zu sitzen und kaum die weiten Lande Rohans erkunden zu dürfen, von denen mein Bruder immer so schwärmt. Éomer und Théodred reiten ständig mit den Eored aus, um Orkbanden zu jagen und die Grenzen zu sichern. Und ich muss hier zurückbleiben und kann nichts weiter tun, als mir große Sorgen um sie zu machen.“

„Du würdest lieber mit ihnen reiten?“

„Ja!“ Éowyn setzte sich wieder vollends auf und sah die Amme durchdringend an. „Genau das ist mein Wunsch.“

Von wem sie diese Kampfeslust wohl geerbt hatte? Elfrun schüttelte traurig den Kopf.

„Ich hasse es in diesen Körper gesperrt zu sein und wünschte ebenfalls als Junge geboren zu sein.“

Ein mütterliches Lächeln huschte über Elfruns Züge. „Dabei bist du ein so schönes und kluges Mädchen, das es mit Leichtigkeit mit jedem Jungen aufnehmen kann. Du musst nur geduldiger werden, meine Liebe. Du wirst deinen Weg noch gehen. Ganz bestimmt.“

Éowyn lehnte sich an Elfruns Schulter. „Immer zu muss ich warten.“

„Ich weiß, mein liebes Kind. Ich weiß …“ Elfrun tätschelte ihr die Wange, ehe sie den Arm um das Mädchen legte.

~

Weitere Tage zogen ins Land. Eisige Winde kamen vom Norden her und brachten heftige Schneefälle mit sich. An einem der sonnigeren Tage wollte Éomer seine Schwester zu einem gemeinsamen Ausritt durch die zauberhafte Winterlandschaft abholen. Sie mochte den Winter mehr als den Sommer mit seiner drückenden Hitze.

Er klopfte an ihre Tür, bekam jedoch keine Antwort. „Éowyn? Bist du da? Lass uns ausreiten und das herrliche kalte Wetter genießen.“ Unsicher, ob sie in ihrem Gemach war oder nicht, presste er das linke Ohr gegen die massive Tür und lauschte angespannt. „Schwesterherz? Geht es dir gut?“ Weitere angespannte Augenblicke verstrichen und dann meinte Éomer ein leises Wimmern vernommen zu haben. „Ich komme jetzt rein!“, warnte er sie nur und stieß die Tür auf.

Éowyn lag weinend in ihrem Bett. Das Gesicht von ihm abgewandt, um ihn nicht ansehen zu müssen. Sofort trat er zu ihr ans Bett und setzte sich darauf. Allerdings erschrak er, als es feucht unter seiner linken Hand wurde, mit der er sich auf der Matratze abstützte. „Was in Morgoth‘ Namen?“ Er hob die Hand und sah sie erschrocken an, da sie blutverschmiert war. Rasch sprang er wieder auf. „Éowyn …“

Sie presste die Augenlider fest aufeinander. „Verschwinde“, raunte sie nur. „Lass mich allein.“

„Bist du verletzt? Sprich? Hast du heimlich mit meinem Schwert geübt und dich dabei verwundet?“ Die Besorgnis stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Grob griff er nach den Schultern seiner Schwester und riss sie zu sich herum, so dass er ihr ins Gesicht sehen konnte. Die Augen waren rot und geschwollen vom Weinen. „Nun sprich endlich mit mir!“

„Ich sterbe, Éomer! Und es gibt nichts, was du tun könntest. Also lass mich allein!“, schrie sie ihn mit schriller Stimme an und wandte sich erneut von ihm ab.

Ungläubig schüttelte er den Kopf und taumelte erschüttert einige Schritte rückwärts. In seinem Rücken spürte er das Feuer, das im Kamin prasselte und das Gemach in warmes Orange tauchte. „Das lasse ich nicht zu!“ Er drehte sich auf dem Absatz und um zog die Tür lautstark hinter sich zu.

Éowyn krümmte sich unterdessen vor Schmerzen im Unterleib und weinte bitterlich ob der Hoffnungslosigkeit.

~

König Théoden seufzte und legte seiner Schwester Sohn beruhigend die großen Hände auf die noch jungen Schultern. „Sie wird zur Frau, Éomer. Ich hatte gehofft, dass Elfrun bereits mit ihr darüber gesprochen hätte. Ich nahm an, dass sie längst damit vertraut sei.“

„Vertraut? Womit?“ Éomer verstand kein einziges Wort aus des Königs Mund. Er kam sich zugleich töricht und hilflos vor.

„Geh und hole Elfrun. Sie soll sich um Éowyn kümmern. Sie wird wissen, was zu tun ist. Sag ihr, dass deine Schwester ihre erste Blutung hat.“

„Die erste Blutung? Von wie vielen? Wird sie das überleben?“

Théodred lachte hinter vorgehaltener Hand und fing sich daraufhin sowohl von seinem Vater als auch von seinem Vetter einen strafenden Blick ein.

„Hast du nie mit ihm darüber gesprochen, Théodred?“, fragte der König seinen Sohn, dem das Lachen verging, ehe er ernst den Kopf schüttelte.

„Ich nahm an, dass du das tun würdest.“

„Du bist wie ein großer Bruder für die beiden. Du hättest zumindest Éomer aufklären können.“ Der König sah seinen Sohn vorwurfsvoll an.

„Ich weiß Bescheid“, wandte sich Éomer in das Gespräch ein. „Théodred ließ mich wissen, dass ich meinen Samen niemals in den Leib einer Frau ergießen darf, solange ich nicht vorhabe sie zur Mutter meiner Kinder zu machen.“

König Théoden fuhr sich fahrig durch das weißblonde Haar und schloss für einen bedächtigen Moment die Augen. „Geh und hole Elfrun, damit sie sich um deine Schwester kümmert und ihr alles Nötige erklärt. Dann kommst du wieder zu mir und ich werde mich deiner ausführlichen Aufklärung annehmen. Da mein Sohn“, erneut warf der König Théodred einen vorwurfsvollen Blick zu, „das Thema offenbar nur angeschnitten hat.“ Er hatte sehr gehofft, dass dieser Kelch an ihm vorbeigehen würde. Es war ihm vor Jahren bereits schwer gefallen, seinen Sohn über diese Dinge zu unterrichten. Allerdings war es wichtig, dass Éomer alles darüber erfuhr. Schließlich gehörte er dem Adelshaus an. Königliches Blut floss durch seine Adern. Théoden durfte nicht riskieren, dass er einen Haufen Bastarde in diese Welt setzte, die irgendwann Ansprüche erheben würden.

~

„Nach ein paar Tagen ist es vorbei, Kind. Aber es wird wieder beginnen. Einmal im Monat wirst du für ein paar Tage bluten, doch das muss dich jetzt nicht mehr erschrecken. Gegen die Krämpfe gibt es einen wunderbaren Kräutertee, den ich dir gleich zubereiten werde. Außerdem wird es gut tun, wenn du dir eine Wärmflasche auf den Unterbauch legst“, erklärte Elfrun in einer Ruhe, die sofort auf Éowyn abfärbte.

„Du meinst, ich muss nicht sterben?“

Elfrun lachte gutmütig auf. „Himmel nein, Liebes. Es bedeutet nur, dass du selbst fortan Kinder gebären kannst.“ Das Wort ‚wieso‘ stand dem Mädchen übers ganze Gesicht geschrieben. „Niemand weiß genau, weshalb es so ist. Doch schon bei den Tieren wurde beobachtet, dass die Weibchen regelmäßige Blutungen haben und erst dann für die Empfängnis bereit sind. Du hast doch schon bei der Züchtung von Pferden zugesehen, nicht wahr?“

Éowyn nickte, immer noch ein wenig blass um die Nasenspitze, die Augen wurden jedoch groß wie Teller, als ihr die Größe des Geschlechts eines ausgewachsenen Hengstes in Erinnerung kam.

„Mach dir keine Sorgen, liebe Éowyn. Noch bist du zu jung. Aber es wird der Tag kommen, da dich ein Mann zur Frau nehmen und seinen Samen in dich pflanzen wird.“

Erneut rief sich das Mädchen die Pferde in Erinnerung und schüttelte fassungslos den Kopf. „Das will ich nicht.“ Sie dachte daran, wie Gríma sie immerzu ansah und bekam sofort eine Gänsehaut am ganzen Leib.

„Du wirst deine Freude daran haben, vertrau mir. Vielleicht nicht beim ersten Mal. Das könnte ein wenig schmerzhaft sein. Es scheint jedoch allein am Mann zu liegen, ob es dir Freude bereitet oder nicht.“

„Woher weißt du das?“

„Frauen reden, Kind. Es gibt in der Stadt einige Dirnen, die Männer für ein paar Münzen zu sich ins Bett lassen. Und die erzählen bei Weitem die interessantesten Geschichten, manchmal allerdings auch sehr besorgniserregende. Aber gute Männer, wie meiner einer war und wie deiner einer sein wird, die achten darauf, dass es auch der Frau gefällt.“ Elfrun erkannte am Gesicht des Mädchens, dass sie viel zu ausschweifend geworden war. Sie würde Éowyn gerne sagen, dass sie ihr in ein paar Jahren mehr darüber erzählen würde, aber sie wusste nur zu gut, dass sie dann nicht mehr in Edoras leben würde. Sie hatte ihre Abreise bereits für den kommenden Frühling geplant, wenn der kalte Winter die Lande verließ und es wieder wärmer wurde. „Jetzt mach dir deshalb keine Gedanken mehr. Es werden noch Jahre vergehen, bis es soweit sein wird.“ Zumindest hoffte sie, dass Éowyn noch Zeit zum reifen hatte.

~

Dank Elfrun wusste Éowyn nun also, dass sie nicht sterben würde. Jedenfalls nicht an der monatlichen Blutung. Ihre ehemalige Amme hatte ihr gezeigt, wie sie sich und ihre Kleidung sauber halten konnte. Trotzdem fühlte sie sich nicht wohl in der eigenen Haut und verdammte es einmal mehr, dass sie nicht als Junge zur Welt gekommen war. Sie würde jedoch zurechtkommen und das allein zählte.

Von Éomer ließ sie sich dieser Tage dennoch nicht besuchen. Sie fand, dass ihr Körper durch die Blutung unangenehm roch und sie ertrug es nicht, wenn er ihretwegen die Nase rümpfte. Ihr Onkel gab sich verständnisvoll und erlaubte es ihrer Magd, dass diese ihr das Essen aufs Zimmer brachte.

Manchmal glaubte Éowyn am Abend, dass sie Schritte vor ihrem Gemach hören würde. Schleichende Schatten bewegten sich vor ihrer Tür, doch niemand wagte es anzuklopfen. Und sie hoffte, dass es Éomer und nicht Gríma war.
Jugendlicher Übermut by Nadia
Éowyns schlechte Laune verging nach einigen Tagen, doch sie blieb zurückgezogen in ihrem Gemach. Sie schämte sich für ihr Verhalten in den vergangenen Tagen. Elfrun hatte ihr zwar versichert, dass es ganz normal sei, sich allgemein unwohl zu fühlen, wenn die Blutungstage bevorstanden und auch manchmal noch einige Zeit danach, aber das beruhigte das Mädchen in keiner Weise.

Sie hatte sich nach eigenem Empfinden lächerlich gemacht und wie ein unreifes Kind aufgeführt. So würde es ihr niemals gelingen den König zu überzeugen, dass man sie nicht anders behandeln sollte als die Jungen in ihrem Alter. Sie hatte sich wie ein weinerliches Waschweib aufgeführt. Deshalb, so glaubte sie, hatte sie allen Grund sich zu schämen.

Unruhig, wie ein eingesperrtes Tier im Käfig, schritt sie in ihrem Gemach vor dem Kamin auf und ab. Das Feuer spendete angenehme Wärme, während draußen die Tage immer kürzer und auch dunkler, vor allem aber auch kälter wurden. Eisige Winde rissen an den Fensterläden mit den aufwändigen Schnitzereien, so dass sie lautstark klapperten und Éowyn so manches Mal erschreckten. Wenn sie durch das trübe Fenster hinaussah, erblickte sie nichts weiter als Schneewehen, die um den Hügel tanzten, auf dem Meduseld stolz emporragte. So manches Mal fürchtete sie fast, die Winterstürme würden die Goldene Halle mit sich hinfort reißen.

~

Am zehnten Tag ihrer selbstauferlegten Isolation klopfte eine hörbar starke Faust an ihre Tür. Das Mädchen erschrak gleichsam und wandte sich von dem offenen Fenster ab, durch welches vereinzelte Schneeflocken in ihr Gemach schwebten, um die Tür zu öffnen. Der König selbst stand vor ihrem Raum. Er wartete einen Moment auf ihre Erlaubnis eintreten zu dürfen. Kaum, dass sie ihm aus dem Weg ging und ihm wortlos Einlass gewährte, schritt er aufrechten Ganges an Éowyn vorbei. In der Mitte ihres Gemachs drehte er sich zu ihr herum und bedeutete ihr, die Tür wieder zu schließen. Sie gehorchte, obgleich noch kein Wort zwischen ihnen gefallen war.

„Wie geht es dir?“, erkundigte sich Théoden schließlich bei seinem Mündel und brach damit das nur allzu bedrückende Schweigen. Sein Auftreten zeugte von ehrlichem Interesse. Er stand aufrecht wie immer da, einem Fels in der Brandung gleich, und betrachtete Éowyn mit neutralem Blick. Die Hände hielt er auf dem Rücken verborgen.

„Besser“, war Éowyns knappe Erwiderung. Besser hieß noch lange nicht gut. Sie wollte sich noch nicht wieder unter Menschen wagen. Am liebsten würde sie für immer in diesen Räumen bleiben, so groß war ihre Scham.

Der König nickte zufrieden und reckte anschließend ein wenig das bärtige Kinn. Erste silberne Haare waren in dem ansonsten goldenen Haar verwoben. „Ich wünsche, dass du heute Abend wieder mit der Familie speist.“

Ihr Herz schien bei der Vorstellung allein einen Schlag auszusetzen. „Aber, ich …“, wollte sie da widersprechen und wurde jäh mit einem bloßen Blick in des Königs Augen unterbrochen. Sie schluckte ihre nächsten Worte hinunter, die einen bitteren Nachgeschmack in ihrem Hals hinterließen.

Théoden seufzte leise und machte zwei Schritte auf Éowyn zu, die nach wie vor bei der Tür stand und sich kein bisschen bewegt hatte. „Ich wünschte, meine Schwester, deine geliebte Mutter, würde noch unter uns weilen, Kind. Ich erinnere mich noch gut daran, dass auch sie sich in ihrer frühen Jugend ganz ähnlich gefühlt hat wie du dieser Tage.“

Das konnte sich Éowyn beim besten Willen nicht vorstellen. Ihre Mutter war in ihrer eigenen Erinnerung frei von jeglichem Makel. Dass ihre Mutter sich aufgrund ihrer Weiblichkeit jemals schlecht gefühlt hatte, konnte das Mädchen nicht bestätigen. Sie war eine so selbstbewusste und starke Frau gewesen, schön und klug und warmherzig. Nein, ihre Mutter war ganz anders als sie selbst gewesen.

„Du kannst mir glauben“, bekräftigte der König seine Worte. „Ich habe dir das nie erzählt, aber sie warf gelegentlich in ihrem Zorn Gegenstände nach mir.“ Bei der Erinnerung an jene längst vergangenen Tage lächelte Théoden unwillkürlich, während sein Blick durch sie hindurch zu dringen schien.

Éowyn Augen weiteten sich in Unglauben.

„Du bist ihr ähnlicher als du glaubst, liebste Éowyn.“ Er streckte versöhnlich die Hände nach dem Mädchen aus und es ergriff sie. Seine Hände waren riesig und rau, aber warm und sanft in ihrer Berührung. „Du erinnerst mich jeden Tag an meine geliebte Schwester, die ich mehr vermisse als ich in Worten ausdrücken könnte. Und gerade dieser Tage, da du dich von mir und deinem Bruder zurückgezogen hast, mehr denn je. Du bist der Sonnenschein in unseren Hallen, Éowyn, weißt du das denn nicht?“

Mit verschleiertem Blick schüttelte sie den Kopf und wagte es kaum, dem König länger in die Augen zu sehen. „Ich schäme mich so sehr“, flüsterte Éowyn da und salzige Tränen rannen aus ihren Augenwinkeln über ihre blassrosa Wangen.

Ohne zu zögern zog der König das junge Mädchen an die starke Brust und streichelte ihr über das hellgoldene Haar. „Du musst dich nicht dafür schämen, dass du zur Frau wirst. Niemand macht dir einen Vorwurf oder denkt in irgendeiner Weise schlecht von dir. Wir lieben und vermissen dich in unserer Mitte.“

Sie weinte einige Zeit an seiner Brust, bis all der Kummer endlich von ihr abließ und die Bedeutung seiner Worte allmählich in ihr Bewusstsein vordrang.

„Und sie hat tatsächlich Gegenstände nach Euch geworfen?“, fragte sie nach einem langen, schweigsamen Moment an des Königs Brust.

Théoden lachte tief, küsste die Stirn des Mädchens und sah ihr schließlich nickend in die Augen, sobald sie den schüchternen Blick zu ihm anhob. „Allerdings. Sie konnte zuweilen sehr jähzornig werden. Das soll aber nicht heißen, dass sie mir deshalb weniger bedeutet hat. Das darfst du nicht missverstehen. Ich will dir damit lediglich verdeutlichen, dass die Veränderungen, die du derzeit erlebst, normal und verständlich sind und dass niemand deswegen schlecht von dir denkt.“

„Auch Éomer nicht?“

„Ganz besonders nicht dein Bruder. Das Band zwischen euch ist ein ganz besonderes. So, wie es zwischen deiner Mutter und mir war. Es gibt nichts, das du sagen oder tun könntest, was eure Liebe zueinander schmälert.“ Die Stimme des Königs war besonnen und sanft. Éowyn fühlte sich bei seinen Worten gleich deutlich besser.

Nun war sie allerdings neugierig geworden. „Habt Ihr Zeit, mir ein wenig mehr über meine Mutter zu erzählen?“

Der König schenkte ihr ein väterliches Lächeln. „Was möchtest du denn wissen?“

Darüber musste Éowyn nicht lange nachdenken. „Erzählt mir bitte davon wie sie in meinem Alter war, ehe sie meinen Vater kennenlernte.“

Und der König kam ihrem Wunsch nur allzu gerne nach. Durch seine lebendige Erinnerung an sie, wurde der Schmerz des Verlustes ein wenig gelindert. Zu viele geliebte Menschen hatte er schon zu Grabe tragen müssen. Angefangen von seinen Eltern, über seine Schwester und schließlich seine geliebte Frau. Die aufkeimende Melancholie unterdrückend nahm er in dem Schaukelstuhl vor dem warmen Kaminfeuer Platz, während Éowyn es sich auf dem Bärenfell zu seinen Füßen bequem machte und jedem seiner Worte hingebungsvoll lauschte.

~

Täglich fiel mehr Schnee. Außerhalb der schützenden Wände der Goldenen Halle war es eisig. Der Wind pfiff von den Dächern. Edoras wirkte trotz der weißen Pracht leblos, da nur wenige Leute am Tag draußen unterwegs waren. Éowyn hatte es stets genossen, von einem der oberen Fenster auf die Stadt unterhalb Meduselds zu blicken und die Leute bei ihren täglichen Geschäften zu beobachten. Derzeit war jedoch kaum etwas los. Die Tage waren kurz, die Nächte schienen dafür endlos lang.

Sie zog an diesem Abend den Umhang enger um die schmalen Schultern, als sie ihre Gemächer verließ und hinab in die Methalle schritt, von wo sie die Stimmen ihres Bruders, die des Königs und auch die ihres Vetters vernahm. Ebenso erkannte sie die Stimme des Hauptmanns Gamling, der allem Anschein nach Bericht beim König erstattete. „Sie stehlen Pferde und Nahrung und brennen ganze Siedlungen nieder.“

Der König brummte daraufhin missmutig. „Nimm deine Éored, Gamling, und finde diese Bande!“

„Lass mich und Éomer ausziehen, Vater!“

„Ihr seid erst zurückgekehrt, Théodred“, hörte Éowyn den König streng sagen und verspürte selbst große Erleichterung. Sie litt jedes Mal Todesängste um ihren Bruder und ihren Vetter, wenn diese gemeinsam Orkbanden jagten. Keiner der Männer konnte nachvollziehen, wie bang ihr stets ums Herz wurde, wenn sie oft wochenlang nichts über den Verbleib jener wusste, die sie liebte.

Zu ihrem Verdruss blieb sie nicht unentdeckt, wenngleich sie sich noch außerhalb der Blicke der Männer befand. Es war Gríma, der sie zuerst bemerkte, der selten von des Königs Seite wich. Manchmal kam es vor, dass sie sich fragte, ob er über Zauberkräfte verfügte, da er scheinbar durch Wände blicken konnte. Er starrte so unverwandt in ihre Richtung, dass sie regelrecht erschauderte.

Éomer folgte Grímas Blick in ihre Richtung voller Argwohn, was Éowyn dazu veranlasste, die Schatten zu verlassen und ins goldene Licht der warmen Halle zu treten. Obgleich mehrere Feuerstellen die Halle wärmten, fröstelte es das Mädchen, als sie Grímas Blick weiterhin auf sich spürte. Sie stellte sehr bewusst keinen Augenkontakt zu ihm her, sondern zwang sich stattdessen, Éomers vertraute braune Augen festzuhalten.

Ihr Bruder streckte lächelnd die Hand nach ihr aus. „Schwesterherz, weshalb schläfst du nicht?“

Ja, es war später Abend, aber sie war längst kein kleines Kind mehr. Warum sollte sie bereits im Bett liegen und schlafen, wenn die Männer noch gemütlich beisammensaßen und sich berieten? „Ich fühle mich nicht müde“, erwiderte sie schlicht und trat zu Éomer hinüber, um sich auf die Lehne seines Stuhls zu setzen. Er legte ganz selbstverständlich einen Arm um ihre Taille und sah zu ihr auf. Sie beugte sich hinab und legte ihre Stirn gegen seine. So verharrten sie einen Moment, ehe die Stimme des Königs wieder die Aufmerksamkeit aller auf sich zog.

„Théodred, deine und Éomers Männer sollen sich erst erholen können.“ Beide jungen Männer nickten zustimmend, auch wenn sie anderer Meinung waren. Des Königs Befehl war eindeutig.

Hauptman Gamling nickte den Anwesenden zum Abschied zu und versicherte dem König, dass er die Orkbande finden und alsbald zur Strecke bringen würde.

„Sorgt dafür, dass die Überlebenden in Sicherheit gebracht werden und für den Winter Zuflucht finden“, wies Théoden seinen Hauptmann abschließend an.

„Sehr wohl, mein König“, nickte Gamling einmal mehr, deutete eine Verneigung an und verließ schließlich die Goldene Halle.

In dem kurzen Moment, da die große Flügeltür geöffnet wurde, ehe sie wieder krachend hinter Gamling zufiel, drang eine eisige Windböe herein und ließ einen Wirbel Schneeflocken ins Innere der Halle tanzen, wo diese sofort in der Wärme schmolzen noch ehe sie den Boden berühren konnten. Éowyn erschauderte ob der frostigen Kälte und spürte sogleich, dass ihr Bruder sie ein wenig enger zu sich heranzog, um sie zu wärmen.

Gríma beobachtete die beiden aus kühlen grauen Augen. Ihm missfiel, wie nah sich Bruder und Schwester standen. Éomer war ihm ohnehin ein Dorn im Auge, da er die unangenehme Angewohnheit hatte, immer dann aufzutauchen, wenn Gríma hoffte einen Moment allein mit dessen Schwester Éowyn verbringen zu können. Irgendwie musste er sich Éomers entledigen, ohne dabei in Misskredit beim König zu fallen. Unauffällig. Heimlich. Er wusste nur noch nicht wie. Noch nicht …

„Wenn es so weitergeht, müssen wir bald Heime für verwaiste Kinder in Edoras errichten“, murmelte der König vor sich hin, ehe er einen Krug Met vom Tisch nahm und einen großen Schluck daraus trank.

„Das ist eine ausgezeichnete Idee, mein König“, stimmte Gríma ihm sofort zu. „Die armen Kinder, die fortan ohne Eltern aufwachsen müssen, bedürfen besonderer Zuwendung.“ Sein Blick fiel während er sprach auf Éowyn, als wolle er sich versichern, dass sie seine Großherzigkeit wohlwollend zur Kenntnis nehmen würde.

Éowyn mochte die Idee ebenfalls, obgleich sie sonst ungern derselben Meinung war wie Gríma.

„Éowyn“, wandte sich der König an das Mädchen. „Traust du es dir zu, diese Aufgabe zu übernehmen?“

In ihrem Blick blitzte es auf. Jedoch eher aus Zorn, anstelle von Vorfreude. Selbstverständlich war dies eine jener Aufgaben, die der König typischerweise einer Frau anvertrauen würde. Ein Teil von ihr wollte sich dieser Aufgabe gerne annehmen, da ihr die Waisen leidtaten. Immerhin war auch sie selbst eine Waise, die großzügiger Weise von ihrem Onkel aufgenommen worden war. Der andere Teil wollte jedoch nicht in die Frauenrolle schlüpfen, die man ihr bereits jetzt anbot, da sie kaum erwachsen genug war. Um zu kämpfen war sie angeblich zu jung, aber die Errichtung eines Waisenhauses traute man ihr bereits zu. Dennoch nickte das Mädchen und gab ihr Einverständnis. „Selbstverständlich“, sagte sie selbstsicher.

König Théoden nickte erfreut. „Gríma wird dich bei allem unterstützen.“

Éowyn zuckte zusammen. Der Arm ihres Bruders um ihre Taille drückte sie für einen kurzen Moment. Was auch immer Éomer ihr damit zu sagen versuchte, sie wollte in diesem Augenblick nur weglaufen. Möglichst weit, weit fort!

~

Gríma blickte das Mädchen an seiner Seite voller Zuneigung und ehrlichem Stolz an. Ihre Herzensgüte war beispiellos. Sie würde ohne jeden Zweifel eines Tages eine gute Herrin abgeben. Die Schönheit ihrer Seele war ebenso schön wie ihre liebliche Gestalt. Obgleich sie noch zu jung war, träumte er seit einiger Zeit davon, sie eines schönen Tages zu ehelichen und endlich berühren zu dürfen.

„Starrt mich nicht so an!“

Die Stimme des Mädchens riss den Ratgeber des Königs jäh aus den beinahe unkeuschen Gedanken. Er deutete eine leichte Verneigung an und senkte schuldbewusst den Blick. „Verzeiht mir.“ Er ließ einen Moment verstreichen, ehe er fortfuhr und ihr ins Gesicht blickte. „Eure Großherzigkeit beeindruckt mich. Ihr seid Eurem Alter weit voraus. Für gewöhnlich haben Mädchen Eures Alters nicht das Wohl der Untergebenen im Sinn.“

„Ich sehe mich nicht als Herrin über das Volk Rohans“, erklärte sie schlicht. „Jedoch habe ich einen gewissen Einfluss, den ich geltend machen kann. Warum soll ich meine Zeit mit Stickereien und derlei typischen Frauentätigkeiten vergeuden, wenn ich etwas für das Volk des Königs tun kann? Insbesondere für jene Menschen, die Schutz und Zuflucht besonders dringend nötig haben? Die Kinder sind unschuldige Opfer, vollkommen verängstigt, hungrig und ohne Obdach.“

Gríma nickte sachte. „Ihr könnt Euch in diese Kinder besser hineinversetzen, als so manch Erwachsener hier.“ Damit nahm er den König nicht aus. Er musste es nicht aussprechen. Éowyn würde es auch so verstehen. Sie war ausgesprochen klug. Noch ein Grund, weshalb er sie zunehmend ins Herz schloss.

Ihr Weg führte sie durch die verschneiten Straßen Edoras‘, bis sie an der alten Handwerkskammer ankamen. Inzwischen gab es weiter unten am Fuß des Hügels eine neue, deutlich größere Handwerkskammer. Jene aus alten Tagen stand seit vielen Jahren mehr oder weniger unbenutzt da, diente nur noch gelegentlich als Vorratslager und Scheune. Éowyn blieb vor dem Gebäude stehen und betrachtete es nachdenklich.

„Was haltet Ihr davon?“, fragte sie den Ratgeber des Königs nach einiger Zeit.

Gríma zuckte leicht die knochigen Schultern. „Das Dach ist nicht mehr vollkommen dicht. Aber die Handwerkshallen sind geräumig. Vermutlich ist dieses Gebäude am ehesten geeignet zum Waisenhaus umfunktioniert zu werden.“ Éowyn öffnete nickend die Verriegelung der massiven Flügeltür, doch es mangelte ihr an Kraft, diese auch zu öffnen. „Erlaubt mir“, wandte sich Gríma sich daher in aller Form an sie und wartete bis sie zur Seite trat. Der dichte Schnee vor der Tür machte es auch Gríma nicht ganz leicht diese zu öffnen, doch schließlich gelang es ihm unter Aufwendung aller Kraft. Die Scharniere ächzten unter der Reibung und schrien nach Öl. Muffige Luft strömte ihnen aus dem Innern der verdunkelten Hallen entgegen.

Éowyn seufzte leise. Aus diesen Hallen ein wohnliches Waisenhaus zu machen würde Zeit brauchen. Aber sie war zuversichtlich, dass es ihr gelingen würde. Schließlich war sie das Mündel des Königs und bekam daher jede Hilfe, die sie brauchte. „Sucht die Dachdeckergilde auf, Gríma. Sie sollen noch heute damit beginnen, das Dach abzudichten.“

Gríma verneigte sich in aller Höflichkeit. „Wie Ihr wünscht, Herrin.“ Er sah sie noch einen Augenblick lang an, dann tat er einen Schritt rückwärts, drehte sich schließlich um und eilte davon. Während Éowyn noch im Eingang zur alten Handwerkskammer stand und Gríma sich bereits ein ganzes Stück von ihr entfernt hatte, wandte er sich nochmals zu ihr um. Sie zog den pelzigen Umhang enger um die Schultern und trat schließlich ins Dunkel der Hallen ein, verschwand aus seiner Sicht. Wie sehr er sich wünschte, sie würde eines Tages sein werden. Für den Moment musste er sich jedoch damit begnügen, ihr dienlich zu sein. Vielleicht, so hoffte er, würde sie durch die Zusammenarbeit sehen, dass er ein guter Mann war, ein würdiger Mann.
Die Barmherzige by Nadia
Dieser Tage hatten die Handwerksgilden in Edoras alle Hände voll zu tun. Die Schneiderinnen hatten den Auftrag erhalten Bettwäsche und Kleidung zu nähen, die Drechsler zimmerten ein Doppelbett nach dem anderen, um möglichst viele Schlafplätze für die Kinder bieten zu können. Auf dem Dach arbeiteten mehrere Handwerker daran, die losen Schindeln wieder zu fixieren und sämtliche Löcher zu stopfen. Der große Kamin im mittleren Hauptraum war gereinigt und zum Herd umgebaut worden. Mehrere Tische und Bänke waren davor aufgestellt worden, womit der Speisesaal so gut wie fertig war.

Éowyn half dem Töpfer dabei, das Geschirr aus dem Karren auszuladen, der seitlich vor dem neuen Waisenhaus stand. Sie war froh und dankbar, dass die Gilden und Handwerker teilweise bis in die späte Nacht daran arbeiteten, sämtliche Aufträge zu erfüllen.

Nach fünf langen Tagen war es geschafft. Aus den alten Handwerkshallen war ein Waisenhaus entstanden, das Betten für mehr als dreißig Kinder bot. Die Kammer rechts neben dem Speisesaal war für die Jungen vorbestimmt, die linke Kammer für die Mädchen. Der König hatte veranlasst, dass sich des Tags zwei Frauen um die Kinder kümmern würden und nachts würden zwei der Soldaten des Königs über sie wachen.

Die Kunde verbreitete sich schnell. Und so kam beinahe täglich eine neue Kutsche an, die verwaiste Kinder aus den umliegenden Dörfern brachten. Manche waren halb verhungert, andere schwer krank. Éowyn kümmerte sich um sie, so gut sie konnte und half den Ammen und Heilern bei der Versorgung. Manche Kinder waren bereits so schwach, dass sie ihre Suppen nicht selbst auslöffeln konnten. Und so fütterte Éowyn jene Kinder, deckte sie anschließend mit warmen Fellen zu, las oder sang ihnen vor.

Éomer bekam sie dieser Tage nur selten zu Gesicht. Er war jedoch stolz auf ihre Leistung, besonders unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Gríma ihr als Handlanger zur Seite gestellt worden war. Éomer hatte hin und wieder nach ihr gesehen, hatte dafür gesorgt, dass man Gríma im Auge behielt, damit dieser seiner geliebten Schwester nicht zu nahekam. Außer langen, sehnsüchtigen Blicken hatte Gríma es jedoch nicht gewagt, sich Éowyn zu nähern.

Die Wolken über Rohan brachten weiteren Schnee. Die Stadt auf dem Hügel lag unlängst unter einer dichten weißen Schneedecke begraben und wirkte friedvoll, beinahe wie verzaubert. Hier konnte Éomer durchaus vergessen, wie es in den umliegenden Landen zuging. Gerade zu dieser Jahreszeit trieben sich Orkbanden scheinbar besonders gerne durch ihre Ländereien, schlugen zum Teil ganze Herden von Wildpferden und rodeten Rohans Wälder.

Éowyn streichelte einem kleinen Jungen über das zerzauste Haar, nachdem sie ihm in ein frisches, wenn auch zu großes Leinenhemd geholfen hatte. Ihr Bruder stand am Eingang zur Schlafhalle der Knaben und beobachtete sie, ein sanftes Lächeln auf dem Gesicht. Der kleine Junge bedankte sich und drückte Éowyn herzlich. Erneut wuschelte sie ihm durch das nussbraune Haar und bemerkte schließlich ihren Bruder.

Sie trat zu ihm heran. „Hilfst du mir, die Kinder ins Bett zu bringen?“

Éomer schüttelte langsam den Kopf. „Ich würde gerne, aber ich muss selbst zeitig schlafen gehen. Théodred und ich brechen morgen vor Sonnenaufgang auf. Ich kam, um mich einstweilen zu verabschieden.“

„Du reitest schon wieder aus? Wann wirst du zurückkehren?“ Ungewollt schossen ihr Tränen in die Augen. Es war immer dasselbe. Jeder Abschied konnte ihr letzter sein. Jedes Mal fragte sie sich, ob er zurückkehren würde. Und wenn ja, ob tot oder lebendig.

Sofort zog Éomer sie in eine feste Umarmung und schmiegte seine Wange an ihr Haupt. „Ich hoffe, dass wir rechtzeitig zum Julfest zurück sein werden.“

Das Julfest zeichnete jene Tage aus, in denen die Menschen und zum Teil auch andere Völker Mittelerdes die Wintersonnenwende feierten – das Ende des vergangenen Jahres und den Beginn des kommenden. Stets gab es in der Nacht von Sonntag auf Montag ein riesiges Feuerwerk in Edoras, das man selbst in den entlegenen Gegenden Rohans zu sehen vermochte. So zumindest erzählte man es sich.

Éowyn war nie außerhalb Edoras‘ gewesen, um jene Erzählungen bestätigen zu können. Sie wollte zu jener Zeit auch niemals woanders sein. Die ganze Stadt wurde für das Julfest geschmückt, selbst die Bäume und Sträucher. In den Fenstern der Häuser standen Kerzen und es gab Essen und Trinken für alle. Es war die Zeit der Selbstlosigkeit und Nächstenliebe, in der es üblich war, vor allem die armen Menschen der Stadt zu beschenken.

„Du wirst sehen, ich bin zurück ehe du merkst, dass ich fort war“, flüsterte er ihr in das blonde Haar.

Daran zweifelte Éowyn, auch wenn sie mit dem Waisenhaus alle Hände voll zu tun hatte. Théoden hatte ihr diese große Aufgabe nicht umsonst zukommen lassen, doch davon ahnte das Mädchen nichts.

„Wenn dir Gríma zu nahekommt, sag es dem König. Er wird nicht zulassen, dass dir etwas geschieht.“

Allein seinen Namen zu hören, verursachte Éowyn eine Gänsehaut.

„Gebt auf euch acht und kommt unversehrt wieder“, bat sie ihn mit zitterndem Kinn und bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren, als sie auf und ihrem Bruder in die vertrauten braunen Augen sah.

„Versprochen“, lächelte Éomer, dessen Hände ihr Gesicht umrahmten. Seine Daumen streichelten über die Zartheit ihrer Wangen. Schließlich gab er ihr zum Abschied einen Kuss auf die Stirn und verharrte einen Moment länger mit den Lippen auf ihrer Haut als die Etikette erlaubte. Dann löste er sich und marschierte strammen Schrittes davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

Tinwald, ein Knabe von zehn Jahren, gesellte sich zunächst wortlos neben Éowyn und folgte ihrem Blick. „Wenn ich groß bin, will ich ebenfalls zu den Eored gehören.“

Sie sah zu ihm hinüber und lächelte, ehe sie nickte. Tinwald hatte weit größere Chancen als sie selbst. Als Mädchen konnte sie höchstens eine Schildmaid Rohans werden, niemals eine Hauptfrau. Nie zuvor hatte eine Frau die Eored angeführt, diese Ehre war den Männern vorbehalten.

Tinwald schnappte sich ihre Hand. „Liest du uns noch eine Geschichte vor?“

Abermals nickte Éowyn. Den Kindern abends vorzulesen, war zu ihrer liebsten Beschäftigung des Tages geworden. Der Stress und die Anstrengungen des Tages waren dann endlich vorbei, in der Stadt wurde es still, in den Hallen und Kammern warm und gemütlich.

„Liest du uns die Geschichte des Untergangs Númenors vor?“

Diesmal verneinte das Mädchen und schüttelte den Kopf. „Ich habe gestern eine andere Geschichte in der Bücherei gefunden. Die wird euch ganz sicher gefallen. Darin geht es um einen Königreich der Zwerge, das weit nördlich von Rohan liegt, und einem gefährlichen Drachen.“

„Zwerge sind habgierig und …“

Éowyn legte Tinwald ihren Zeigefinger auf die Lippen. „Nicht alle Zwerge sind gleich. Unter ihnen gibt es auch wahrlich große Helden.“ Sie musste Tinwald nicht erzählen, dass ein paar der Schmuckstücke, die der König ihr bisher geschenkt hatte, von Zwergenhänden geschaffen waren. Zwar hatte Éowyn noch nie einen Zwerg gesehen, doch mochte sie die Geschichten und Legenden, die von ihnen erzählten. Einzig seltsam fand sie, dass Zwerge keine Frauen hatten. Éomer hatte ihr einmal erzählt, Zwerge würden aus Erdlöchern und Berghöhlen kriechen und praktisch erwachsen zur Welt kommen. Die einzige Liebe, die Zwerge kannten, war die Liebe zu edlen Metallen und Juwelen. Der Gedanke betrübte Éowyn seit jeher.

Tinwald wagte es nicht ihr zu widersprechen und ließ sich bereitwillig von ihr zu seinem Bett begleiten, wo sie ihn zudeckte. Dann nahm sie auf dem Stuhl Platz, der unweit der Tür zum Schlafsaal stand, zog ein kleines, halb zerfleddertes Büchlein unter dem Rock hervor und begann bei Kerzenschein, den sieben gespannten Jungen die Geschichte um den Einsamen Berg Erebor vorzulesen.

~

Sie pustete die Kerzen aus und schob das Büchlein unter ihren Rock zurück. Ein paar der Jungen riefen ihr noch eine gute Nacht zu, ehe sie sich zurückzog. Im Schlafsaal der Mädchen war es bereits dunkel. Elfrun hatte den Mädchen ebenfalls eine Geschichte erzählt, wie Éowyn wusste. Wohl aber eine, die von der Entstehung Mittelerdes handelte. Das Mädchen wusste nur zu gut, wie gerne Elfrun diese Geschichte erzählte, hatte es diese doch selbst schon so oft gehört, dass es sie ebenfalls auswendig hätte wiedergeben können.

Zwei alte Männer saßen am Feuer beim Kamin und wünschten ihrer Herrin ebenfalls eine erholsame Nacht. Sie waren die Nachtwache. Männer, die zu alt oder auch zu krank waren, um noch mit den Eored auszureiten und in Rohan nach dem Rechten zu sehen. Als Nachtwache des Waisenhauses hatten sie wenigstens noch eine kleine, wenn auch weniger rühmliche Aufgabe. Sie hatten ihr Leben oft genug für Rohan riskiert und das Volk beschützt. Éowyn fand, dass sie sich einen ruhigen Lebensabend verdient hatten.

Das Mädchen zog den samtenen Umhang eng um die zierlichen Schultern, sobald es vor die Tür trat, und setzte die dazugehörige Kapuze auf. Es war eine sternenklare, windstille Nacht, aber sie war bitterkalt. Der Schnee, der die Stadt bedeckte, glitzerte sanft im Schein der Sterne. Éowyn atmete tief durch und stieß eine kleine Wolke warmer Luft aus als sie ausatmete.

„Meine Herrin …“

Sie erschrak fürchterlich und fuhr zu der Stimme herum, die wie aus dem Nichts hinter ihr erklungen war. Es war niemand anderes als Gríma, der aus den umliegenden Schatten trat und sich zu ihr begab.

„Verzeiht, Herrin, ich wollte Euch keine Angst machen. Ihr solltet zu so später Stunde nicht allein durch die Stadt gehen.“

In Edoras war noch nie etwas Schlimmeres geschehen als ein kleiner Diebstahl hier und da. Meist begangen von den ärmsten unter den Armen. Sie hatte keinen Grund sich zu fürchten – außer vor Gríma selbst. „Ihr solltet längst in Eurer Kammer sein und schlafen, oder dem König Rat erteilen, oder was immer Ihr sonst tut. Ihr habt mich in der Tat erschreckt! Dabei bin ich vermutlich nirgendwo in Rohan so sicher wie hier in Edoras.“

„Ihr habt vollkommen recht, Herrin. Vergebt mir meine Gedankenlosigkeit. Ich habe mir lediglich Sorgen um Euer Wohlbefinden gemacht. Erlaubt mir, Euch in die Goldene Halle zu begleiten.“ Er senkte sofort den Blick, um dem ihren zu entgehen. Der Zorn, der so manches Mal in ihren Augen aufblitzte, jagte ihm angenehme Schauer durch den Körper. Sie besaß ein inneres Feuer, dessen Hitze er nur allzu gerne verspüren würde. Doch nicht jetzt, sie war noch zu jung, aber in guter Zeit, wenn sie reif genug war.

„Von mir aus. Aber ich verlange von Euch, dass Ihr damit aufhört, mir aufzulauern.“

„Gewiss“, erwiderte er untertänig und verneigte sich tief vor ihr. Er konnte ihren strengen Blick deutlich auf sich ruhen spüren, ehe sie ihren Weg fortsetzte und den Berg hinaufging. Gríma folgte ihr in gebührendem Abstand von ein paar Schritten, ließ sie jedoch nicht aus den Augen bis sie ihr Ziel erreichten, das Mädchen sich knapp verabschiedete und ihn vor der Goldenen Halle stehen ließ wie einen ungebetenen Vagabunden. „Eines Tages“, flüsterte Gríma, „wirst du mir gehören.“

Die Wärme, die in der Goldenen Halle vorherrschte, drang Éowyn sofort unter die Haut. Sie atmete erleichtert durch, jetzt, wo sie Gríma endlich los war – zumindest für diesen Tag. Ein paar Männer saßen noch mit dem König zu Tisch, tranken Met und unterhielten sich in gemäßigtem Ton. Éowyn ging hinüber zu ihrem Onkel und küsste seine Stirn. Er legte einen wärmenden Arm um ihre schlanke Gestalt und sie erlaubte sich einen Moment auf die Lehne seines komfortablen Stuhls zu sitzen, der mit einem prächtigen Hirschgeweih an der Rücklehne verziert war.

„Wie war dein Tag, meine Liebe? Wie geht es den Kindern?“

Sie schenkte ihm und auch den anderen Männern ein erschöpftes Lächeln. „Es war ein anstrengender, aber auch ein lohnender Tag. Bis auf einen kleinen Husten bei drei der Kindern, geht es allen gut. Sie werden sich bestimmt erholen, jetzt da sie wohlwollend von Euch betreut werden.“

„Nicht ich betreue diese Waisen, liebste Éowyn. Du bist es. Dir gebührt das Lob. Und ich bin sehr stolz auf dich. Du hast in dieser Woche sehr viel geleistet und härter gearbeitet, als ich es dir zugetraut hätte.“

„Auf Éowyn!“, rief einer der Männer aus und hob seinen Metkrug an. Alle übrigen, auch der König selbst, folgten seinem Beispiel.

„Auf Éowyn“, wiederholte der König, „die Barmherzige!“

Ihre Wangen begannen zu glühen. Sie war heilfroh, dass es halbdunkel in der großen Halle war und nur das Feuer im Kamin ihnen Licht spendete.

Fortan trug sie den Titel ‚die Barmherzige‘ in ganz Edoras. Besonders unter den armen Leuten wurde sie durch ihre Mildtätigkeit geradezu berühmt. Éowyn merkte zum ersten Mal in ihrem Leben, was sie bewirken konnte und dass es ihr ein gutes Gefühl gab, wenn sie anderen Menschen half. Ihr Leben schien endlich einen Sinn zu haben. Denn Hunger und Armut waren beinahe ein ebenso gefährlicher Feind, wie Orks und Bilwisse. Ihre Waffen waren lediglich andere. Und als sie dies erkannte, wurde sie endlich wieder fröhlicher.
Schmerz und Trost by Nadia
Der letzte Monat des Jahres war bereits zur Hälfte um, als die kleine Merwyn, der neueste Zuwachs im Waisenhaus, von einem heftigen Fieber befallen wurde. Merwyn war eine Bauerstochter und ein Einzelkind. Hauptmann Gamling hatte sie ganz zufällig halb erfroren hinter den abgebrannten Ruinen ihres Elternhauses gefunden. Éowyn hatte das kleine Mädchen, das gerade mal sechs Jahre alt war, aus dem Waisenhaus, wo es zunächst untergebracht worden war, in ihre eigenen Gemächer geholt, damit es die anderen Kinder nicht anstecken konnte. Zunächst war König Théoden dagegen gewesen, doch als sie ihm versprach, selbst vorsichtig zu sein und Abstand zu dem kranken Kind einhalten würde, da hatte er nachgegeben.

So kam es, dass Éowyn das kleine Waisenmädchen Tag und Nacht betreute. Sie machte ihm Wadenwickel, kühlte die Stirn mit feuchten Tüchern und legte zwei Kupferwärmflaschen, die sie immer wieder mit Schnee füllte, rechts und links neben Merwyn unter die Bettdecke. Das Mädchen zitterte am ganzen Leib, doch nicht wegen der Kälte, sondern vielmehr wegen des hohen Fiebers. Sie sprach unsinnige Dinge im Schlaf und rief weinend nach der Mutter, die niemals wieder kommen und nach ihr sehen würde.

Drei Tage und drei Nächte vergingen, bis der Fieberwahn des Kindes endlich nachzulassen schien. Éowyn hatte dieser Tage selbst nur wenig Schlaf gefunden, so dass sie schließlich vor Erschöpfung auf dem Stuhl vor dem Bett mit dem Kopf auf Merwyns Decke eingeschlafen war. Die kleine Hand des Kindes streckte sich mühsam nach dem blonden Haar seiner Herrin aus, streichelte über das Haupt und bedankte sich im Stillen für die Zuwendung. Dann tat die kleine Merwyn ihren letzten Atemzug und schlief wieder ein.

Als Éowyn erwachte, ruhte Merwyns Hand immer noch auf ihrem Haupt. Lächelnd nahm sie die kleine Hand in ihre eigenen und freute sich zunächst darüber, dass die Hitze endlich aus dem kleinen Körper gewichen schien. Nach einem Moment der Erleichterung erschrak Éowyn jedoch, denn sie sah, dass sich die Brust des Kindes nicht mehr unter seinen Atemzügen hob und senkte. Sofort wich auch die restliche Müdigkeit von ihr. Sie stand so ruckartig auf, dass der massiven Holzstuhl nach hinten kippte und polternd zu Boden fiel. „Merwyn!“ Sie rüttelte den kleinen Leib, wollte das Kind aufwecken. Sicher schlief es nur ganz fest. Es konnte nicht tot sein. Es ging dem Mädchen doch besser! Éowyn wurde ganz schwindelig vor Sorge um Merwyn. „Hilfe!“, schrie sie unter Tränen und eilte den Flur entlang und die Treppen hinab in die große Halle. Sie stolperte beinahe über die eigenen Füße und konnte sich gerade noch abfangen, ehe sie die Stufen hinabstürzte.

„Éowyn!“ Der König erhob sich mit sorgenvoller Miene von seinem Thron auf der kleinen Empore. Mit wenigen Schritten erreichte er sie und öffnete seine Arme. Sie taumelte in seine Umarmung und klammerte sich an ihm fest, weinte bittere Tränen in seine Brust. „Was ist geschehen?“

„Merwyn“, schluchzte Éowyn, „sie atmet nicht mehr.“ Der König verstärkte seine Umarmung, hielt ihren bebenden Körper und streichelte ihr über das wellige, blonde Haar. Die gut gemeinten Worte des Trostes kamen nicht bei ihr an. Wie war es möglich, dass sie Merwyn trotz aller Bemühungen verloren hatte? Sie hatte doch alles getan, was die Heilerin ihr geraten hatte. Sie hatte den Körper versucht zu kühlen, hatte ihr viel Flüssigkeit und warme Suppe eingeflößt und ihr vorgelesen. Warum war es ihr nicht möglich gewesen, ihr junges Leben zu retten?

„Vielleicht war die Sehnsucht nach ihren Eltern größer als ihr Wunsch weiterzuleben“, gab der König leise zu bedenken.

Éowyn weinte weiter in sein Hemd, bis sie keine Kraft mehr hatte und die Beine unter ihr nachgaben. „Mein liebes Kind“, flüsterte Théoden ihr ins Haar, ging in die Knie und hob sie auf seine starken Arme, „du wirst dich jetzt erstmal ausruhen. Deine Selbstlosigkeit in Ehren, aber fürs Erste ist damit Schluss.“

Die Männer in der Halle sahen dem König nach, der Éowyn die Treppen hinauftrug und ins Gemach ihres Bruders brachte. „Éomer wird es mir nicht verzeihen, wenn du dich selbst für andere aufopferst und dabei zugrunde gehst.“ Er legte sie behutsam auf dem großen Bett nieder und deckte sie fürsorglich zu.

„Ich habe versagt.“ Jedes ihrer Worte wurde von einem Schluchzen begleitet.

Théoden saß auf der Bettkante und betrachtete sie ernst. „Du hast nichts Falsches getan, meine Liebe. Du hast alles für dieses Mädchen getan. Das Fieber hat sie geholt. So tragisch es auch ist, da sie noch so jung war, der Tod dieses Kindes ist nicht deine Schuld. Du hast nicht versagt.“ Er strich ihr die Tränen mit seinen großen und rauen Händen aus dem Gesicht und küsste schließlich ihre Stirn. „Und nun schlaf, liebste Éowyn, und träume von sonnigeren Tagen.“

Kaum, dass der König Éomers Gemächer verlassen hatte, kuschelte sich Éowyn immer noch schniefend in die Kissen. Erst nachdem ihre Tränen versiegt waren und die Nase allmählich wieder frei wurde, nahm sie unverkennbar den Duft ihres Bruders wahr, der tief in seinen Kissen steckte. Sie presste ihr Gesicht hinein und atmete seinen Duft ein. Wie sehr sie sich doch wünschte, Éomer wäre jetzt bei ihr, um sie zu trösten. So wie er bei ihr gewesen war, als sie zuerst ihren Vater und schließlich auch die Mutter verloren hatten. So, wie er immer für sie dagewesen war.

~

Éomer saß beim Lagerfeuer und rührte nachdenklich mit dem Löffel in seiner Suppenschale herum. Ein paar der Männer um ihn herum sangen ausgelassen und scherzten miteinander, während der wolkenverhangene Nachthimmel über ihnen weiteren Schnee herabrieseln ließ und Éomer einmal mehr daran erinnerte, dass das Julfest immer näher rückte. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, seiner kleinen Schwester etwas zu schenken. Im vergangenen Jahr hatte er ihr einen silbernen Anhänger an einem Lederriemen geschenkt, der das Wappen der Eorl trug, einen Pferdekopf mit langer Mähne. In diesem Jahr war er etwas ratlos, was er ihr mitbringen konnte. Zumal er nicht einmal wusste, ob er rechtzeitig zum Julfest wieder in Edoras sein würde.

Hier, inmitten des fallenden Schnees, der Kälte und dem Lärm der Männer, vermisste er die Behaglichkeit der Goldenen Halle und die Sanftmütigkeit seiner kleinen Schwester. Er vermisste ihre großen Augen, wenn er ihr von den Orks und Bilwissen berichtete, die er zusammen mit Théodred erschlagen hatte. Sie wusste vermutlich, dass er manches Mal in seinen Erzählungen übertrieb und dass er die wirklich gefährlichen Momente, die sein eigenes Leben oft genug in Gefahr brachten, verschwieg.

„Wie geht es dem Arm?“ Théodred kam zu ihm herüber und ließ sich mit seiner eigenen Suppenschale neben seinem Vetter auf den Baumstumpf nieder. Die Sonne würde bald aufgehen, was bedeutete, dass sie für die nächsten Stunden etwas ruhen konnten. Orks waren Geschöpfe der Nacht und deshalb selten bei Tageslicht unterwegs.

Éomer betrachtete den notdürftigen Verband, der die Wunde an seinem linken Oberarm bedeckte. „Der Arm ist noch dran.“

Théodred nickte und begann seine Suppe zu löffeln. Es war eine fade Suppe, da sie nur noch wenige Vorräte und beinahe kein Salz mehr dabei hatten. Aber es war eine heiße Mahlzeit, die von innen heraus wärmte und guttat. „Du hast Glück, dass die Klinge nicht vergiftet war, die dich getroffen hat.“

Der Jüngere zuckte die Schultern. „Der Ork hat mich kaum berührt.“

„Dafür hat es aber erstaunlich stark geblutet“, merkte sein Vetter an. „Du scheinst mit den Gedanken woanders gewesen zu sein. Du muss dich im Kampf besser konzentrieren, Éomer.“

Als ob er das nicht wüsste. Was konnte er denn dafür, dass er der Kämpfe mit jedem vergehenden Tag müder wurde? Im Winter in Zelten zu schlafen und den Launen der Natur ausgesetzt zu sein, entsprach nicht unbedingt dem, was er sich derzeit wünschte. Selbstverständlich wollte er die Riddermark vor Orkgesindel und dergleichen beschützen, aber die weiten Reisen und die viel zu kurzen Ruhephasen dazwischen machten ihn zunehmend mürbe. Ganz besonders jetzt zur Winterzeit.

„Fragst du dich nicht auch manchmal, was die Orkbanden so weit in den Süden treibt?“ Éomer sah seinen Vetter fragend an. „Es werden mit jedem Jahr mehr, ihre Angriffe immer häufiger.“

„Ich frage mich viel eher, wie sie sich fortpflanzen. Hast du je einen weiblichen Ork gesehen?“

Éomer wollte sich gar nicht vorstellen, wie die Fortpflanzung bei solch abscheulichen Kreaturen stattfand. Selbstverständlich kamen sie von irgendwoher, aber er glaubte nicht, dass Orks auf natürlichem Wege entstanden. „Wahrscheinlich kriechen sie aus Erdlöchern.“

„Wie Zwerge, meinst du?“ Théodred hob belustigt eine Augenbraue.

Die Gemeinsamkeit gab Éomer zu denken. Wenn Zwerge und Orks gleichermaßen aus Erdlöchern schlüpften, entsprangen sie dann demselben Übel?

Théodred gab dem Jüngeren einen Schubs gegen die Schulter. „Nun zieh nicht so ein Gesicht.“

„Dann bring mich nicht auf derart unsinnige Gedanken. Jetzt habe ich vor Augen, wie sich Orks und Zwerge womöglich fortpflanzen oder auch nicht. Wen interessiert, woher sie kommen? Wichtig ist, dass wir sie zurücktreiben müssen. Sollen sie doch im Norden des Landes verhungern, wenn sie nicht zur eigenen Viehzucht taugen und sich auch sonst nicht behelfen können.“ Welchen anderen Grund könnte es geben, außer dem des Nahrungsmangels, dass die Orks sich zunehmend nach Rohan wagten, um dort Vieh aller Art zu reißen? Die armen Bauern, die versuchten, ihr Hab und Gut zu verteidigen, mussten meist mit dem Leben dafür bezahlen. Manche, so besagten es Gerüchte, wurden von den Orks verschleppt und versklavt, andere dienten in Notzeiten als Nahrung! Orks waren wahrlich abscheuliche Kreaturen und niemand wusste so genau, wie sie sich vermehrten. Nur, dass sie zahlreicher wurden, daran bestand kein Zweifel. Und sie bewegten sich südwärts …

~

Fünf Tage später passierten sie endlich Edoras‘ Haupttor. Die Bewohner der Stadt nickten den Eored zur Begrüßung zu. Éomer war nie glücklicher gewesen endlich wieder zuhause zu sein! Sein Hintern schmerzte von den vielen Stunden auf Feuerfuß‘ Rücken und sicher war sein geliebter Hengst heilfroh, wenn er sich im Stall ausruhen und frisches Heu fressen konnte. Durch die dicke Schneedecke, die über ganz Rohan ausgebreitet war, war es unterwegs manches Mal schwer gewesen, ausreichend Futter für alle Pferde zu finden.

Der Stallmeister nahm seinem Hengst den Sattel ab. „Ich werde ihn sofort abreiben und ihn versorgen, Herr.“

„Habt Dank, Cleowine“, nickte Éomer und übergab ihm Feuerfuß. Théodred kam bereits aus dem Stall heraus, nachdem er Brego hineingeführt hatte. Das eigensinnige Pferd ließ sich nicht einmal vom Stallmeister selbst striegeln. Es grenzte schon fast an ein Wunder, dass Éowyn sich dem Tier nähern konnte. Éowyn. Er konnte es kaum erwarten sie wiederzusehen. Beinahe drei Wochen waren inzwischen vergangen.

„Ich werde meinem Vater Bericht erstatten“, ließ Théodred sich vernehmen. „Geh du zu deiner Schwester. Wir sehen uns zum Abendessen.“

Das ließ sich Éomer kein zweites Mal sagen. Die Rüstung ablegen und sich mit warmen, anstelle von eisigem Bachwasser waschen zu können, danach sehnte er ihn jetzt. Doch zuerst ging er zum Waisenhaus, wo er seine kleine Schwester vermutete. Und tatsächlich, er fand sie vor dem Kamin in einem Schaukelstuhl sitzend und den Kindern eine Geschichte vorlesend.

„Und was ist dann passiert?“, fragte einer der Jungen, die Stimme voller Ungeduld.

„Es gelang Bard, dem Bogenschützen, den abscheulichen Drachen zu treffen“, fuhr Éowyn fort, die ihren Bruder noch nicht bemerkt hatte. „Der Schwarzpfeil traf in genau an jener Stelle, an der ihm eine Schuppe fehlte. Ohne diesen Schutzpanzer war selbst Smaug verwundbar. Mit einem animalischen, schmerzerfüllten Aufschrei schoss er weit hinauf in den nächtlichen Himmel, um dann leblos auf die Seestadt hinabzufallen.“

„Ha, das geschieht ihm recht!“ Es war derselbe Junge, der schon zuvor gesprochen hatte.

„Habt Ihr schon einen Drachen gesehen, Herrin?“, wollte eines der Mädchen wissen.

Éowyn schüttelte ihren blonden Kopf. „Zum Glück nicht. Drachen sind unberechenbar und gefährlich. Und soweit ich weiß, war Smaug der letzte seiner Art.“ Sie klappte das Buch zu. „Morgen geht es weiter. Die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende.“ Die Kinder bettelten, dass sie ihnen noch ein weiteres Kapitel vorlas, doch ihre Augen waren müde. Daher schüttelte sie den Kopf und blieb bei ihrem Versprechen, am nächsten Tag weiterzulesen.

Sobald sie sich von ihrem Platz erhob und das Kleid glattstrich, trat ihr Bruder aus dem Schatten hervor und lächelte. „Du bist zurück!“, rief Éowyn voller Freude und rannte auf ihn zu. Es gelang ihm trotz der Erschöpfung sie aufzufangen und zweimal im Kreis zu drehen, ehe sie einander fest umarmten. „Endlich bist du wieder da.“

Als er seine Schwester wieder absetzte, bemerkte diese den Verband an seinem linken Arm. „Du bist verwundet!“

„Nur ein Kratzer“, verharmloste er die Verletzung. „Es sieht schlimmer aus, als es ist.“

„Soll ich nach einer Heilerin schicken?“ Éowyn stand die Sorge übers ganze Gesicht geschrieben. Der kürzliche Verlust Merwyns lastete noch auf ihren jungen Schultern. Manchmal träumte sie von ihr.

Éomer schüttelte den Kopf. „Ich möchte mich nur waschen und endlich frische Kleidung anziehen.“ Er stank wie ein Viehhüter, das wusste er.

„Kinder, wir sehen uns morgen!“, sagte Éowyn, die sich zu den Waisen umwandte und ihnen winkte. Sie alle verabschiedeten sich von ihr, dann nahm sie ihren Bruder bei der Hand und führte ihn Richtung Medulseld.

~

Während ihr Bruder sich Stück für Stück aus den teils zerlumpten und verkrusteten Kleidern schälte, ließ Éowyn vor dem Kamin eine Wanne mit schönem, heißen Wasser für ihn ein. Die Kammerdiener hatten mehrere Eimer heißen und auch kalten Wassers dafür herbeigebracht. Erst kürzlich hatte Éowyn eine wundervolle Seife erstanden, die durch ihren Sandelholzduft gut zu ihrem Bruder passen würde. Sie holte diese aus einer Tasche ihres Rockes hervor und legte sie auf einem nahen Hocker bereit. Nachdem Éomer sich bis auf die langen, fleckigen Unterhosen ausgezogen hatte und zögernd zur Badewanne herüberkam, konnte Éowyn erstmals einen Blick auf seine Verletzung werfen.

Die Wunde war oberflächlich verkrustet, aber recht tief. Sie war sich nicht sicher, ob diese von allein ausheilen würde. „Vielleicht sollte die Heilerin doch einen Blick darauf werfen. Wenn sich die Wunde entzündet …“ Die Künste der Heilung waren Éowyn weitestgehend fremd, aber sie wusste, wie eine schlimme Wunde aussah und wie gefährlich es sein konnte, wenn diese nicht sauber verheilte.

„In Ordnung. Nach dem Bad.“ Es war ein ehrliches Versprechen.

Éowyn drehte sich nickend um, so dass sie mit dem Rücken zu ihm stand. Éomer entledigte sich auch dem letzten Kleidungsstück und stieg in die Badewanne. Für einen kurzen Moment kam ihm das Wasser viel zu heiß vor, doch dann wurde es angenehmer und er ließ sich seufzend davon umarmen.

Éowyn nahm etwas von dem kleinen Schemel, der in der Nähe stand, und hielt es ihm vors Gesicht. „Riech mal“, bat sie ihn dann.

Er schnupperte gehorsam und lächelte anschließend zufrieden.

„Die habe ich für dich gekauft. Ich wollte sie dir eigentlich zum Julfest schenken. Heute hast du sie vermutlich nötiger.“

„Die Seife duftet sehr gut“, bestätigte er. „Danke.“

Éowyn nahm sich eine kleine Zinnkanne, füllte diese mit warmem Badewasser und goss es anschließend ohne Vorwarnung über Éomers Kopf. Danach begann sie damit seine langen Haare einzuseifen. Während sie ihm den müden Kopf massierte und Éomer beinahe einschlief, summte sie eine Melodie, die ihn an ihre Kindheit erinnerte. Ihre Mutter hatte dieses Lied gemocht und oft gesungen, wenn sie die Kinder gebadet oder die Wäsche gewaschen hatte. Éomer konnte sich nicht mehr an die Liedzeilen erinnern, wohl aber die Melodie. Éowyn schien es ähnlich zu gehen.

„Wie ist es dir in meiner Abwesenheit ergangen? Habe ich etwas verpasst?“, wollte er nach einer Weile wissen. Éowyn seifte ihm derweil den Rücken und die Achselhöhlen ein.

Wo sollte sie nur anfangen? Gríma hatte sich erstaunlich gesittet verhalten. Er hatte ihr geholfen, wann immer sie Hilfe nötig hatte, hatte sie spät abends vom Waisenhaus abgeholt und war ansonsten die Tage damit beschäftigt gewesen, den König zu beratschlagen. Sie war sich nicht sicher, was sie über sein Verhalten denken sollte, aber sie fühlte sich nicht mehr bedrängt. Danach erzählte sie Éomer von den vielen Waisenkindern, die inzwischen in Edoras ein neues Zuhause gefunden hatten. Und natürlich erzählte sie ihm auch von Merwyn. Dabei stiegen ihr ungewollt wieder Tränen in die Augen. Sie hatte seit dem Tod des Mädchens nicht mehr in ihrem eigenen Bett geschlafen. Es war wohl frisch gemacht und ihre Räume gründlich gereinigt worden, dennoch gruselte es sie in ihre Gemächer zurückzukehren. Sie hatte sich so sehr über Éomers Rückkehr gefreut, dass ihr erst jetzt klar wurde, dass sie von heute an wieder in ihren Gemächern würde schlafen müssen. Aber von ihrer Furcht wollte sie ihrem Bruder lieber nichts sagen, um nicht schwächlich zu wirken.

~

Beim gemeinsamen Abendessen mit dem König und dessen Hauptmännern, berichteten Théodred und Éomer ausführlich von ihren Kämpfen. Sie erzählten von den niedergebrannten Höfen, dem verlorenen Vieh, aber auch von der Freundlichkeit der Gastwirte in den etwas größeren Dörfern, in denen sie unterwegs mal eine Nacht hier und dort verbracht hatten.

Selbstverständlich verfielen die Männer in ausgedehnte Planungen und Strategien, wie man zum Beginn des neuen Jahres weiter vorgehen sollte. Gríma schlug dabei vor, dass die Soldaten des Königs nicht nur auf Streife durch die Lande reiten, sondern stationär an diversen Außenposten eingeteilt werden sollten. Die Idee schien dem König zu gefallen. Wenn sie die Männer in ganz Rohan in größeren Schaaren verteilten, wären sie schneller einsatzfähig und könnten vor allem die weiter außerhalb gelegenen Gutshöfe und Ländereien verteidigen.

Der König wollte die Umstellung veranlassen, sobald das Julfest vorüber war. Bis dahin sollten seine Männer ein paar Tage frei haben und sich erholen können. Nur ausgeruhte Soldaten, waren gute Kämpfer.

Éowyn war bei all dem Gerede der Männer mit dem Kopf an Éomers Schulter gelehnt eingeschlafen. Der dünne Umhang war ihr von den zierlichen Schultern gerutscht. Éomer drehte sich behutsam, um sie nicht zu wecken und hob sie auf die Arme. „Ich bringe sie ins Bett.“

Der König nickte bestätigend.

„Soll ich dir helfen?“ Théodred war schon aufgestanden und an seiner Seite.

Éomer schüttelte jedoch den Kopf. „Sie wiegt nicht besonders viel. Ich kann sie allein tragen. Allerdings werde ich ebenfalls gleich zu Bett gehen“, ließ er sämtliche Anwesenden wissen. „Gute Nacht.“

Die Männer verabschiedeten sich und so manch einer nahm sich ein Beispiel an dem jungen Éomer, als sie sich ihrer eigenen Erschöpfung bewusst wurden. Gríma sah den Geschwistern stumm nach.

Kaum in ihren Gemächern angekommen, erwachte Éowyn in seinen Armen. Éomer legte sie dennoch auf das Bett und wollte sie gerade zudecken, als sie sein linkes Handgelenk erstaunlich entschlossen festhielt. „Die Heilerin hat noch nicht nach deiner Verletzung gesehen.“

„Morgen, liebste Schwester. Ruh dich aus“, sagte Éomer gutmütig. „Du bist vollkommen erschöpft.“

Éowyn nickte gähnend und ließ sich in die kalten Kissen sinken. Der vertraute Geruch nach ihrem Bruder fehlte ihr sofort. Sie hatte sich viel zu leicht daran gewöhnt, in seinem Bett zu nächtigen. Jedoch wagte sie es nicht, ihm davon zu erzählen, dass sie sich in ihrem Zimmer schauderte, seit Merwyn in ihrem Bett verstorben war. Sie schloss daher die Augen und ließ Éomer glauben, dass sie bereits wieder eingeschlafen war.

~

Als Éomer am nächsten Morgen gut ausgeruht erwachte, dauerte es einen langen Moment bis er realisierte, dass er nicht allein in seinem Bett lag. Éowyn musste sich in der Nacht in seine Räume und vor allem in sein Bett geschlichen haben, ohne dass er etwas davon bemerkt hatte. Sein Vetter würde ihn für den Mangel an Achtsamkeit auslachen, wenn er davon erführe. Allerdings durfte niemand davon erfahren. Es war ihnen schließlich seit geraumer Zeit verboten ein Bett zu teilen.

Éowyns Kopf ruhte auf seiner Brust, während sie einen Arm und auch ein Bein um ihren Bruder gelegt und sich ganz eng an ihn gekuschelt hatte. Éomers Herz schlug unruhig in seiner Brust. Ein Teil von ihm genoss die Wärme des anderen Körpers, seine Weichheit. Er legte probehalber einen Arm um Éowyns Schultern, streichelte ihr zärtlich übers Haar. Sie duftete so wunderbar, wie nur eine junge Frau duften konnte. Selbst im Winter roch Éowyn nach Frühling und Sonne.

Sie rieb ihre Wange an seine Brust und er vermochte trotz seines Nachthemds ihr Lächeln zu spüren. Und noch etwas anderes spürte er – und zwar überdeutlich – und das war alles andere als angenehm. Nicht in diesem Zusammenhang! Erschrocken schob er Éowyn daher von sich herunter, damit sie die Veränderung seines Körpers nicht bemerkte. Und er hoffte, bei Ilúvatar, dass sie sein hartes Geschlecht nicht unter der Bettdecke sehen konnte.

„Du dürftest gar nicht hier sein!“, herrschte er sie an.

Sie setzte sich abrupt im Bett auf, wodurch die Decke von ihr herunterrutschte, und fröstelte augenblicklich. Das Feuer im Kamin war über Nacht erloschen, die eisige Kälte war von draußen durch die Wände eingezogen. Sie schlang die Arme um ihre Mitte und bewegte sich langsam rückwärts aus dem Bett bis sie mit den nackten Füßen auf den kalten Holzdielen stand.

„Wenn der König davon erfährt … wir … dürfen das nicht mehr.“ Éomer fuhr sich fahrig durchs lange Haar, das ihm wild über die Schultern hing. „Rasch, geh in deine Gemächer, ehe deine Magd bemerkt, dass du nicht in deinem Bett geschlafen hast.“

Sie nickte beklommen und rieb sich die Arme, um sie zu wärmen. „Es tut mir leid.“

„Schon gut, nun geh!“ Seine Stimme hatte jegliche Strenge verloren, klang nur noch bittend, fast schon verzweifelt. „Geh!“

Éowyn rannte barfuß hinaus auf den Flur, zog die Tür zu Éomers Räumen hinter sich zu und eilte dann lautlos in ihre eigenen Gemächer. Dort kroch sie in das viel zu kalte Bett und starrte verwirrt an die Holzverzierung der Zimmerdecke. Wenn sie die Augen schloss, glaubte sie immer noch Merwyn in ihren Räumen wahrzunehmen. War das möglich? Würde Éomer verstehen, dass das tote kleine Mädchen der Grund war, weshalb sie nicht mehr in ihren eigenen Gemächern schlafen wollte? Oder würde er sie stattdessen auslachen und erst recht wie ein Kind behandeln? Sie schloss schaudernd die Augen und zog sich schließlich die Bettdecke über den Kopf, um sich darunter zu verstecken.
Wintersonnenwende by Nadia
In ganz Edoras herrschte emsiges Treiben. Das große Julfest zur Wintersonnenwende wurde vorbereitet und alle halfen mit. Éomer und Théodred waren ausgezogen, um eine Tanne zu fällen, während Éowyn die Kinder des Waisenhauses damit beschäftigte, allerlei Schmuck aus Stroh und Tannenreisig zu basteln.

Seit jeher war die Jultanne stets auf dem großen Platz vor Meduseld aufgestellt worden, damit ihn alle Bewohner in Edoras bewundern konnten. So sollte es auch in diesem Jahr sein, doch anders als bislang sollte in diesem Jahr nicht nur die Goldene Halle geschmückt werden. Zu diesem Zweck bastelten Éowyn und die Kinder eine ganze Menge Tannenzweiggirlanden, die sie mit ihren Strohsternen und -pferden und ein oder zwei Tannenzapfen dekorierten. Sie sollten als ein Geschenk der Dankbarkeit von den Kindern an die Familien der Handwerker gehen, damit diese ihre Wohnräume oder die Hauseingänge schmücken konnten.

Éowyn stellte fest, dass ihr das Basteln der Juldekoration sehr viel mehr Freude bereitete, als das Sticken oder Nähen. Und auch den Waisen konnte sie den Schmerz über den Verlust der Familien mit dieser Beschäftigung lindern. Selbstverständlich waren die Eltern nicht vergessen, das würden sie niemals sein, aber die Kinder spürten, dass sie dennoch geschätzt und sogar geliebt wurden. Sie fanden untereinander Freunde und konnten sich gegenseitig Trost spenden.

Ein kleines Mädchen, kaum fünf Jahre jung, schleuderte in einem Anfall von Frustration einen kleines Strohbündel auf den Tisch und machte ihrem Unmut schimpfend Luft. Noch bevor Éowyn sich an das Mädchen wenden konnte, wurde es von einem der älteren Jungen angesprochen. Er schenkte dem Mädchen zunächst ein Lächeln. „Warum so zornig?“, wollte er wissen.

„Ich kann das nicht. Mein Strohpferd sieht nicht aus wie ein Pferd“, jammerte sie und verschränkte trotzig die kleinen Arme vor der Brust.

Der Junge, den Éowyn als Tinwald kannte, setzte sich geduldig neben das Mädchen. „Soll ich dir helfen?“ Es folgte nur ein Nicken, doch mehr brauchte es auch nicht. Tinwald langte über den Tisch, holte das missglückte Strohpferd zurück und betrachtete es einen Moment eingehend, ehe er die Verschnürung um die Fußfesseln und den Hals löste, die an der falschen Stelle verknotet waren. „Das ist reine Übungssache“, erklärte er dem Mädchen. „Und zu zweit geht es auch leichter. Du hältst das Pferdchen fest und ich verschnüre den Faden. Einverstanden?“ Das Mädchen nickte und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande.

„Herrin“, wurde Éowyn in ihrer Beobachtung unterbrochen, als einer der Wachmänner zu ihr trat. „Verzeiht die Störung.“

Sie legte ihre Bastelarbeit beiseite. „Was kann ich für Euch tun?“

Er wandte sich zum Eingang des Waisenhauses um, wo ein Bauern-Ehepaar stand und mit einer Mischung aus Unsicherheit und Hoffnung die Blicke durch die Gemeinschaftshalle schweifen ließ.

„Der König schickt mich mit den Beiden zu Euch, Herrin. Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?“

Éowyn nickte langsam, die Augenbrauen erwartungsvoll zusammengezogen. Sie gingen gemeinsam in den Schlafsaal der Jungen. „Sprecht“, wandte sie sich wieder an den Mann, sobald sie außer Hörweite der Kinder waren.

„Ihr habt das Ehepaar gesehen, Herrin.“ Éowyn nickte erneut. „Sie haben in den vergangenen Monaten ihre beiden Kinder verloren. Einen vierzehnjährigen Sohn und eine zehnjährige Tochter.“

Éowyns Herz sank ob der schlechten Nachricht, die doch viel zu ähnlich ihrem eigenen Schicksalsschlag war, den sie vor einigen Jahren erfahren hatte. Nur war es umgekehrt gewesen. Sie war im selben Alter wie das verstorbene Mädchen gewesen, als sie ihre Eltern verlor. „Bitte übermittelt Ihnen meine Beileidsbekundung.“

„Gewiss“, erwiderte der Wachmann. „Deshalb sind sie jedoch nicht nach Edoras gekommen, Herrin. Ihr Gut liegt ungefähr eine Tagesreise von hier entfernt. Sie wissen nicht, wie sie es im Frühjahr ohne die Unterstützung ihrer Kinder bewirtschaften sollen. Sie haben davon erfahren, dass hier ein Waisenhaus entstanden ist.“

Es dauerte einige Momente, bis Éowyn der Sinn dieses Anliegens bewusst wurde. Ihre Augen weiteten sich. Bisher hatte stets der König über die Adoptionen entschieden. „Und der König hat sie zu mir geschickt?“

Der Wachmann nickte ernst. „Sie würden zwei Kinder mitnehmen. Ihnen Liebe, Essen und Obdach geben.“

Dagegen konnte Éowyn schwer Einspruch erheben. Es war ein rauer Winter, nicht nur für diese Bauern. „Schickt die beiden zu mir. Ich wünsche mit ihnen zu sprechen.“

„Sehr wohl, Herrin.“ Der Wachmann verneigte sich und ging, um das Ehepaar zu holen.

Die Entscheidung fiel Éowyn nicht leicht, auch wenn sie nicht an den guten Absichten der Bauersleute zweifelte. Sie hatten ebenso schwere Verluste erlitten, wie sämtliche Kinder in diesem Waisenhaus. Und selbst wenn die Bäuerin erneut Kinder gebären würde, so würden einige Jahre vergehen, bis diese groß und kräftig genug waren, um auf dem Hof zu helfen.

„Herrin.“ Beide neigten das Haupt vor ihr. „Danke, dass Ihr uns empfangt.“

„Schon gut. Mein herzliches Beileid zu Eurem Verlust.“ Éowyn fühlte sie an diesem Tag nicht mehr wie das vierzehnjährige Mädchen, das sie war. Dass ihr Onkel eine solche Entscheidung ihr überließ, machte sie stolz, gleichzeitig spürte sie jedoch auch die Bürde und die Verantwortung, die damit einhergingen. „Erzählt mir ein wenig über Euch.“

Das Ehepaar sah sich einen Moment an, dann ergriff der Mann das Wort. „Wir sind Elfreda und Gwyndion, Herrin. Wir leben und bewirtschaften ein Gut nahe Norhofen, das liegt ein gutes Stück unterhalb der Wildermark, Herrin.“

Éowyn musste einen fragenden Ausdruck im Gesicht gehabt haben, dessen sie sich bis dahin nicht bewusst gewesen war. Warum sonst hätte der Bauer ihr erklärt, wo Norhofen lag? Die ging jedoch nicht näher darauf ein und wechselte das Thema. „Habt Ihr Euch bereits umgesehen?“

„Ein wenig“, gestand Gwyndion.

„Ihr müsst Adoptionspapiere unterzeichnen. Es wird jährlich jemand unangekündigt auf Eurem Hof erscheinen, der sicherstellen wird, dass es den Kindern an nichts mangelt. Jedes einzelne von ihnen liegt mir sehr am Herzen. Behandelt sie gut“, ließ Éowyn sich vernehmen und klang dabei ungewöhnlich erwachsen.

Nachdem die Formalitäten erledigt waren, entschied sich das Ehepaar dazu, Tinwald und Holda zu adoptieren.

Insbesondere Tinwald zu dieser Zeit zu verlieren, schmerzte Éowyn sehr. Sie hatte den Knaben, der sich so rührend um die kleineren Kinder mit gekümmert hatte, ins Herz geschlossen. Von nun an würde die achtjährige Holda ihm wie eine kleine Schwester sein und Éowyn zweifelte nicht daran, dass er gut auf sie achtgeben würde. Dennoch fiel der Abschied schwer und sie spürte Tränen in den Augen, als sie den Kindern nachwinkte, die eine Bastelarbeit zum Andenken mitnehmen durften, um das neue Zuhause damit zu schmücken. Ebenso hatte Éowyn beiden Kindern einen kleinen Jutesack zum Abschied überreicht, der mit Obst und Nüssen gefüllt war. Der König hatte sich einverstanden erklärt, dass Éowyn jedem in Edoras lebenden Kind ein solches Säckchen am Julfest zum Geschenk machen durfte. Da Tinwald und Holda jedoch nicht mehr in Edoras sein würden, wenn das große Fest stattfand, erhielten sie ihre Geschenke ein paar Tage vorher.

~

Ganz Edoras versammelte sich am Vorjulabend vor der Goldenen Halle und bestaunte den großen Tannenbaum, der mit allerlei Schmuck und Gebäck behangen war. Das Gebäck, so war es Tradition, durfte noch an diesem Abend abgenommen und verzehrt werden. Der Baum selbst würde für eine gute Woche auf dem Platz stehen bleiben. Erst dann durfte sich jeder Haushalt einen Zweig abschneiden und im häuslichen Kamin verbrennen. Die ätherischen Öle, die dadurch freigesetzt wurden, würden die bösen Geister des vergangenen Jahres vertreiben, das Feuer selbst sollte symbolisieren, dass niemand in diesem Winter frieren musste.

Wie in jedem Jahr hatte der König auch in diesem wieder einen Barden eingeladen, der die königlichen Gäste unterhalten sollte. In diesem Jahr, das überraschte nicht nur Éowyn, war allerdings eine Bardin gekommen, die der Gesellschaft Gedichte vortrug, Lieder sang oder einfach auf ihrer Fidel musizierte. Die rothaarige Frau, die den Namen Myrielle trug, war ungewöhnlich schön. Nicht von der Schönheit, wie man Elbenfrauen nachsagte, aber durch das rote Haar, die blasse Haut und die vielen Sommersprossen auf der Haut, unterschied sie sich sehr von den anderen Frauen aus Rohan. Éowyn fragte sich, woher sie stammte, bekam jedoch keine Gelegenheit die Frau darauf anzusprechen.

Die Tische waren so reich mit Speis und Trank gedeckt, dass halb Edoras satt davon werden könnte. Insbesondere zur Julzeit erinnerte der König seine Männer und deren Familien gern daran, wie gut es ihnen unter seiner Herrschaft ging.

Heerführer Gamling saß mit seiner Frau und den Söhnen an einem der Tische und gab eine Abenteuergeschichte zum Besten. Háma stieß mit dem Heerführer an und verschüttete dabei etwas Wein über seiner Frau, die darüber nur den Kopf schütteln konnte. Ihr gemeinsamer Sohn, Haleth, der keine drei Jahre alt war, lachte herzhaft darüber.

Éomer näherte sich unbemerkt von hinten und legte ein kleines Päckchen vor Éowyn ab. Er schenkte ihr ein verschmitztes Lächeln, als sie vor Überraschung zusammenzuckte. „Alles Liebe zum Julfest, Schwesterherz.“ Er folgte flüchtig ihrem Blick zu den Familien, die gemeinsam das Julfest feiern konnten, doch dann galt seine Aufmerksamkeit wieder voll und ganz seiner Schwester.

Sie hatte in diesem Jahr nicht mit einem Geschenk von ihm gerechnet, da er so lange mit Théodred auf der Jagd nach Orkbanden durch die Lande gereist war. Wann hatte er Zeit gefunden, ein Geschenk für sie zu suchen? Das Päckchen war sehr gleichförmig und schwer, jedoch nur wenig größer als ihre Handfläche. Sie sah mit leuchtenden Augen zu ihm auf und er setzte sich auf die Lehne ihres komfortablen Stuhls.

„Willst du es nicht öffnen?“, neckte er sie. Er war gespannt auf ihre Reaktion.

Sie strich zärtlich über den dünnen Stoff, der als Verpackung diente und zog schließlich an der Schleife, die mit einem kleinen Ilex-Zweig geschmückt war. Zum Vorschein kam ein Büchlein, das reichlich abgegriffen wirkte, jedoch auf eine gute Art. So wie ein geliebtes Buch nach vielen Jahren aussah, wenn es immer wieder und wieder gelesen wurde. „Die verschollenen Geschichten“, las sie den Schriftzug auf dem Einband vor und strich behutsam über den Buchrücken, ehe sie die ersten Seiten aufschlug.

„Für meine geliebte Théodwyn“, las sie die Widmung mit zitternder Stimme vor. Ein Kloß bildete sich in Éowyns Hals. Sie sah von dem Buch in ihrer Hand auf und ihrem Bruder in die Augen.

„Ich habe nie vergessen, wie Mutter uns früher aus diesem Buch vorgelesen hat. Vater hat mir einmal erzählt, dass er es ihr geschenkt hätte, als sie mit mir schwanger war. Sie liebte es Geschichten zu erzählen und zu singen. Und als ich sah, dass du in gleichem Maß Freude dabei empfindest, den Waisen vorzulesen oder zu singen, da wusste ich, dass dieses Buch dir gehören sollte. Mutter wäre bestimmt einverstanden.“

Ohne, dass sie es hätte beeinflussen können, rannen Éowyn Tränen über die Wangen. Sie fühlte sich in diesem Moment unendlich traurig, dass sie ohne Eltern aufwuchs und gleichzeitig war sie dankbar, dass sie noch ihren Bruder hatte. Sie erhob sich und umarmte ihn lange und innig. „Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe. Danke.“

Éomer senkte den Blick, um ihr in die Augen sehen zu können, wischte mit den Daumen die Tränen aus ihrem Gesicht und küsste anschließend ihre Stirn. Dieses Buch war eines der wenigen Andenken, dass noch von ihren Eltern geblieben war. Er hatte es viele Jahre aufbewahrt. Ursprünglich wollte er es Éowyn eigentlich erst überlassen, wenn sie selbst Mutter wurde. Ihre Hingabe und Fürsorge den verwaisten Kindern gegenüber fand Éomer jedoch so großzügig und selbstlos, dass er seine kleine Schwester schon jetzt mit dem Andenken an ihre eigene Mutter belohnen wollte. „Ich bin sehr stolz auf dich, Schwesterherz“, flüsterte er ihr in das Haar, das sie an diesem Abend aufwändig geflochten trug.

Unweit von ihnen saß Gríma und beobachtete die Geschwister über den Rand seines Weinkruges hinweg mit Argusaugen.

Myrielle, die Bardin, spielte ein neues Musikstück an, das sofort fröhliche Stimmung in der Goldenen Halle verbreitete.

Éomers Augen leuchteten auf. „Möchtest du tanzen?“, fragte er seine kleine Schwester. Keiner von beiden bemerkte Grímas Blicke, die alles andere als wohlwollend waren.

Das ließ sich Éowyn kein zweites Mal sagen. Ihnen schlossen sich zunehmend mehr Feiernde an, die um die Tische herum tanzen, sangen und lachten. Zumindest für diesen einen Abend sollte sich niemand in Rohan sorgen um die Zukunft machen.
Schneeschmelze by Nadia
Die kurzen Wintertage waren düster und trist. Die Sonne schaffte es nur selten hinter der dichten Wolkendecke hervorzubrechen. Der König erhielt alle paar Tage neue Kunde darüber, dass weitere Siedlungen entlang der Grenzen angegriffen und niedergebrannt worden waren. Er spürte den wachsenden Druck auf seinen Schultern, sein Volk aktiver beschützen zu müssen. Seit Eorls Tagen waren die Rohirrim nicht mehr in solcher Zahl gefallen. Bisher ahnte Théoden nicht, welch finstere Zeiten ihnen wohl noch bevorstanden.

Als der Schnee endlich zu schmelzen begann und die ersten Krokusse und Narzissen ihre Knospen öffneten, rief er seine besten Hauptmänner zusammen. Es war an der Zeit, die Grenzen seines Reiches erneut zu befestigen und so manche Siedlung neu aufbauen zu lassen. Der vergangene Winter war für alle lang und voller Entbehrungen gewesen. Doch die Bauern hatte es besonders schwer getroffen. Die Angriffe der Orkbanden waren keineswegs so zufällig gewesen, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Je größer die Siedlungen und je reicher die Ernteerträge gewesen waren, desto brutaler waren die Angriffe der Orks ausgefallen.

Gríma schien nicht daran zu glauben, dass die Orks ihre Überfälle tatsächlich strategisch planten, König Théoden sah das jedoch ein wenig anders.

Und so kam es, an einem sonnigen März-Morgen im Jahre 3010 des dritten Zeitalters, dass die größte Ratsversammlung seit einigen Generationen in Meduseld abgehalten wurde. Nach einer angemessenen Begrüßung verlas der König eine Liste all jener Siedlungen und Gehöfte, die im vergangenen Jahr überfallen und zerstört worden waren. Dazu breitete er einige Landkarten über dem großen Tisch aus und zeigte seinen Männern, welche Gegenden es getroffen hatte. Unklar war jedoch, wie viele Menschen aus jenen Gebieten fliehen konnten und wie viele insgesamt ihr Leben gelassen hatten, da die Orks selten mehr als niedergebrannte Ruinen und ein Blutbad zurückließen.

„Es ist an der Zeit, dass wir unsere Außenposten massiv verstärken. Jedes Volk ist nur so stark, wie sein schwächstes Glied. Wir müssen insbesondere die Bauern und die kleinen Siedlungen und Gehöfte schützen, in denen sie leben. Sie bewirtschaften das Land und ernähren das Volk, wir sind ohne sie verloren. Es ist an der Zeit, dass wir etwas zurückgeben“, erklärte Théoden.

Es folgte allgemeine Zustimmung. Einige der Männer prosteten ihrem König sogar zu.

Théoden machte eine bedeutungsschwangere Pause, dann blickte er seinen Sohn an, der zu seiner Rechten saß. „Théodred, dir als meinem Zweiten Feldmarschall übertrage ich hiermit die Verantwortung für die Westfold. Helms Klamm soll dein Hauptsitz und du fortan sein Statthalter sein.“

Théodred hatte seinen Vater vor Jahren um mehr Verantwortung gebeten, doch der König hatte ihn bislang nicht für erfahren genug gehalten. Jetzt, da es endlich so weit war, fühlte er sich gleichermaßen stolz und aufgeregt. Er nickte anerkennend, legte die rechte Faust auf seine linke Brustseite und verneigte sich demütig vor seinem Vater, dem König. „Ich werde dich nicht enttäuschen, Vater.“

Théoden schenkte seinem einzigen Sohn ein kleines Lächeln und legte ihm wohlwollend eine Hand auf die Schulter. Wann war aus dem hitzigen Knaben von einst ein solch stolzer Mann und erfahrener Krieger geworden? Er schickte ihn nicht gerne fort, doch der Than, der Helms Klamm seit vielen Jahren führte, war inzwischen ein alter Mann geworden und nicht mehr bei bester Gesundheit. Lieber ersetzte Théoden ihn früher als später. Théodred war jung, stark und ein ausgezeichneter Krieger. Vater und Sohn blickten sich noch einen kurzen Moment lang in die Augen, dann wandte sich Théoden seiner Linken zu.

„Éomer.“ Indem er seinen Ziehsohn als nächsten ansprach, überraschte der König nicht nur diesen, sondern auch die anderen Hauptmänner ringsum. Sämtliche Augenpaare richteten sich nun auf den Angesprochenen. „Ich habe sehr lange und gründlich über diese Entscheidung nachgedacht“, fuhr der König zuversichtlich fort. „Eigentlich wollte ich dich nicht vor deinem einundzwanzigsten Geburtstag damit betrauen, doch die Zeiten sind düster und du bist trotz deiner jungen Jahre ein ebenso guter Krieger wie Théodred. Daher ernenne ich dich hiermit zum Dritten Feldmarschall und vertraue dir, der du wie ein zweiter Sohn für mich bist, die Ostfold an.“

Die Beförderung kam nicht weniger unerwartet, wie das in ihn gesetzte Vertrauen. Éomer fühlte sich für einen Augenblick ganz schwindelig vor Glück. Selbstverständlich war es kein Leichtes, die Verantwortung für einen so großen Landkreis zu tragen, aber er fühlte sich, genau wie sein Vetter Théodred, der Aufgabe durchaus gewachsen. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“, erwiderte er dennoch bescheiden und hielt unsicher den Blick des Königs.

Um ihn herum murmelten einige Männer unverständliche Worte, die nicht nach Begeisterung oder Verständnis klangen.

„Gamling“, wandte sich der König für einen Moment von Éomer ab und einem seiner tapfersten Männer zu. „Ich weiß, du hast mit dieser Beförderung gerechnet und gehofft, Aldburg mit deiner Familie beziehen zu können. Du bist jedoch mein erfahrenster Heerführer und als solchen möchte ich dich auch weiterhin hier in Edoras an meiner Seite wissen. Ich kann auf deine militärische Erfahrung und deinen Rat nicht verzichten.“

„Sehr wohl, mein König“, nickte der Heerführer und verneigte sich vor seinem Herrn. Selbst wenn er Einwände hatte, ließ er sich diese nicht anmerken. Er vertraute den Entscheidungen seines Königs, waren sie doch stets von Weisheit bestimmt gewesen.

„Èomer, bist du bereit das Erbe deines Vaters anzutreten und nach Aldburg zu ziehen, um von dort aus die Ostfold zu verteidigen?“ Des Königs blaue Augen trafen wieder auf Éomers, der mit seinen gerade mal neunzehn Jahren noch nicht abwägen konnte, wieviel Veränderung mit dieser neuen Position einhergehen würde.

Wie schon zuvor sein Vetter, legte auch Éomer die rechte Faust auf seine linke Brustseite und verneigte sich in Demut und Dankbarkeit vor Théoden. „Ich bin bereit, mein König.“

Gríma, der bis dahin nur schweigsam zugehört hatte, hob seinen Kelch an und blickte aus seinen kühlen, graublauen Augen in die Runde: „Auf die nächste Generation! Auf Théodred und Éomer!“

Der König folgte dem Beispiel und wiederholte den Trinkspruch, so dass alle anderen Hauptmänner sich ihm anschlossen. Keiner hätte gewagt sich auszunehmen oder gar Widerspruch einzulegen. Die beiden frisch ernannten jungen Statthalter umarmten sich und klopften sich in Verbundenheit auf den Rücken, wenn gleich sie beide wussten, dass damit ihre gemeinsame Jugend enden würde.

Der Ratgeber des Königs lächelte kaum sichtbar in sich hinein. Théoden war anfangs nicht einverstanden gewesen, als Gríma ihm vorgeschlagen hatte, Éomer ebenfalls noch in diesem Frühjahr zu befördern und nach Aldburg zu entsenden. Es war ihm auch keinesfalls leicht gefallen Éomers Taten zu lobpreisen, da er diesen arroganten Burschen noch nie hatte ausstehen können. Er hatte lange und fieberhaft überlegt, wie er ihn loswerden konnte, da Èomer seiner eigenen Schwester viel zu nahestand und Gríma ein schmerzhafter Dorn im Auge war. Die fortwährenden Angriffe auf die Randsiedlungen, waren ihm daher ausgesprochen gelegen gekommen.

„Gestattet Ihr mir noch einen Vorschlag vorzubringen, mein König?“, wandte sich Gríma in der gewohnt demütigen Haltung an Théoden. Der König schenkte ihm ein sachtes Nicken. „Könnten wir nicht einen Boten entsenden, der Saruman in Eurem Namen um Hilfe ersucht?“

„Wie sollte uns der Weiße Zauberer helfen können?“, fragte Théoden, anstatt zu antworten und musterte seinen Ratgeber neugierig.

„Nun“, begann Gríma seinem Herrn zu antworten und beachtete dabei die Blicke der übrigen Anwesenden nicht, die allesamt auf ihm ruhten, „er ist weise und mächtig. Er könnte einen Schutzzauber über das Land wirken. Womöglich könnte er uns auch helfen, unsere Streitmächte zu verstärken. Wie Ihr wisst, ist er gut bekannt mit den Elben und …“

Théoden schnitt ihm das Wort ab. „Genug!“ Gríma duckte sich, als erwarte er einen Hieb, dabei hatte der König niemals die Hand gegen ihn erhoben. Die Strenge in seiner Stimme war jedoch eindeutig. „Auf die Hilfe von Seiten der Elben können wir getrost verzichten. Der weiße Rat verfügt jedoch womöglich über Informationen, die von strategischem Vorteil für uns sein könnten. Die Angriffe auf unsere Siedlungen sind viel zu systematisch, um zufällig sein zu können. Womöglich weiß Saruman mehr darüber.“ Der König machte eine nachdenkliche Pause, dann nickte er Gríma zu, der hinter seinem Sohn stand. „Du wirst Théodred ein Stück weit begleiten und dann weiter nach Isengard reiten, um in meinem Namen mit Saruman zu sprechen.“

Dass ausgerechnet Gríma selbst entsandt wurde, war nicht unbedingt sein Plan gewesen. Immerhin hatte er sich auf die Zeit gefreut, die Éomer endlich nicht mehr zwischen ihm und seiner Angebeteten stehen würde. Er nickte jedoch ergeben und fügte sich in sein Schicksal.

~

Éowyn fragte sich, was wohl in der Goldenen Halle besprochen wurde. Es ärgerte sie über die Maße, dass man sie ausgeschlossen hatte. In ihrem Frust darüber hatte sie sich an den Ort zurückgezogen, der ihr schon immer Trost gespendet hatte; die Stallungen.

Sie streichelte über die zarten Nüstern des Hengstes. Éomers Pferd war wunderschön und muskulös, gleichzeitig sanftmütiger als sein Name versprach. „Feuerfuß“, seufzte sie seinen Namen und legte ihre Stirn an den Kopf des Hengstes. Was gebe sie dafür, auch Besitzerin eines so wundervollen Tieres zu sein? Feuerfuß knabberte zärtlich an ihrer Schulter und schnaubte sanft in Éowyns Nacken. Sie lachte leise, da die Berührung sie leicht kitzelte.

„Hier steckst du“, erklang die Stimme ihres Bruders hinter ihr.

Sie wandte sich um. Feuerfuß wieherte sanft, als wolle er seinen Herrn begrüßen. Éomer trat zu den beiden, gab seiner Schwester einen brüderlichen Kuss auf die Stirn und tätschelte seinem Hengst den Hals.

„Wo sollte ich sonst sein?“, fragte sie und schlüpfte unter dem Hals des Pferdes hindurch, damit es ihr nicht wieder in den Nacken atmen konnte. „Ist die Sitzung schon vorüber?“

Éomer nickte und grinste so breit, dass Éowyn ihn nur verwirrt ansehen konnte. Sie hatte den Ernst im Blick ihres Onkels gesehen, als er ihr erklärt hatte, dass diese Sitzung nichts für ihre jungen Ohren sei und er sie deshalb nicht dabei haben wollte. Früher war sie oft dabei gewesen, manchmal sogar auf des Königs Schoß gesessen. Als Kind war sie willkommen gewesen, als Heranwachsende jedoch nicht mehr. Das erschien ihn so furchtbar ungerecht!

„Ich habe umwerfende Neuigkeiten!“, ließ Éomer sie voller Begeisterung wissen.

„Das kann ich sehen“, erwiderte Éowyn. „Nun erzähl schon …“ Geduld war nicht unbedingt eine ihrer Tugenden.

„Der König hat mich zum Dritten Feldmarschall befördert!“

Ein allzu mädchenhaftes Kreischen hallte daraufhin durch die Stallungen und ließ sämtliche Pferde erschrocken Wiehern. Sofort zügelte Éowyn ihren Gefühlsausbruch, drängte sich an Feuerfuß vorbei und fiel ihrem Bruder überschwänglich um den Hals. „Das ist ja großartig, Éomer! Ich gratuliere dir von Herzen. Ich bin sehr stolz auf dich und ich weiß, dass es Mutter und Vater ebenso wären.“

„Danke, liebste Schwester.“ Er hielt sie für einen Moment fest an sich gedrückt.

Nach einer Weile löste sie sich von ihm und sah ihm in die Augen. „Nicht, dass ich dir die Beförderung missgönne, doch wie kam es dazu? Du bist vermutlich der jüngste Feldmarschall aller Zeiten.“

Éomer nickte, doch das Grinsen wollte nicht aus seinen Zügen verschwinden. „Der König will die Außenposten befestigen. Théodred wurde die Westfold anvertraut. Er wird in ein paar Wochen nach Helms Klamm abreisen.“

„Er wird Edoras verlassen?“ Sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie die Abreise ihres Vetters bedauerte. Sie liebte ihn beinahe so sehr wie ihren Bruder, schließlich waren sie gemeinsam aufgewachsen.

„Nicht nur er wird Edoras verlassen“, ließ Éomer sie wissen. „Mir wurde Aldburg anvertraut, Éowyn. Wir kehren heim!“

Ihre Knie gaben mit einem Mal unter ihr nach. Aldburg. ‚Wir kehren heim!‘ Die Worte hallten wie ein Echo in ihrem Verstand wider. Es war Jahre her, dass sie zuletzt in Aldburg gewesen waren. Ihre Eltern waren dort begraben. „Wir?“, fragte sie unsicher.

„Selbstverständlich! Du bist meine Schwester, Éowyn. Gewiss wirst du mich begleiten.“ Als er sie zuversichtlich anlächelte, erwiderte sie das Lächeln und gab erneut ein mädchenhaftes Kreischen von sich.

Endlich würde sie Gríma loswerden, der ihr nachstellte! Sie würde heimkehren! Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie Aldburg vermisste, trotz der traurigen Erinnerungen, die sie damit verband. Aldburg beherbergte nicht nur traurige, sondern auch eine ganze Menge schöner Erinnerungen an unbeschwerte Zeiten.

Das verschreckte Wiehern der Pferde interessierte die Geschwister in diesem Augenblick wenig. Sie würden gemeinsam heimkehren!
Getrennte Wege by Nadia
Ein angenehm sanfter Wind trug den zarten Duft der Frühjahrsblumen zu ihnen herüber. Théodred, Éomer und Éowyn hatten sich an diesem Vormittag zu einem gemeinsamen Ausritt entschlossen, um in der Frühlingssonne ein kleines Picknick zu veranstalten. Keiner der Drei wollte den bevorstehenden Abschied ansprechen. Es war so unvorstellbar, dass sie einander bald nicht mehr täglich sehen und miteinander herumalbern konnten.

Nach einem ausgiebigen Mittagsmahl lagen die Drei auf der Picknickdecke und sahen sich Wolkenbilder an. Éowyn lag zwischen den beiden jungen Männern, die jeweils eine ihrer Hände hielten. ‚Das ist er‘, dachte das Mädchen, ‚der perfekte Tag‘. Die Sonne war bereits warm genug, dass sie diese reuelos genießen konnten.

„Wie geht es den Waisenkindern?“, wollte Théodred nach einer Weile des Schweigens und Genießens wissen und wandte Éowyn das Gesicht zu, um sie ansehen zu können.

Sie musste ein klein wenig den Hals recken und den Kopf drehen, um ihn ebenfalls anblicken zu können. „Den meisten geht es gut, vor allem den etwas Älteren. Ein paar der Kleinen bereiten mir noch Sorge, da sie entweder krank sind oder noch unter Schock stehen.“ Während der Julzeit war es ihr gelungen die Kinder abzulenken, auch wenn diese ihre Familien gewiss schmerzlich vermissten. Seit das neue Jahr begonnen hatte und der Alltag allmählich wieder in Edoras einkehrte, war die allgemeine Stimmung jedoch stellenweise getrübt. „Es wird Zeit brauchen, aber sie werden sich anpassen und wieder Hoffnung schöpfen.“

„Weil die Kinder neue Familien finden werden“, sagte Éomer und drückte dabei sanft die Hand seiner Schwester, während er über sie hinweg seinen Vetter anblickte. „So wie wir.“

Théodred schenkte den Beiden ein Lächeln. Sie waren in der Tat wie Geschwister für ihn, gleichzeitig seine besten Freunde. Ohne sie würde es einsam in Helms Klamm werden, daran bestand für ihn kein Zweifel. „Ihr müsst mir etwas versprechen.“ Beide sahen ihn nickend an. „Ihr müsst mir mindestens einmal im Monat schreiben, damit ich weiß, wie es euch geht.“

„Und einander besuchen“, ergänzte Éomer. „Wenn auch nicht jeden Monat, so vielleicht zu unseren jeweiligen Geburtstagen …“

Théodred war sich nicht sicher, ob es ihnen gelänge mehrmals im Jahr so weit zu reisen und für diese Zeit ihre Pflichten zu vernachlässigen, aber im Augenblick wollte er ihnen allen diese Hoffnung nicht nehmen. Daher nickte er so zuversichtlich, wie es ihm möglich war.

Die Erwähnung der Waisen stimmte Éowyn nachdenklich. Was sollte aus ihnen werden, wer würde sich um sie kümmern, wenn sie nach Aldburg umzog? Womöglich würde es ihr gelingen, noch vor ihrer Abreise, ein neues Zuhause für jedes der Kinder zu finden. Sie musste ihre Anstrengungen diesbezüglich verdoppeln, so viel stand fest. Und wenn es dem König gelänge, die äußeren Siedlungen besser zu schützen, würden keine neuen Waisen mehr folgen.

Sie sprachen noch ein Weilchen über dieses und jenes, malten sich ihre Zukunft aus und schmiedeten allerhand Pläne. Als die Wärme der Sonne nachließ und sie zu sinken begann, machten sich die Drei auf den Rückweg nach Edoras.

~

Schließlich kam der Tag, an dem Théodred sich von seiner Familie und einigen Freunden verabschiedete. Die Sonne war gerade aufgegangen, nur hier und da konnten man noch ein paar schwach leuchtende Sterne am Himmelszelt sehen. Der junge Prinz blickte sich etwas wehmütig nach Meduseld um. Die Banner vor der Goldenen Halle flatterten im kühlen Morgenwind.

Sein Vater legte ihm die kräftigen Hände auf die Schultern. „Gute Reise, mein Sohn.“

Théodred nickte dem König zu. Er würde die gemeinsamen Abende vor dem Kamin vermissen, an denen sie einfach nur Vater und Sohn hatten sein können. Hier, vor all den Soldaten waren sie König und Feldmarschall und als solche verabschiedeten sie sich auch auf eine distanzierte Weise, die keinem von ihnen leicht fiel. „Auf bald“, erwiderte er daher schlicht.

Éomer drückte seinen Vetter. Sie hatten sich bereits am Abend zuvor ausgiebig verabschiedet. Nur Éowyn fühlte sich außerstande ihren Kummer über die Trennung zu verbergen. Sie ließ ihre Tränen zu, auch wenn sie bemüht war Théodred ein letztes Lächeln mit auf den Weg zu geben. „Du wirst mir so sehr fehlen“, flüsterte sie an seine Brust, während sie einander umarmten und drückten.

„Du mir auch“, erwiderte er in ihr blondes Haar, dann nahm er ihr Gesicht in seine Hände und legte seine Stirn an die ihre. „Wir werden uns wieder sehen.“

Sie nickte unter Tränen. Éomer legte einen Arm um sie und zog sie leicht an sich, so dass sie Théodred endlich auf sein Pferd steigen ließ.

Gríma erhielt lediglich von seinem König ein Nicken zum Abschied. Die übrigen Anwesenden beachteten ihn nicht weiter. Nicht einmal Éowyn hatte einen Blick für ihn übrig, dabei war er sich so sicher gewesen, dass er in den vergangenen Monaten in ihrer Gunst gestiegen sei. Seinen Frust darüber ließ er sich jedoch nicht anmerken.

„Lebt wohl“, sagte Théodred und blickte ein letztes Mal in die Gesichter seiner Familie, dann ritt er der kleinen Gruppe voran, die ihn nach Helms Klamm begleiten würde.

Gríma bildete das Schlusslicht. Er wandte sich ein letztes Mal nach Éowyn um, um sich ihren Liebreiz einzuprägen. Es würde wohl einige Wochen, wenn nicht gar Monate dauern, ehe er sie wiedersah.

~

Noch während sie Théodred und seinen Männern an den Stadttoren nachsahen wandte sich der König an Éomer. „Ist für deine Abreise alles vorbereitet?“

Éowyn stand zwischen den beiden Männern und erschrak bei den Worten des Königs. Sie musste sich verhört haben.

„Meine Abreise?“, wiederholte Éomer und sprach damit an, was auch seine Schwester im Sinn hatte, ohne es zu wissen. Er fühlte wie ihre Finger sich mit seinen verschlangen und drückte leicht ihre Hand. „Was ist mit Éowyn?“

Wie war es möglich, dass sie seit Wochen davon ausgingen gemeinsam abzureisen, wenn der König offenbar anderes geplant hatte?

Éowyn spürte wie ihr Herz zu rasen begann und ihr frische Tränen den Blick verschleierten.

Théoden legte seinem Ziehsohn eine Hand auf die Schulter und die andere an Éowyns Wange. „Ich kann Euch nicht gemeinsam abreisen lassen. Wie kommt ihr nur auf den Gedanken? Ich kann dir nicht die Verantwortung über die Ostfold und über die Erziehung deiner Schwester übertragen.“

Wieder einmal fühlte sich Éowyn wie ein kleines Kind, über dessen Kopf hinweg alles entschieden wurde. Hatte sie denn gar kein Mitspracherecht? „Aber ich möchte mit Éomer gehen!“, stieß sie hitzig hervor. Ihr Wangen begannen zu glühen.

Théoden blieb geduldig. „Das geht nicht. Zumindest noch nicht. Du bist noch zu jung, Éowyn. Dein Bruder wird oft mit seinen Éored unterwegs sein, um die Siedlungen zu schützen oder zurück zu erobern. Du wärst manchmal wochenlang allein in Aldburg.“

„Aber …“, begann Éowyn, doch ihr blieb jedes weitere Wort im Hals stecken.

Éomer drückte einmal mehr ihre Hand, ohne dass es der König bemerkte. Selbstverständlich traf auch ihn die Entscheidung wie ein Schlag, doch insgeheim wusste er, dass Théoden recht hatte und es nur gut mit ihnen meinte.

Der König seufzte und war bemüht nicht zu streng zu wirken, obgleich er keine Widerworte duldete. „Mein Entschluss steht fest. Du bleibst hier bei mir, wo ich dich in Sicherheit weiß. Meine Schwester würde es mir nie verzeihen, wenn dir etwas zustieße.“

Éowyn öffnete bereits den Mund, um erneut aufzubegehren, doch Éomer kam ihr zuvor.

„Es wird kein Abschied für immer sein, Schwesterherz.“

Ihr Blick löste sich ungläubig vom König und traf auf den traurigen Blick ihres Bruders. Sie hatte sich nie zuvor so verraten gefühlt.

„Èowyn“, sprach der König sie sanft an, um wieder ihre Aufmerksamkeit zu erhalten, doch sie riss sich im selben Augenblick von ihrem Bruder los und rannte davon in Richtung der Goldenen Halle.

Wenn Éowyn sich so ungestüm benahm, erinnerte sie Théoden allzu oft an seine verstorbene Schwester. Sie hatten sich in ihrer Jungend häufig gestritten, doch auch immer wieder versöhnt. Er wusste, dass Éowyn seine Entscheidung eines Tages verstehen und ihre Richtigkeit einsehen würde. Für den Moment war sie jedoch wütend und brauchte Abstand zu ihm.

„Ich gehe und rede mit ihr.“ Éomer sah den König abwartend an, bis dieser sein Einverständnis nickte, ehe er mit beherrschtem Gang seiner Schwester folgte.

Die wenigen Leute, die das Familiendrama unweigerlich mitbekommen hatten, da sie zu Théodreds Abschied erschienen waren, zogen sich nach und nach zurück, um ihre tägliche Arbeit aufzunehmen.

Der König selbst stand noch eine Weile länger auf dem Platz, nahe des Stadttores und blickte nachdenklich seinem Sohn hinterher, der längst hinter den grünen Hügeln verschwunden war. Manchmal war es nicht leicht gleichzeitig König und Vater zu sein. Die Entscheidungen, die er immer wieder treffen musste, fielen ihm von Jahr zu Jahr schwerer.
Ein Pakt mit dem Teufel by Nadia
Éomer tropfte etwas von dem flüssigen Wachs auf den Brief und drückte den Siegelring seines Vaters darauf. Dieser Ring war eines der wenigen Erbstücke, die ihm geblieben waren. Die nächtliche Stille hatte etwas Beruhigendes an sich, dennoch schlug ihm das Herz wild in der Brust. Angesichts seines Vorhabens war dies nicht weiter verwunderlich.

Er schlich sich auf leisen Sohlen in das Schlafgemach seiner Schwester, wo das Feuer im Kamin nahezu heruntergebrannt war und kaum noch Wärme abgab. Rasch legte er einige frische Scheite auf und blies in die Glut, damit das Holz Feuer fing. Sobald die ersten kleinen Flammen emporzüngelten wandte Éomer sich wieder dem eigentlichen Grund seines nächtlichen Besuches zu, nämlich seiner Schwester.

Sie lag friedlich schlafend in ihrem Bett, lediglich ihr Gesicht schaute unter der dicken Bettdecke hervor. Éomer kam nicht umhin bei dem Anblick zu lächeln. Sie sah so entspannt aus, vollkommen frei von jeglichen Sorgen, dabei wusste er nur zu gut, wie stark und fordernd sie sein konnte. Dafür liebte er sie jedoch so sehr! Ihre Emotionalität war das, was sie auszeichnete, was sie so liebenswert machte.

Allerdings wusste er auch, dass er ihr nicht in die Augen sehen und sich von ihr verabschieden konnte. Seit ihre Eltern gestorben waren, hatten sie sich stets aufeinander verlassen können, sich gegenseitig den Rücken gestärkt und sich Hoffnung geschenkt. Des Königs Entscheidung war jedoch unumstößlich, Éowyn durfte ihn nicht nach Aldburg begleiten. Éomer hatte versucht, den König unter vier Augen umzustimmen, allerdings vergebens.

Und so legte Éomer den Brief, den er seiner Schwester geschrieben hatte, auf ihr Kopfkissen. Seine Hand schwebte einen gedehnten Augenblick über ihrem Haupt, ehe er sich gestattete, ein letztes Mal zärtlich das goldene Haar zu streicheln. „Leb wohl, kleine Schwester“, hauchte er kaum hörbar und verließ daraufhin eilends ihr Schlafgemach, ehe sie seine Anwesenheit doch noch bemerken und den Abschied sehr viel schwerer machen würde.

Es kam ihm vor, als würde er sein gesamtes Leben hinter sich lassen, sobald er im königlichen Stall die Zügel seines Pferdes von einem der Stallburschen entgegennahm. Er stieg auf und führte sein Pferd im Schritttempo aus Edoras heraus, welches für so viele Jahre ein Zuhause für ihn gewesen war.

Die Sonne würde in wenigen Minuten aufgehen. Der Glanz der Sterne über ihm verblasste bereits, während sich der Horizont in einem Farbverlauf von schwarz über dunkelblau bis hin zu lilafarben erstreckte. Es würde ein so wundervoller Tag werden, der viel Sonnenschein versprach. Dennoch wog Éomer das Herz schwer, als er die Stadttore in östlicher Richtung hinter sich und damit auch seine geliebte Schwester zurückließ. Er konnte nur hoffen, dass sie ihm seinen heimlichen Aufbruch verzeihen würde.

~

Die vielen Dunländer, die seine letzte Etappe Richtung Isengard säumten, versprachen nichts Gutes. Doch obschon Gríma jederzeit mit einem Angriff dieser Wilden rechnete, die Rohans Lande in der Vergangenheit immer wieder mit Raubzügen überzogen hatten, ließen sie ihn unbeschadet passieren.

Das ungute Gefühl in seiner Magengrube verstärkte sich, als er innerhalb der Mauern Isengards auf weitere Dunländer stieß, die offenbar diversen Aufgaben nachgingen und für den Zauberer zu arbeiten schienen. Ob sie allesamt unter seinem magischen Einfluss standen?

Alles in Gríma drängte zur Umkehr, doch er selbst hatte seinem König den Vorschlag unterbreitet, Rat und Hilfe des Zauberers einzuholen. Wie könnte er unverrichteter Dinge nach Edoras zurückkehren? Nein, er musste weiter. Und so nahm er all seinen Mut zusammen und ritt weiter, bis ihm einer der wilden Menschen das Pferd abnahm und ihm versicherte, sich gut darum zu kümmern. Gríma wollte seine Bedenken äußern, da er keinem Dunländer über den Weg traute, doch dazu sollte er nicht kommen.

„Ich habe dich bereits erwartet“, hallte die tiefe Stimme Sarumans von einem Balkon des Ortanc herab.

Gríma zuckte unweigerlich zusammen. Das Herz schlug ihm vor Furcht bis zum Halse. „Ich komme auf Geheiß des Königs“, erwiderte der Berater Théodens und suchte die schwarzen Mauern des riesigen Turmes nach dem Zauberer ab. Und dort, mehr als dreißig Fuß über dem Erdboden, stand Saruman auf einem Balkon und blickte auf ihn hinab. Gríma vermochte nicht auszumachen, welcher Ausdruck auf dem Gesicht des Zauberers lag, so groß war die Entfernung.

Dass der Zauberer offenbar mit ihm gerechnet hatte, war ein Umstand, den Gríma nicht hinterfragen wollte. Saruman hatte viele Kundschafter and allen erdenklichen Orten. Womöglich hatte einer von ihnen die Gemeinschaft des Prinzen von Rohan von Edoras fortreiten und in Richtung Helms Klamm ziehen gesehen.

„Tritt ein und fühle dich wie Zuhause. Ich werde in Kürze bei dir“, ließ sich Saruman vernehmen und verschwand damit im Innern des Orthanc, ohne eine Antwort abzuwarten.

Gríma verharrte noch einen Schreckensmoment, ehe sich die riesige Flügeltür am oben Ende der Stufen öffnete und eine Dunländerin ihn hereinwinkte. Sie war ganz anders gekleidet, als man es von den Dunländern kannte – weniger wild. Etwas ging hier ganz und gar nicht mit rechten Dingen zu. Zögerlich folgte er der Frau und betrat den gewaltigen Turm. Als sich die Türen wieder hinter ihm schlossen, fühlte sich Gríma für einen Moment als würde er von der Dunkelheit im Innern verschlungen. Seine Augen brauchten einige Zeit, um sich an das wenige Licht der gewaltigen Innenräume zu gewöhnen.

Die Dunländerin führte ihn in einen großen Raum, in dessen Zentrum an der hinteren Wand ein prunkvoller Kamin stand, in dem ein Feuer loderte. Vor dem Kamin befand sich eine Sitzgruppe, die zur Erholung einlud. Die lange Reise von Edoras zur Pforte von Rohan bis nach Isengard hatte Gríma doch ziemlich erschöpft.

Als ihm die fremde Frau anbot sich zu setzen, überlegte er nicht lange. Und als sie ihm dann auch noch Speis und Trank reichte, entspannte Gríma sich allmählich.

„Danke, Frayá“, erklang aus dem Nichts wieder Sarumans Stimme.

Die Dunländerin verschwand daraufhin wortlos irgendwo in einer dunklen Nische und der Zauberer trat seinerseits ins Licht. Für einen Moment schien Saruman größer als Gríma ihn in Erinnerung hatte, beinahe übermenschlich groß. Dies änderte sich jedoch als sich der alte Mann in einen Sessel gegenübersetzte. Spielte Saruman mit seinem Verstand?

„Was führt die rechte Hand des Königs nach Isengard?“, kam der Zauberer ohne weitere Umschweife zur Sache. „Es ist lange her, dass ich etwas von Théoden gehört oder gesehen habe.“

Gríma sah sich unsicher in dem Raum um, als wolle er sicher gehen, dass sie nicht belauscht wurden. „König Théoden ersucht Eure Weisheit und Euren Rat, Herr.“

Der alte Zauberer gluckste tief. Gríma begriff nicht, weshalb Saruman lachte, doch zupfte ein unsicheres Lächeln auch an seinen Zügen. „Die Angriffe der Dunländer haben letzthin etwas nachgelassen“, ließ Gríma ihn wissen, „doch dafür ziehen Orkbanden mordend und plündernd durch Rohan.“

„Gewiss tun sie das“, nickte Saruman. Er wandte seinen Blick von Théodens Berater ab und betrachtete stattdessen die Spitze seines Zauberstabes genauer, als wäre sie ein Ding von außergewöhnlicher Schönheit. „Warum denkst du, ist das so?“

Grímas Blick huschte nervös durch den Raum, als würde er dort irgendwo die Antwort geschrieben sehen. „Ich hatte gehofft, Ihr wüsstet eine Antwort darauf“, gestand er schließlich kleinlaut.

„Was denkst du, weshalb die Dunländer mir ihre Treue geschworen haben, Gríma?“ Seine Stimme war ruhig, vollkommen gelassen.

Gríma wusste nicht, was er von dem Zauberer halten sollte oder von den Fragen, die er ihm stellte. Jedoch wuchs das unbestimmte Gefühl in ihm heran, dass er geradewegs in eine Falle getappt war, als er Isengard betreten hatte. Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu, aber was konnte er schon anderes tun als sich in sein Schicksal zu fügen? „Habt Ihr ihnen Schutz angeboten? Sind Orks auch über ihre Dörfer hergefallen?“

Erneut lachte Saruman dieses tiefe, düstere Lachen, das alles andere als heiter klang.

Gríma zuckte bei dem Geräusch unweigerlich zusammen.

„Die Angriffe der Orks sind nur der Anfang“, sagte er und schien in Gedanken versunken, viele Kilometer entfernt. Er machte eine bedeutungsschwere Pause, bis er den Blick schließlich von seinem Stab löste, um Gríma in die Augen zu sehen. „Alles auf dieser Welt hat seinen Preis, Gríma.“ Der Ausdruck des Zauberers wirkte todernst. Ein eisiger Schauer lief dem Berater des Königs daraufhin über den Rücken. „Nenn mir deinen Preis.“

Er konnte nichts weiter als Saruman anzustarren. „Meinen Preis wofür, mein Herr?“, wollte Gríma verwirrt wissen. Und was meinte er damit, dass die Angriffe der Orks nur der Anfang seien? Der Anfang wovon?

„Was denkst du, was die Dunländer von mir für ihre Treue bekommen?“ Gríma schüttelte langsam den Kopf, ohne zu antworten. Saruman erhob sich schließlich und ging gemächlich vor dem großen Kamin auf und ab. Es vergingen einige lange Augenblicke, ehe der Zauberer wieder sprach. „Sie fordern die Lande zurück, die man ihnen vor Generationen geraubt und verschenkt hat.“

Gríma schluckte schwer. Bildete er es sich nur ein, oder wurde die Luft seltsam heiß und stickig in diesem Raum?

„Cirion hat die Lande dereinst an Eorl verschenkt, die ihr heute Rohan nennt“, sagte Saruman sachlich, als spräche er über das Wetter. Er sah das schwache Nicken Grímas im Augenwinkel und fuhr fort: „Jedoch war der Besitz dieser Lande damals noch umstritten. Nicht nur Cirion erhob Anspruch darauf, sondern auch die Dunländer, die zu dieser Zeit in Calenardhon lebten und von euren Vorfahren rücksichtslos bekämpft und vertrieben wurden.“

Geschichte war nie eine von Grímas Stärken gewesen. Was erwartete Saruman nun von ihm? Was sollte er daraufhin erwidern? Und dann dämmerte ihm plötzlich, was der Preis der Dunländer war. „Ihr habt ihnen Rohan versprochen“, flüsterte Gríma die Worte, die ihm das Herz erschwerten.

„Die Welt ist im Wandel“, nickte Saruman. „Die Frage ist, auf welcher Seite du am Ende zu stehen gedenkst? Im Osten erhebt sich eine neue Macht, Gríma, die größer ist als du dir in deiner schlimmsten Vorstellung ausmalen kannst.“

Eine einzelne Träne schlängelte sich über Grímas blasse Züge. Es war nicht so sehr, was Saruman sagte, sondern wie er es sagte, was ihn jeder Hoffnung beraubte, heil hier heraus zu kommen. Er musste seinem König unbedingt Bericht erstatten und ihn von Sarumans Verschwörung gegen Rohan in Kenntnis setzen. Wann hatten sie Saruman als ihren Verbündeten verloren? Weshalb verriet er die Rohirrim an die Dunländer? Was versprach er sich nur davon?

„Jeder hat seinen Preis“, wiederholte sich Saruman, ohne einen Funken Gefühl im Blick. „Ich kenne meinen Preis und den der Dunländer, doch was ist deiner? Ich kann einen Mann wie dich am Hofe Théodens gebrauchen. Du könntest mir helfen, die Dinge erheblich zu beschleunigen. Du musst mir nur sagen, was du am meisten begehrst auf dieser Welt und ich sorge dafür, dass du es erhältst.“

Sofort tauchte das Gesicht des schönsten Mädchens vor seinen Augen auf, dass er je in seinem Leben gesehen hatte. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ihr jemals ein Leid zugefügt werden würde. Er würde sterben für sie, würden töten für sie … würde … Und genau in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass er alles für sie und ihre Sicherheit tun würde. „Éowyn“, sprach er zärtlich ihren Namen aus.

„Éowyn? Die Nichte des Königs. So soll es sein. Éowyn soll dein sein“, versprach Saruman feierlich und trat vor Gríma, der schaudernd zu dem Zauberer aufblickte und dabei kaum Augenkontakt halten konnte. Der Zauberer lächelte, wodurch er seine verfärbten Zähne entblößte.

„Ihr darf kein Leid geschehen. Wenn Ihr mir das garantiert, bin ich bereit alles für Euch zu tun, Herr“, sagte Gríma und ging den Pakt mit dem Teufel ein.

~

Als Éowyn an diesem Morgen erwachte und den Brief ihres Bruders las, brach eine Welt für sie zusammen. Schlimm genug, dass er nicht versucht hatte den König zu überzeugen, dass sie mit nach Aldburg reisen durfte. Er hatte sich nicht einmal richtig von ihr verabschiedet und war einfach gegangen.

Sie war so enttäuscht und wütend, dass sie nicht mal weinen konnte. Außer sich vor Zorn eilte sie in die große Halle, wo der König am Tisch saß und scheinbar selenruhig sein Frühstück einnahm. „Habt Ihr davon gewusst?“, verlangte sie zu erfahren und warf Éomers Brief vor den König auf den Tisch.

Jede andere Person wäre für diesen Frevel aus der Halle geworfen worden, aber seiner Nichte ließ er ein derartiges Benehmen zähneknirschend durchgehen. Théoden wischte sich scheinbar gelassen den Traubensaft mit einer Serviette von den Lippen und sah Éowyn an, ohne den Brief eines Blickes zu würdigen. „Er wollte dir den Abschied nicht noch schwerer machen.“ Er jetzt nahm er den Brief, faltete ihn wieder sorgfältig zusammen und hielt ihn seiner Nichte hin.

„Aber …“ Éowyns Wangen waren vor Zorn gerötet, als sie den Brief wieder an sich nahm. Sie wollte sich darüber beklagen, wie unfair sie sich von den Männern in ihrem Leben behandelt fühlte, aber dazu kam sie nicht.

Der König nahm sie beim Handgelenk und sah ihr fest in die Augen. „Lasst uns allein“, sagte er zu den Bediensteten, die sich mit ihnen in der Halle befanden, ohne jedoch den Blick von Éowyn zu lösen. Sobald sie allein waren, sprach er wieder das Mädchen an. „Ich liebe dich, das weißt du. Aber ich werde nicht länger hinnehmen, dass du dir mir gegenüber derart respektlos verhältst. Insbesondere nicht vor anderen Personen. Auch dann nicht, wenn sie zur Familie gehören. Ich habe dich hier bei mir aufgenommen, damit es dir an nichts mangelt. Und dafür erwarte ich, dass du meine Entscheidungen respektierst und mir gehorchst. Éomer ist ein sehr junger Marschall, aber er ist sehr gut ausgebildet. Ich traue ihm durchaus zu, dass er die Ostfold regiert. Was er jedoch nicht gebrauchen kann, ist irgendeine Form von Ablenkung. Er braucht die absolute Gewissheit, dass du in Sicherheit bist. Du bist seine Achillesverse, seine einzige Schwachstelle. Begreifst du das?“

Tränen stiegen Éowyn in die Augen. Sie vermochte nichts darauf zu erwidern. Und so nickte sie schließlich.

Der König zog das Mädchen auf seinen Schoß. Éowyn schlang die Arme um seine kräftigen Schultern und weinte bittere Tränen in seine Halsbeuge. Er streichelte ihr in Kreisen den Rücken und begann sie zu wiegen.

„Er wird mir so sehr fehlen“, schluchzte sie.

„Ich weiß, meine Liebe. Glaube mir, das weiß ich.“ Seinen einzigen Sohn und auch seinen Ziehsohn hinaus in die Welt zu schicken, in Zeiten wie diesen, war die schwerste Entscheidung, die er je hätte fällen müssen. „Wir beide müssen jetzt zusammenhalten. Einverstanden?“

Sie nickte ihr Einverständnis und schniefte gleichzeitig an seinem Hals. „Ich werde mich von jetzt an besser benehmen.“ Als sie sich vom König löste und ihm in die Augen sah, schenkte er ihr ein Lächeln und drückte anschließend einen väterlichen Kuss auf ihre Stirn.
Zurück in Aldburg by Nadia
Éomer bremste sein Ross, als er die Tore Aldburgs erreichte. Er atmete tief durch. Es waren einigen Jahre verstrichen, seit er zuletzt durch diese Tore gegangen war. Stets hatten seine Eltern seine Rückkehr erwartet, nicht jedoch dieses Mal. Er war nicht mehr der Junge von einst, der zu harmlosen Abenteuern mit seinen Freunden aufbrach und allerhand Unfug anstellte. Inzwischen war er ein Marschall der Ostfold und als solcher ein respektierter Mann. Er kehrte als Herr in sein altes Zuhause zurück, das fortan, mit all seinen Bewohnern, ihm anvertraut war.

„Willkommen, Herr Éomer“, wurde er sogleich von den beiden Wachmännern an den Toren empfangen.

Er war bemüht sich die Unsicherheit nicht anmerken zu lassen, die in ihm schlummerte. Der König traute ihm die Verantwortung zu, die mit diesem Posten einherging und der ungestüme, selbstsichere Teil von ihm war überzeugt, dass er der Aufgabe gewachsen war. Doch in ihm war auch immer noch der Junge, der sich seines Platzes in dieser Welt nicht ganz sicher war und der nur wieder zurück in die schützenden Arme seines Onkels wollte.

Aller Unsicherheit zum Trotz lächelte Éomer und nickte den Wachmännern zu, deren Namen er nicht kannte. Er setzte seinen Weg fort und führte sein Pferd linkerhand zu den Stallungen, die ihm noch vertraut waren. Hinter sich hörte er Stimmengewirr, das zunehmend anschwoll und als er sein Ross dem Stallmeister überließ und wieder hinaus auf die Straße trat, hatten sich scheinbar sämtliche Bewohner der Stadt versammelt. Er blickte in so viele erwartungsvolle, frohe, aber auch teils unsichere Gesichter, dass er zunächst nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. Er suchte nach Vertrautheit, aber da waren nur Fremde ihm gegenüber.

„Ich bin Éomer, Éomunds Sohn“, stellte er sich den Bewohnern gegenüber vor, nachdem er einen flüchtigen Moment überlegt hatte, womit er das Eis brechen konnte. Er war sich nicht sicher, ob der Bote den Brief des Königs rechtzeitig hierher gebracht hatte, in dem stand, dass er kommen und den alten Than ablösen würde.

Die Leute verneigten sich, machten Knickse und grüßten ihn, die erwartungsvollen Blicke immer noch in den Gesichtern.

„Ich muss gestehen, dass ich keine Rede für meine Ankunft vorbereitet habe. Ich war nie ein Mann vieler Worte. Aber ich hoffe, dass mir die Stadt bald wieder so vertraut sein wird, wie sie es mir als Junge war. Und ich bin sehr glücklich darüber wieder hier zu sein.“

„Hört, hört!“, rief da eine Männerstimme aus einer der hinteren Reihen. Die Bewohner der Stadt machten der Stimme Platz und zum Vorschein kam ein junger Mann, der etwa in Éomers Alter war. „Wurde auch verdammt nochmal Zeit, dass du dich mal wieder blicken lässt. Ich dachte schon, dir liegt nichts mehr an uns.“ Der junge Mann stemmte die Hände in die Hüfte und grinste Éomer mit schalkhaftem Lächeln an.

„Folcwine?“, kam es unsicher über Éomers Lippen. Das Lächeln im Gesicht seines Gegenübers wuchs in die Breite. Und da wusste Éomer, dass er tatsächlich wieder Zuhause war. „Du hast dich ganz schön verändert!“

„Das sagst gerade du, mein Freund.“ Mit diesen Worten kamen sich die beiden jungen Männer entgegen und nahmen sich herzlich in die Arme. „Ich konnte es kaum glauben, als die Kunde uns erreichte, dass der König dich hierher zurückschickt. Wir wussten ja nicht, ob du noch lebst oder auf der Reise nach Edoras umgekommen bist.“

„Wir haben die Reise überlebt. Éowyn ebenso“, erklärte Éomer seinem alten Freund aus Kindertagen.

Folcwine legte Éomer einen Arm um die Schultern und blickte gemeinsam mit ihm zu den Bewohnern Aldburgs. „Und jetzt zeigt mal, wie sehr ihr euch auf Éomers Rückkehr gefreut habt!“

Mit einem Mal brach ein solch lauter Jubel aus, dass Éomer ganz verlegen wurde. Scheinbar war das Gerücht umgegangen, dass die Kinder Éomunds nie lebend in Edoras angekommen waren und sich womöglich ein Betrüger als neuer Herr herausstellen würde. Folcwine hatte den Leuten versichert, dass er seinen alten Freund wiedererkennen würde und er sollte Recht behalten.



Abends saßen die Freunde in der Methalle am Kamin, beide satt vom Festmahl, das zur Feier von Èomers Rückkehr aufgetischt worden war und einen Krug Met in der Hand. „Du musst morgen unbedingt meine Frau und meine Tochter kennen lernen“, sagte Folcwine.

„Du hast Frau und Kind?“ Éomer konnte sein Erstaunen darüber kaum verbergen. Folcwine war nur anderthalb Jahre älter als er selbst.

„Warum warten, wenn man die Liebe findet?“ Darauf wusste Éomer nichts zu erwidern. „Was ist mit dir? Hast du ein Mädchen in Edoras zurückgelassen?“

Das einzig bedeutende Mädchen, das es bisher in Éomers Leben gab, war seine Schwester. Hier und da eine flüchtige Begegnung war nichts im Vergleich. Die körperliche Anziehung war selten von langer Dauer gewesen. Was er für Éowyn empfand, hatte er bisher bei keiner anderen gefunden. Er wusste natürlich, wie falsch diese Gefühle waren, aber er kam nicht gegen sie an. „Nein“, erwiderte er daher. „Neben der Ausbildung war kaum Zeit für Mädchen“, log er daher.

„Und nun bist du Dritter Marschall des Königs.“ Folcwine stieß seinen Krug gegen Éomers. „Dein Vater wäre sehr stolz auf dich.“

Éomer nickte langsam und trank nachdenklich einen Schluck Met. „Was ist mit dir? Wie geht es deinen Eltern?“

„Ich habe Vaters Schmiede übernommen, nachdem er krank wurde und vor zwei Jahren starb. Mutter kümmert sich viel um Héowyn, während Maerhild ihrer täglichen Arbeit nachgeht. Sie ist eine der Näherinnen der Stadt.“

„Es tut mir leid, dass du deinen Vater verloren hast.“ Éomer legte seinem Freund eine mitfühlende Hand auf den Unterarm.

Sie schwiegen für einige Zeit, ehe Folcwine wieder das Wort ergriff. „Wie wäre es, wenn du morgen zu uns zum Essen kommst. Mutter würde dich sicher gerne wiedersehen und Maerhild will dich bestimmt kennenlernen.“

Éomer nickte lächelnd und nahm die Einladung dankend an. Seinen alten Freund wieder zu sehen erleichterte ihm die Rückkehr sehr.

~



Folcwines Familie kennenzulernen war eine Freude für Éomer. Insbesondere seinen alten Freund in der Rolle des Vaters zu erleben, ließ ihn sich der Tatsache bewusst werden, dass er selbst bisher nie einen Gedanken an eigene Kinder verschwendet hatte. Es war als würden zwei Welten aufeinandertreffen, die er sich nie zuvor in Kombination hatte vorstellen können. Da war dieser Freund, mit dem er in Kindertagen auf die Jagd nach Hasen und Füchsen gegangen war und der so viele vertraute Gefühle und Erinnerungen in ihm weckte. Und gleichzeitig war dieser Freund ein junger Mann geworden, der inzwischen selbst die Verantwortung für eine Familie trug. Éomer kam sich im Vergleich noch so unreif vor und stellte einmal mehr in Frage, ob er der Aufgabe gewachsen war, die ihm bevorstand.

Die nächsten Wochen vergingen wie auf Adlers Schwingen. Der alte Than hatte sich redliche Mühe gegeben, doch längst nicht mehr alles im Überblick gehabt. Einige der Beobachtungsposten an den Grenzgebieten mussten dringend instandgesetzt oder ausgebaut werden. Die Wachtposten brauchten Ablösungen, einige der Gehöfte waren überfallen worden, so dass die Bauern Hilfe beim Wiederaufbau benötigten.

Éomer bemerkte bei all der Arbeit und den Reisen im Umland nicht, wie die Wochen an ihm vorbeizogen. Er schrieb immer wieder in den späten Abendstunden Berichte an den König und hin und wieder auch Briefe an Éowyn, darüber hinaus blieb ihm kaum genug Zeit über anderes als seine Pflichten nachzudenken.

Wenn er sich einmal ein paar Stunden Ablenkung gönnte, dann ging er mit seinem Freund gemeinsam auf die Jagd. Allerdings schossen sie inzwischen eher Wildschweine oder Rehe, deren Felle und Fleisch der gesamten Stadt zugutekamen.

Der erste Winter in der Ostfold war recht mild, die Schneefälle nur mäßig stark. Zum Julfest vermisste Éomer seine Familie wie nie zuvor. Folcwine tat jedoch sein Bestes, um für Ablenkung zu sorgen und er ließ nichts unversucht, Éomer mit einem Mädchen nach dem anderen zu verkuppeln.

Aus Wochen wurden Monate und aus Monaten schließlich Jahre. Beinahe vier Jahre waren ins Land gestrichen, seit Éomer nach Aldburg zurückgekehrt war.

Im vergangenen Winter, der ein sehr rauer und vor allem langer gewesen war, hatte Folcwine seine Mutter verloren. Die kleine Héowyn war ebenfalls schwer erkrankt und überlebte nur knapp das hohe Fieber, das viele Menschen in Aldburg das Leben gekostet hatte. Die Briefe, die Éomer in großer Sorge nach Edoras sandte, blieben unbeantwortet. Dadurch war er hin und her gerissen zwischen seinen Verantwortung Aldburg und seiner Familie gegenüber.

Im kommenden Sommer würde Éowyn achtzehn Jahre alt werden. Éomer hoffte, dass er sie würde besuchen können. Er mochte sich gar nicht vorstellen, wie sie sich verändert haben mochte. Sie schrieb ihm schon seit einiger Zeit nicht mehr, was ihm großen Kummer bereitete. Doch er konnte Aldburg nicht einfach so verlassen und nach Edoras reisen, um nach dem Rechten zu sehen, so sehr er es sich auch wünschte. Und solange er nichts Gegenteiliges hörte, musste er davon ausgehen, dass er ihr gut ginge und dass sie schlichtweg genauso vielen Pflichten nachkam wie er selbst.

Eines Tages im Frühjahr ritt er zusammen mit Folcwine und Héowyn aus, die bei ihrem Vater auf dem Schoß saß und vor Freude johlte. Éomer sah zu den beiden hinüber. Der Anblick wärmte sein Herz. Nicht auszudenken, was es für Folcwine bedeutet hätte, wenn er Héowyn im Winter verloren hätte. Das kleine Mädchen war der ganze Stolz seines besten Freundes und zurecht. Mit ihren knapp vier Jahren und dem strohblonden Haar, war Héowyn eines der süßesten kleinen Mädchen, das Éomer je gesehen hatte. Er fühlte sich fast wie ein Onkel und hatte nicht weniger um ihr Leben gebangt als Folcwine und Maerhild.

Die Sonne schien warm und klar auf die herab, überall trieben Blumen aus, deren Duft vom Wind zu ihnen getragen wurde. Doch unter den angenehm süßlichen Duft mischte sich auch ein anderer, strenger Geruch und ließ Éomer alarmiert den Blick seines Freundes suchen. „Riechst du das auch?“

Folcwine nickte. „Riecht nach verbranntem Fleisch.“

„Bleibt hier, ich sehe lieber allein nach“, erwiderte Éomer darauf grimmig. Er wollte Héowyn keinesfalls in Gefahr bringen.

Folcwine gehorchte und brachte sein eigenes Ross zum Stehen, während Éomer in die Richtung davon galoppierte aus welcher der schreckliche Gestank zu ihnen drang.

Èomer ritt eilig voraus, einen von Felsen zerklüfteten Hügel hinauf, vorbei an einem dünnen Bachquell. Und dann konnte er den Ursprung des Gestanks ausmachen. Es war ein kleines Gehöft, das bis auf seine Grundmauern niedergebrannt war. Je näher er kam, desto stärker wurde der Geruch. Das Feuer war längst erloschen, nur hier und da glomm noch ein Rest Holz und kleine Rauchsäulen stiegen auf.

Nicht wissend wer hier einst gelebt und den Hof bewirtschaftet hatte, verharrte Éomer dennoch für eine Minute in Stillschweigen und gedachte der Menschen, die hier aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Leben gelassen hatten. Das klägliche Wiehern eines fremden Pferdes drang schließlich an seine Ohren. Éomer sah sich danach um, ritt um die Ruinen des Bauernhauses herum und fand dahinter ein Grauschimmelfohlen, neben dem Kadaver einer Stute. Das Fohlen stupste vergebens den Kadaver des Muttertiers mit der Schnauze an.

„Armes Ding“, kam es Éomer über die Lippen. Das Fohlen schien noch recht jung zu sein. Ohne seine Mutter würde es wohl nicht lange überleben. Im Grunde würde es ein Akt der Gnade sein, wenn er das Fohlen gleich hier und jetzt von seinem Leid erlöste. Ein gezielter Schuss mit dem Bogen ins Herz und die Sache wäre erledigt. Éomer hatte seinen Entschluss gefasst. Er nahm einen Pfeil aus dem Köcher seines Sattels und spannte ihn auf seinen Bogen, dann setzte er zum Schuss an. Im selben Moment hob das Fohlen den Blick und schien ihm direkt in die Augen zu sehen. Éomer hielt den Blick des Tieres fest und glaubte etwas in den Augen des Fohlens zu entdecken, das seine Meinung änderte.

Als er zu Folcwine und Héowyn zurückkehrte, führte er das verwaiste Fohlen mit sich. Die beiden Männer tauschten einen vielsagenden Blick, während die kleine Héowyn etwas in ihrer kindlichen Sprache sagte und die Hand sofort begeistert nach dem abgemagerten Fohlen ausstreckte.

„Ohne seine Mutter kann es nicht überleben“, meine Folcwine. „Sieh es dir doch mal genau an.“

Éomer schüttelte nachdenklich den Kopf, betrachtete das junge Tier jedoch eingehend. „Da war etwas in seinem Blick. Ich konnte es nicht töten. Es hat noch eine Chance verdient. Immerhin hat es als einziges den Angriff auf den Hof hinter diesem Hügel dort überlebt“, erklärte Éomer und deutete mit einem Nicken hinter sich. „Es ist zäher als es den Anschein macht.“

Damit war für Éomer alles gesagt und sie machten sich auf den Rückweg nach Aldburg. Er wusste noch nicht, wie und ob es ihm gelingen würde das Fohlen zu retten, doch er war wild entschlossen es nicht aufzugeben.
Vertrauter Feind by Nadia
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Historische Anmerkung

3016 Drittes Zeitalter

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Éomer stieg vom Rücken der Grauschimmelstute und tätschelte ihr den Hals. „Das hast du gut gemacht, Mädchen.“ Das Tier wieherte, hob und senkte den Kopf, als würde es zustimmend nicken. Er hatte viel Zeit und Liebe in die Ausbildung der Stute investiert, die er vor etwas mehr als drei Jahren verwaist auf dem niedergebrannten Hof gefunden hatte. Er hatte das Tier Windfohlen getauft, auch wenn aus dem Fohlen längst eine junge Stute geworden war. Damit war sie das perfekte Geschenk zum einundzwanzigsten Geburtstag seiner kleinen Schwester, die er schon viel zu lange nicht mehr gesehen hatte. Dieses Jahr, das hatte er sich fest vorgenommen, würde es keine Verpflichtung geben, die ihn davon abhalten würde nach Edoras zu reisen.

„Sieht gut aus“, erklang die Stimme seines langjährigen Freundes hinter seinem Rücken.

Éomer wandte sich zu Folcwine um und nickte. „Denkst du, sie wird sich freuen?“

„Natürlich.“ Folcwine kam näher, um der Stute einen Apfel zu verfüttern. Sie fraß ihm genüsslich aus der Hand. „Héowyn wird allerdings traurig sein, wenn sie sich nicht mehr um Windfohlen kümmern kann.“ Seine kleine Tochter hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Windfohlen zu striegeln, zu füttern und sie hatte auf ihrem Rücken das Reiten gelernt. Irgendwie hatte Folcwine gehofft, Éomer würde Héowyn das Pferd schenken. Immerhin war er doch praktisch ein Onkel für die Kleine geworden.

„Wir werden ein anderes Pferd für Héowyn finden. Sie ist gerade acht Jahre alt geworden. In dem Alter braucht sie noch kein ausgewachsenes Pferd, mein Freund. Und ich wusste damals schon, dass Windfohlen für Éowyn bestimmt ist, als ich das Tier fand. Es hat ein ganz ähnliches Schicksal wie meine kleine Schwester hinter sich und genauso viel Stärke und Überlebenswillen gezeigt, wie sie. Windfohlen gehört zu meiner Schwester. Ich bin sicher, dass Héowyn es eines Tages verstehen wird.“

„Das hoffe ich“, seufzte Folcwine. „Wann hast du vor nach Edoras zu reisen?“

„Ich muss hier noch ein paar Vorkehrungen treffen“, erwiderte Éomer und kraulte der Stute die Nüstern, „Aber ich möchte auf jeden Fall zu Éowyns Geburtstag dort sein. Ich habe die Abreise in spätestens vier Wochen geplant.“ Am liebsten würde er sich gleich am selben Tag aufmachen. Er hatte seit so vielen Jahren keinen Brief und auch sonst keine Nachrichten von Éowyn erhalten. Auch jene vom König waren immer seltener geworden. Und wenn mal ein Brief aus Edoras kam, stand darin im Grunde immer das gleiche. Es würde allen gut gehen, er solle sich keine Sorgen machen und weiterhin regelmäßig Berichte über die Lage in der Ostfold senden. Unterzeichnet waren die Briefe zwar stets vom König, aber die Handschrift der Botschaften selbst gehörte eindeutig Gríma. Es war nicht ungewöhnlich, dass Théoden selbst keine Briefe verfasste, als König hatte er dafür mehrere Schreiber zur Verfügung. Seltsam war jedoch, dass die Briefe allesamt so kurz gehalten und unpersönlich waren.

Éomer hatte sich aufgrund der befremdlichen Korrespondenz mit Edoras dazu entschlossen, seinen Besuch nicht anzukündigen. Außerdem wollte er seine kleine Schwester doch überraschen können. Er hoffte, dass sie ihm nicht mehr böse war, dass er vor all den Jahren ohne richtigen Abschied aufgebrochen war. Und falls doch, dass sie ihm würde verzeihen können.

~

Im Sommer des Jahres 3016 ließ Gríma die Stadt Edoras auf Geheiß des Königs in einem Übermaß schmücken, das für allerhand wilde Gerüchte in der Bevölkerung sorgte. Rund um Edoras hatten die Angriffe in den vergangenen Jahren zwar nachgelassen, dennoch war vielen Bewohnern unklar, was der Anlass für die unverhältnismäßige Dekoration war.

„Bestimmt wird die junge Herrin sich vermählen. Immerhin wird sie in wenigen Wochen volljährig“, spekulierte eines der Waschweiber, während es die Wäsche walkte.

„Wer wohl der glückliche junge Mann sein wird?“, überlegte eine andere, die ihrerseits einige Wäschestücke im Zuber einweichte.

Zur selben Zeit ging Éowyn in ihrem Gemach ans Fenster und blickte hinab auf die Häuser. Sie hatte Gríma gesagt, dass er nicht übertreiben solle, doch scheinbar hatten sie unterschiedliche Vorstellungen von der Definition der Übertreibung. Selbstverständlich freute sie sich darüber, endlich volljährig zu werden, aber deshalb musste doch nicht die ganze Stadt geschmückt werden. Es gefiel ihr nicht dermaßen in den Mittelpunkt gerückt zu werden, auch wenn Grímas Einsatz ihr durchaus ein wenig schmeichelte.

Über die Jahre hatte er ihr immer wieder zu verstehen gegeben, dass er sie sehr mochte, doch er machte darüber hinaus keine Annäherungsversuche mehr. Angesichts ihrer Reife wunderte sich Éowyn allerdings darüber, hatte er früher doch sehr viel offener gezeigt, dass er sie gerne zur Frau hätte. Womöglich hatte es mit den Besuchen des Weißen Zauberers zu tun, der immer wieder in Edoras erschien, um an den Ratssitzungen teilzunehmen. Der Zusammenhang wollte sich ihr nicht ganz erschließen, doch war sie froh darüber, dass sich Gríma inzwischen weniger deutlich um sie bemühte. Womöglich hatte der Weiße Zauberer Gríma davon überzeugt, dass er nicht eine andere Braut suchen sollte, da er viel zu alt und Éowyns nicht würdig war.

Nachdem die Magd ihr beim Ankleiden und Flechten der Haare geholfen hatte, machte Éowyn sich an diesem Morgen auf in die Haupthalle, wo der König bereits beim Frühstück saß. Zu ihrem Leidwesen war auch Gríma anwesend, der dem König einige Schriftstücke zur Unterschrift reichte.

„Einen wunderschönen guten Morgen“, grüßte Gríma, sobald er ihre Anwesenheit bemerkte und verbeugte sich vor ihr.

„Guten Morgen“, erwiderte Éowyn so neutral wie irgend möglich. Sie ging direkt zum König und küsste ihn auf die Stirn. „Guten Morgen, Onkel. Wie fühlt Ihr Euch?“ Sie schenkte ihm ein Lächeln und hoffte, dass es echt wirkte.

Er sah aus müden Augen zu ihr auf und nickte. „Guten Morgen, liebes Kind. Es geht mir gut.“

Seine Worte straften ihn Lügen. Er sah alles andere als gut aus. Der Kummer der vergangenen Jahre setzte ihm sichtbar zu. Hinzu kam, dass er immer wieder krank wurde und seine Gelenke ihm darüber hinaus zunehmend Probleme bereiteten. Er war nicht mehr der Jüngste, aber auch noch lange kein Greis. Die besten Heiler Rohans standen ihm zur Verfügung, und doch wirkte er um viele Jahre älter als er tatsächlich war.

„Zu deinem Geburtstag werden wir ein Festmahl ausrichten. Gríma hat schon allerhand vorbereiten lassen“, ließ Théoden sie wissen.

„Das ist mir nicht entgangen.“ Sie erzwang erneut ein Lächeln. „Ich möchte keineswegs undankbar erscheinen, doch halte ich die Dekoration der gesamten Stadt für weit übertrieben. Eine kleine Feier hätte mir genügt. Wir müssen uns die Vorräte wohlüberlegt einteilen. Wie kann ich guten Gewissens bei einem Festmahl sitzen, wenn ich nicht weiß, ob unsere Vorräte für den nächsten Winter ausreichen?“

Gríma legte dem König eine Hand auf die Schulter. Eine Geste, die sich eingeschlichen hatte, wenn er für den König das Wort ergreifen und diesen zum Schweigen bringen wollte. Théoden ließ es, wie so oft, zu. „Meine Herrin, Ihr seid dem Jugendalter entwachsen und schon bald eine volljährige Frau. Dies ist ein ganz besonderer Geburtstag, den die gesamte Stadt mit Euch zu feiern wünscht. Jedermann liebt Euch. Ihr tut so viel für das Volk, insbesondere für die verwaisten Kinder und die Witwen. Euer Herz ist so groß und voller Güte, lasst dem Volk die Gelegenheit, etwas von dieser Liebe und Güte zurückzugeben. Ein einziges Festmahl wird die Vorratskammern nicht gleich leeren.“ Er schenkte ihr ein Lächeln, wobei seine schiefen Zähne zum Vorschein kamen.

Éowyn verdrehte leicht die Augen und schüttelte andeutungsweise den Kopf. „Vermutlich habt Ihr Recht, Gríma. Ich mache mir nur nicht allzu viel aus meinen Geburtstagen.“ Sie zuckte die Schultern und setzte sich links neben den König an die gedeckte Tafel. Ihr Magen knurrte leise, um sie daran zu erinnern, dass es Zeit für das Frühstück war. Sie spürte Grímas Blick noch eine Weile auf sich ruhen, ehe er sich wieder auf seine Arbeit besann und dem König weitere Schriften vorlegte, die dieser nach kurzem Überfliegen unterzeichnete. Éowyn schenkte dem Berater keine weitere Beachtung. Stattdessen schweiften ihre Gedanken ab, hin zu ihrem Bruder.

Éomer war seit Jahren nicht mehr in Edoras gewesen. Oft genug war ihr der Gedanke gekommen, heimlich nach Aldburg zu reiten. Doch sie hatte dem König versprochen nichts dergleichen zu tun und sich keiner unnötigen Gefahr auszusetzen. Sie hatte sich an das Versprechen gehalten und ihm stets gehorcht. Eine unerlaubte Reise nach Aldburg hätte ihm unnötigen Kummer bereitet. Dadurch war sie nie nach Aldburg gereist, um Éomer zu besuchen, auch wenn sie es sich noch so sehr gewünscht hatte. Éomer hatte viele Verpflichtungen, seit er zum Oberbefehlshaber der Ostfold befördert worden war, dennoch betrübte es sie, dass er nicht einmal mehr die Zeit zu haben schien, ihr wenigstens hin und wieder zu schreiben.

Womöglich war er längst verheiratet und hatte vielleicht sogar schon Kinder. Immerhin waren etwas mehr als sieben Jahre verstrichen, seit sich ihre Wege getrennt hatten. An Verehrern mangelte es auch Éowyn nicht, aber kein einziger von ihnen schien dem König gut genug für sie zu sein. Wann immer ein junger Mann kam, um beim König um ihre Hand anzuhalten, lehnte dieser mit fadenscheinigen Begründungen ab.

Dabei wünschte Éowyn sich sehnlichst einen Gemahl. Nicht, weil sie unbedingt einen Mann in ihrem Leben brauchte. Sie wusste sich sehr gut allein zu verteidigen, denn Théoden hatte seinerseits vor einiger Zeit ein Versprechen eingelöst. An ihrem sechzehnten Geburtstag hatte er Hauptmann Gamling angewiesen, sie im Umgang mit Schwert und Schild auszubilden. Um Schutz ging es Éowyn wahrhaftig nicht. Sie hoffte jedoch auf einen anständigen Gemahl, durch den sie niemals wieder einen Gedanken an Gríma würde verschwenden müssen.

Infrage kamen im Grunde nur Söhne aus gutem Hause. Allerdings wurden diese eher weniger und nicht mehr, seit die Dunländer sich dem Anschein nach mit den Orks verbündeten, gemeinsam die Siedlungen entlang des Isen angriffen und belagerten. Immer mehr der großen Städte klagten über herbe Verluste, gegen die selbst der Weiße Zauberer scheinbar machtlos war. Doch wann immer sie Fragen bezüglich der territorialen Kämpfe am Isen stellte, oder eigene Vorschläge zur Verteidigung der Siedlungen vorbringen wollte, wurde sie nur belächelt und abgewiesen. Da sie eine Frau war, nahm niemand ihre Sorgen und Überlegungen ernst. Und von Théodred hörten sie keinerlei Klagen. Anscheinend kam er mit seinen Kriegern gut gegen die feindlichen Streitkräfte an.

~

Éowyn hieb mehrfach zornig mit dem Schwert gegen die Übungspuppe und wurde sich erst Minuten später bewusst, dass sie beobachtet wurde. Das Übungsgelände stand ihr zur Mittagszeit in der Regel frei zur Verfügung, so dass sie nicht unter den kritischen Blicken der Soldaten des Königs trainieren musste.

Gamling hatte sie gelehrt sich zu verteidigen, so wie es einige Frauen ihres Volkes vor ihr gelernt hatten. Allerdings war ihr nicht gestattet worden offensive Taktiken zu trainieren. Manchmal war Angriff jedoch die bessere Verteidigung.

„Komm aus deinem Versteck“, verlangte Éowyn von der unbekannten Person, deren Blick sie deutlich in ihrem Rücken fühlen konnte. Sie vermutete einen kleinen Jungen. Womöglich auch eine kleine Gruppe. „Weißt du nicht, wem du hier einen Befehl verweigerst?“, fragte sie, als nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch niemand in ihr Blickfeld trat.

Und dann sah sie eine junge Frau hinter der Waffenkammer hervortreten, den Blick beschämt gen Boden gerichtet. „Verzeiht mir, Herrin“, sagte sie mit kleinlauter Stimme.

Sie war eine einfache junge Frau, etwa in Éowyns Alter. Das halblange blonde Haar fiel ihr ungekämmt ins Gesicht, so dass Éowyn nicht allzu viel davon sehen konnte. „Komm heran, damit ich dich in Augenschein nehmen kann.“

Die andere junge Frau gehorchte ihrer Herrin und näherte sich ihr mit zögerlichen Schritten. Schließlich schüttelte sie sich das Haar aus dem Gesicht und reckte ein wenig das Kinn. Éowyn gefiel der Ausdruck in ihren grauen Augen sofort. Da war kein Trotz, vielmehr Stolz in ihrem Blick. „Wie ist dein Name?“

„Hunith, Herrin. Ich bin die Tochter Cleowines und Alfredas.“

Ihr Gesicht war schmutzig, ihre Kleidung zerschlissen und zu kurz an Ärmeln und Rocksaum. „Sag‘, weshalb hast du mir zugesehen?“, wollte Éowyn von der anderen Frau wissen.

„Um zu lernen, Herrin. Ich weiß, ich bin nur eine Bauerstochter, doch auch ich fürchte um das Leben meiner Familie.“

„Und du glaubst, dass du lernen kannst mit Schwert und Schild umzugehen, indem du mir zusiehst?“ Éowyn schüttelte den Kopf. „Ich trainiere seit nun mehr fünf Jahren.“ Sie hielt Hunith auffordernd den Schwertgriff entgegen.

„Ich wollte nicht respektlos erscheinen, Herrin“, wehrte Hunith ab und trat einen Schritt zurück.

„Nimm es, wenn du es lernen willst. Fühle sein Gewicht. Dies Schwert wurde eigens für mich geschmiedet, doch du hast etwa dieselbe Größe, wenn auch nicht meine Statur. Du solltest es führen können.“ Éowyn schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Nur zu, ich versuche nicht dich in eine Falle zu locken oder zu demütigen. Vertrau mir.“

Es war die sanfte Stimme, die Hunith schließlich überzeugte. Sie atmete tief durch, ehe sie es wagte das Schwert in die eigene Hand zu nehmen. Es war schwerer als erwartet, aber nicht zu schwer. Sie betrachtete die Klinge eingehend. Goldene Verzierungen schmückten den polierten Stahl. Der Griff selbst war aus feinstem schwarzem Leder. Das Schwert fühlte sich unglaublich gut in ihrer Hand an.

„Kannst du seine Kraft spüren?“, wollte Éowyn von ihr wissen.

Hunith war sich nicht sicher, daher zuckte sie kaum sichtbar die Schultern.

Auf Éowyns Gesicht erstrahlte ein Lächeln. „Ich wette, dass du sie spürst. Komm, ich zeige dir wie man ein Schwert führt, wenn du möchtest.“

„Das kann ich nicht von Euch verlangen, Herrin.“ Wie sollte sie dieses Angebot jemals wieder gut machen? Sie war doch nur ein einfaches Bauernmädchen. Ihre Mutter hatte ihr gezeigt, wie sie sich mit einer Heugabel oder Sense verteidigen konnte, das musste genügen.

„Ich habe es angeboten, das ist etwas anderes. Ich kann mich nicht erinnern, dass du mich um irgendetwas gebeten hast. Und nun komm, die Soldaten werden in einer Stunde auf den Übungsplatz zurückkehren und ihn für sich beanspruchen.“ Damit war die Entscheidung gefallen. Éowyn nahm Hunith bei der freien Hand und zog sie beharrlich hinüber zur Übungspuppe.

An diesem frühen Nachmittag brachte Éowyn ihrer neu gewonnenen Freundin die Grundlagen des Schwertkampfes bei. In Hunith hatte sie endlich eine Vertraute gefunden, die ihren eigenen Kampfgeist teilte. Die meisten anderen Frauen waren zufrieden damit rudimentär mit Schwert und Schild umgehen zu können, doch Éowyn wollte so viel mehr. Und wie es schien, war sie mit diesem heimlichen Wunsch keineswegs so allein wie bislang angenommen.

Von jenem Tag an trainierten die beiden täglich miteinander. Wenn der Übungsplatz belegt war, trafen sie sich hinter den Ställen oder an anderen Plätzen, wo sie von neugierigen Blicken verschont blieben.
Nach all den Jahren by Nadia
Die Nacht war kühl und sternenklar, als Éomer durch das Schnauben der Pferde geweckt wurde. Das Lagerfeuer, in dessen Nähe er geschlafen hatte, war beinahe erloschen. Ein letzter Rest Glut gab noch ein wenig Wärme ab. Er lauschte angestrengt in die Stille und fragte sich, was die Tiere beunruhigt haben könnte.

Beide Pferde waren an einem Stück Totholz eines umgestürzten und halb verrotteten Baumes gebunden. Sie traten unruhig auf der Stelle und schnaubten immer wieder. „Was ist los?“ Éomer erhob sich von seiner Schlafstätte und trat hinüber zu den Tieren. Womöglich streifte ein Wolf oder auch ein Bär, auf der Suche nach Nahrung, durch die Gegend. Irgendetwas hatten die Pferde jedenfalls vernommen, daran hegte Éomer keinen Zweifel. Er streichelte die Tiere abwechselnd, um sie zu beruhigen. Denn so sehr er sich auch anstrengte, er selbst vermochte nichts in der nächtlichen Dunkelheit zu sehen oder zu hören.

Trotzdem blieb er wachsam, warf einige frische Zweige in die Glut und entfachte damit wieder ein Feuer. Wilde Tiere ließen sich leicht mit Feuer abschrecken. Nachdem die ersten Flammen gen Himmel züngelten, ließ Éomer sich wieder auf seiner Schlafstatt nieder und gähnte herzhaft. Ein paar Stunden hatte er noch, bis die Sonne aufgehen würde. Allzu viel Schlaf hatte er noch nicht bekommen und war entsprechend müde.

Er nahm einen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche und wollte sich gerade wieder hinlegen, als etwas nur knapp an seiner rechten Schulter vorbeischoss und ihn verfehlte. Blitzschnell drehte er sich zu dem Geschoss herum und bemerkte einen Pfeil. Die Pferde wieherten aufgeregt in Éomers Rücken. Sofort war er wieder auf den Beinen, der letzte Schlaf fiel von ihm ab und er holte sein Schwert hervor, das bei Sattel und Zaumzeug in Reichweite lag.

Ein weiterer Pfeil sauste in seine Nähe und blieb einen halben Meter vor seinen Füßen im Erdreich stecken. Er starrte angestrengt in die Richtung, aus welcher die Pfeile geflogen kamen und gerade als er glaubte einen Schemen in der dunklen Ferne auszumachen, kamen mehrere Orks auf ihn zu. Vier Stück waren es, nur eine kleine Schar, wie er erleichtert feststellte, dennoch eine Gefahr für ihn und auch die Pferde.

Ein wilder Kampf entbrannte, der Éomer viel Konzentration und Geschick abverlangte. Die Orks kreisten ihn ein, griffen ihn von allen Seiten an und hieben mit krummen und schäbigen Waffen auf ihn ein. Éomer duckte sich geschickt unter den Angriffen durch, rollte sich ab und kam wieder auf die Beine, um seinerseits mit dem Schwert auszuholen. Beim dritten Versuch erwischte er einen der Orks und rammte ihm die Schwertspitze zwischen die Rippen. Sofort sackte der Getroffene ächzend zu Boden und blieb reglos liegen. Die drei übrigen Orks wurden nur noch wütender und riefen sich gegenseitig Worte in einer Sprache zu, die Éomer nicht verstand. Er wusste, dass es die schwarze Sprache von Mordor war, mehr aber auch nicht. Es spielte auch keine Rolle, was die Orks riefen. Er würde keinen von ihnen am Leben lassen.

Die Drei waren ausgesprochen hartnäckig und widerstandsfähiger als Éomer erwartet hätte, doch schließlich gelang es ihm einen von ihnen dermaßen stark in die Seite zu treten, dass der Ork ins Taumeln geriet und direkt in das Lagerfeuer stürzte. Die Flammen leckten hungrig nach dem Ork und ließen nicht mehr von ihm ab. Dieser rannte schreiend in die Dunkelheit davon und wart nicht mehr wieder gesehen.

Einem der verbliebenen Orks gelang es, Éomers Oberarm mit einer Klinge zu verwunden, zum Glück jedoch nicht seinen Schwertarm. Ein weißer Schmerz schien sich von der Wunde ausgehend über Éomers gesamten Körper zu erstrecken, doch er besann sich weiterhin auf die langen Jahre der Ausbildung und kämpfte tapfer weiter. Schließlich gelang es ihm, besagten Ork zu köpfen. Als der letzte Ork dies realisierte, nahm er die Beine in die Hand und floh zurück in die Dunkelheit, der er zuvor entsprungen war.

Nach Atem ringend und schweißgebadet ließ sich Éomer erschöpft auf seine Lagerstätte fallen. Der linke Arm schickte Wellen heißen Schmerzes durch seinen Körper, doch die Erschöpfung forderte schließlich ihren Tribut und er verlor das Bewusstsein.

Als er wieder zu sich kam, schien längst die Sonne und blendete ihn. Windfohlen und Feuerfuß hatten sich in der vergangenen Nacht wohl befreit, grasten jedoch friedlich in seiner Nähe. Éomer war erleichtert zu sehen, dass es den Tieren gut ging und dass sie ihn nicht zurückgelassen hatten.

Langsam setzte er sich auf, den verwundeten Arm instinktiv stützend, da kam Feuerfuß auf ihn zu getrabt und stupste mit den Nüstern sein Gesicht. „Ja, es geht mir gut, mein Freund.“ Er zwang sich zu einem gequälten Lächeln, kraulte seinem Hengst den Kopf und erhob sich etwas schwerfällig. Sämtliche Muskeln taten ihm weh, nicht nur die Fleischwunde im Arm.

Nach einem kleinen Frühstück zog er die Orkleichen auf die Feuerstelle und verbrannte ihre stinkenden Kadaver. Anschließend sattelte er Feuerfuß, packte seine Sachen und warf einen letzten Blick auf den schwelenden Körperhaufen. Als er sich auf den Rücken seines Pferdes schwang, konnte er in einiger Entfernung den verkohlten Körper desjenigen Orks ausmachen, der bereits am Vorabend Feuer gefangen hatte.

Vielleicht hätte er auf seinen Freund Folcwine hören und nicht vollkommen allein reisen sollen, doch Éomer wusste nicht, wie lange er in Edoras verweilen würde und wollte sich auch nicht unter Zeitdruck fühlen. Sieben lange Jahre waren vergangen, in denen er Zeit gehabt hatte, sich in Aldburg wieder einzuleben. Dennoch war es nie wieder das Zuhause geworden, das er aus Kindertagen in Erinnerung hatte. Nicht nur seine Eltern, vor allem Éowyn fehlte ihm dafür viel zu sehr, sie war seine Familie, sein Zuhause.

Es war schon beinahe Mittagszeit als Éomer die letzte Etappe seiner Reise antrat. Und die Vorfreude darauf, Éowyn endlich wiederzustehen steigerte sich mit jedem zurückgelegten Kilometer ins schier Unermessliche.

~

Noch keine zwei Tage war es her, da hatte Éowyn geglaubt sie würde ihren Geburtstag nicht feiern wollen. Es war in den vergangenen Jahren einfach nicht dasselbe gewesen, ohne ihren Bruder und ohne ihren Vetter. Sie war allein unter ‚alten‘ Männern, fand nur wenig Verständnis bei ihnen für ihre Belange, ganz gleich wie sehr sie auch behaupteten sie zu schätzen und zu bewundern.

Als dann jedoch der Tag ihres Geburtstags kam und so viele Bewohner in Edoras mit ihr feierten und sich bei ihr für Einsatz in den vergangenen Jahren bedankten, ihr das Gefühl gaben wichtig zu sein und auf ihre Weise sogar unentbehrlich, da fand sie tatsächlich Freude an dem Fest. Sie tanzte ausgelassen, hörte den Minnesängern zu und lachte so entspannt, wie seit vielen Jahren nicht mehr.

Der König hatte ihr sogar gestattet, dass sie ihre Freundin Hunith in die Goldene Halle einladen durfte. In der Regel kam das gemeine Volk nicht einfach so nach Meduseld, es sei denn sie hatten eine Audienz beim König. Doch heute sollte ihr großer Tag sein und sie durfte einladen, wen immer sie wollte. Es war ein erheiternder Tag, der sie wenigstens für einige Stunden sämtlichen Kummer vergessen ließ. Éowyn war sogar so beflügelt an diesem Tag, dass sie Gríma, ohne lange darüber nachzudenken, einen Tanz schenkte. Sie tanzte mit so vielen Männern, beobachtete amüsiert, wie auch ihrer Freundin der Hof gemacht wurde, und genoss jeden Augenblick in vollen Zügen.

In ihrer Ausgelassenheit hatte sie nicht bemerkt, wie noch jemand am Abend die Goldene Halle betrat und sich einen direkten Weg durch die tanzende Menge zu ihr zu bahnte. Éowyn tanzte gerade mit Torwächter Háma, als sich diesem eine kräftige Hand auf die Schulter legte. „Wenn Ihr erlaubt, würde ich gerne übernehmen.“

Háma nickte ergeben, nach einem flüchtigen Moment der Überraschung, und senkte das Haupt in Demut. „Selbstverständlich, mein Herr Éomer.“

Éowyn erstarrte für einen gedehnten Augenblick, ehe sie ein ungläubiges „Bist du es wirklich?“ hauchte und den Kopf kaum merklich schüttelte. Sie hatte sich so oft vorstellt, wie sie reagieren würde, wenn er sich endlich wieder blicken ließe. Sie hatte ihn in Gedanken mit verschränkten Armen zur Rede gestellt, sie hatte ihn von sich gestoßen, ihm eine Ohrfeige gegeben, geweint … So viele Gefühle hatten sich in ihr aufgestaut. Und nun stand sie ihrem großen Bruder gegenüber, der muskulöser und männlicher denn je aussah und sie war einfach nur überwältigt vor Freude. „Éomer“, flüsterte sie, legte ihren Kopf an seine Brust und umarmte ihn so fest sie konnte, aus Angst er würde sich als Hirngespinst entpuppen und in Luft auflösen.

Anstatt ihr zum Geburtstag zu gratulieren, raunte er „Es tut mir so schrecklich leid“ in ihr goldenes Haar. Er schob sie gerade weit genug von sich, um sie genauer betrachten zu können. Mit den Daumen wischte er die Tränen aus dem Gesicht, derer sie sich gar nicht bewusst war. „Weine nicht, Schwesterherz. Du bist so viel schöner, wenn du lächelst.“ Und schön war sie in der Tat geworden. Sie hatte das letzte bisschen Kindlichkeit verloren, an das er sich noch erinnern konnte und erstrahlte in all ihrer Weiblichkeit.

Sie nahm das Kompliment wohlwollend wahr, zeigte es ihm jedoch nicht. „Warum hast du mir nicht mehr geschrieben? Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Du hast keinen meiner Briefe beantwortet.“ Éowyn sah ihn nach dem ersten Moment der Freude vorwurfsvoll an, während sie einander bei den Händen hielten.

„Ich habe dir durchaus geschrieben. Immer zum Monatsanfang, Jahr ein, Jahr aus“, verteidigte sich Éomer, dann zog er seine Schwester wieder an sich, um wie beabsichtigt mit ihr zu tanzen. Sämtliche Aufmerksamkeit galt ihnen, dabei ging ihr Gespräch niemanden etwas an. Insbesondere nicht Schlangenzunge, der rechts neben dem König saß und mit ihm sprach. Sein Blick hing jedoch an Éomer. Dieser löste seinen Blick von Gríma und sah stattdessen wieder seine Schwester an. „Ich schwöre beim Grab unserer Eltern, dass ich dir geschrieben habe.“ Er flüsterte die Worte, damit nur Éowyn sie hören konnte.

Nach einigen weiteren Augenblicken kehrte die Gelassenheit wieder in die Goldene Halle zurück und die Leute feierten weiter. Éomer wusste, dass dies weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt war, um herauszufinden, was mit ihren Briefen geschehen war. Dass sie beide keine Post erhalten hatten, konnte kein Zufall sein. Das stank geradezu nach einer List und er ahnte auch schon, wer dahintersteckte. Nur, wie sollte er seine Vermutung beweisen?

„Mir gefällt nicht, dass er dich so genau im Auge behält“, raunte Éomer, während er sich langsam mit Éowyn auf der Tanzfläche drehte.

„Ich würde gerne behaupten, dass ich mich daran gewöhnt habe, oder dass es mir nichts ausmacht, aber das wäre die Unwahrheit.“ Sie musste Éomers Blick nicht folgen, um zu wissen von wem er sprach. „Aber lass uns heute Abend nicht davon sprechen. Du bist hier, nur das zählt.“

Er wünschte sich ebenfalls andere Gedanken, aber es fiel ihm nicht leicht sich ablenken zu lassen. Jede Faser seines Körpers war gespannt, tief sitzender Zorn brodelte unter seiner Haut. Am liebsten hätte er Gríma am Kragen gepackt, ihn aus Meduseld gezerrt und seinem erbärmlichen Leben ein jähes Ende bereitet.

„Hast du Kontakt zu Théodred halten können?“, fragte Éowyn und riss ihn aus seinen düsteren Gedanken.

Ein kleines Lächeln flog über Éomers angespannte Züge. „Wir schreiben uns hin und wieder. Hat der dir keine Briefe geschickt? Soweit ich weiß, wollte er dir auch ein Geschenk senden.“ Das schwache Zucken ihrer Schultern und das Kopfschütteln, das folgte, bestätigte seine Vermutung. Er seufzte, zog sie noch einmal etwas dichter heran und flüsterte: „Dafür gibt es eine Erklärung und ich werde nicht abreisen, ehe ich sie gefunden habe.“

Nach ihrem Tanz, oder auch mehreren – schließlich hatten sie sich viel zu erzählen und nachzuholen – machte Éomer dem König seine Aufwartung. Er hatte erwartet, dass dieser ihn an die Etikette erinnern würde, die besagte, dass der König stets vorrangig zu begrüßen sei, aber der alte Mann blieb steif auf seinem Thron sitzen und schenkte seinem Neffen lediglich ein müdes Lächeln.

Wann war Théoden dermaßen gealtert? Éomer hatte bei seinem Anblick den Eindruck sehr viel länger als sieben Jahre fort gewesen zu sein. Den König auf sein erschreckendes Äußeres hinzuweisen wäre unhöflich gewesen und so versuchte er seinen Onkel in ein belangloses Gespräch zu verwickeln. Zunächst ging Théoden auch darauf ein, doch nach einer kleinen Weile schien er, während er sprach, beinahe einzuschlafen.

„Ihr ermüdet den König“, wandte sich Gríma an den jungen Marschall. „Nicht wahr, mein Gebieter? Es war ein reichlich langer Tag und Ihr habt Euch als wahrlich gastfreundlich und großzügig erwiesen. Unsere geliebte Éowyn hat ihren Ehrentag gewiss genossen.“

‚Unsere geliebte Éowyn?‘ Éomer schäumte vor Wut. Was erlaubte sich Schlangenzunge, auf diese Art von seiner Schwester zu sprechen?

„Ja, das hat sie“, nickte der König und suchte seine Ziehtochter unter den vielen Gästen.

Instinktiv wandte sich Éomer ebenfalls der Menge zu und fand seine Schwester mit einer jungen Frau sprechend, unweit der zentralen Feuerstelle.

Schließlich wurde es spät und Éomer hatte während der letzten Stunden mit Argusaugen die Interaktion zwischen dem König und Gríma beobachtet, ohne einen Beweis für dessen Machenschaften zu entdecken. Für diesen Tag, beschloss er, war es genug. Er wollte Éowyn noch sein Geschenk geben, bevor sie zu Bett gingen und ihr wohl wichtigster Geburtstag vorüber war.

„Komm mit“, bat er sie deshalb, als ein Großteil der Feiernden sich schon auf den Heimweg gemacht und auch der König sich zurückgezogen hatte, um schlafen zu gehen. Seine Schwester stand in der großen offenen Tür und winkte ihrer Freundin nach, von der sie sich eben verabschiedet hatte.

Sie taumelte ein wenig, als sie Éomer entgegentrat, doch der griff instinktiv nach ihrem Ellbogen. „Vorsicht.“

Sie kicherte mädchenhaft und nuschelte eine Entschuldigung. Es war seltsam ungewohnt, wie der Boden unter ihren Füßen schwankte, aber auch lustig. Nun da sie ‚erwachsen‘ war, hatte der König ihr gestattet, Wein zu trinken. Es war nicht so, dass sie nie zuvor Met getrunken hatte, aber der Wein stieg ihr eindeutig stärker zu Kopf. Sie ließ sich bereitwillig von Éomer bei der Hand nehmen und aus der Goldenen Halle führen.

Gríma tauchte unbemerkt aus dem Schatten einer Säule auf und beobachtete das Geschwisterpaar mit wachsendem Argwohn.

Auch Éomer war bei Weitem nicht mehr nüchtern, jedoch wesentlich geeichter. Und so führte er seine Schwester ohne irgendwelche Koordinationsschwierigkeiten zu den königlichen Stallungen.

„Warum bringst du mich hierher?“, wollte Éowyn wissen.

Éomer lächelte bedeutungsvoll, schwieg jedoch. Stattdessen entzündete er eine Laterne und öffnete das Tor. „Ich habe sie vor einigen Jahren gefunden und vom ersten Moment an gewusst, dass sie für dich bestimmt war.“ Schließlich blieb er vor der Box stehen, in der Windfohlen untergebracht war und hob die Laterne an, damit Éowyn die junge Stute sehen konnte.

Zunächst fehlten Éowyn die Worte, dann schob sie das ratternde Tor der Box beiseite, um sich das Tier aus nächster Nähe ansehen zu können. Die Stute schnaubte und machte einige scheue Schritte rückwärts. „Schtt, Mädchen, keine Angst“, flüsterte Éowyn. „Ich werde dir nichts tun.“ Sie hob die Handfläche vor die Nüstern des Pferdes, damit es ihren Geruch kennenlernte. „Sie ist traumhaft schön.“ Éowyn wandte sich ihrem Bruder zu. „Das ist das beste Geschenk von allen.“ Sie strahlte und küsste ihren Bruder aus einem Impuls heraus auf die Lippen. Es war ein keuscher Kuss, der schnell vorüber war, trotzdem sahen sich die Geschwister einen kurzen Moment verwirrt an.

„Alles Gute zum Geburtstag“, sagte Éomer dann, die Situation entschärfend und spürte immer noch die Wärme ihrer Lippen auf seinen. Früher hatte sie ihn auf die Wange geküsst, oder auf die Stirn, nie auf den Mund. Das war neu und seltsam ungewohnt und fühlte sich viel zu gut an.

„Danke, Bruderherz.“ Sie legte ihm die Arme um den Hals und drückte sich an ihn, wobei sie erneut schwankte.

Er blieb jedoch wie ein Fels im Sturm stehen. „Ich denke, es wird Zeit fürs Bett“, sagte er dann und versuchte nicht daran zu denken, wie gut es sich anfühlte ihr so nah zu sein. Ihre körperliche Nähe und ihr Duft – weckten Erinnerungen und alte Gefühle, die er längst vergessen glaubte.

„Von mir aus“, nickte sie und gähnte im selben Augenblick. „Aber morgen will ich wissen, was mit den Briefen passiert ist.“

„Das will ich auch, um jeden Preis.“ Für den heutigen Tag hatten sie jedoch beide genug Aufregung gehabt. Die Schnittwunde in seinem Arm brannte immer noch höllisch. Der Wein hatte ihn die Schmerzen nur vorübergehend vergessen lassen. Vielleicht sollte er am nächsten Morgen doch eine Heilerin aufsuchen und die Wunde fachmännisch behandeln lassen.
Wundfieber by Nadia
Als Éowyn am nächsten Morgen deutlich später erwachte als gewohnt, war ihre Laune so gut wie schon lange nicht mehr. Das war auch kein Wunder, schließlich war ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen; Éomer war zu Besuch in Edoras.

Nachdem sie sich gewaschen und angekleidet hatte, öffnete sie die Tür zu seinem Gemach gerade weit genug, um ihn noch in tiefem Schlaf im Bett liegen zu sehen. Nach der langen Reise und der Feier am gestrigen Abend musste er zweifellos erschöpft sein. Und so beschloss sie, ihn ausschlafen zu lassen.

Sie gönnte sich ein schnelles Frühstück und war damit schon deutlich später dran als der König und seine engsten Vertrauten. Und so schnappte sie sich eine dicke Brotscheibe, die sie mit Butter und Marmelade bestrich, einige Äpfel und eilte geradewegs in die Stallungen. Sie konnte es kaum erwarten einen ersten Ausritt mit ihrer neuen Stute zu machen.

Windfohlen war bei Tageslicht noch schöner als Éowyn in der Nacht zuvor wahrgenommen hatte. „Hier“, sagte Éowyn, brach einen der Äpfel in Zwei und reichte dem Tier eine der Hälften auf flacher Hand. Windfohlen schnupperte zunächst zögerlich an der Leckerei, konnte dann jedoch nicht widerstehen und ließ sich den Apfel schmecken, was ihrer neuen Besitzerin ein strahlendes Lächeln abverlangte. Und nachdem Windfohlen auch die zweite Hälfte verspeist hatte, striegelte Éowyn sie hingebungsvoll und flocht ihr einige Zöpfe in die lange Mähne. „Du bist eine Schönheit“, sagte sie zu ihrer Stute, „und du wirst es gut bei mir haben, das verspreche ich dir.“ Dann umarmte sie Windfohlen am Hals und schmiegte sich in das warme, weiche Fell des Tieres.

„In der Tat“, hörte sie jemanden hinter sich sagen, den sie nicht hatte kommen hören.

Éowyn stellten sich die Nackenhaare auf, Gríma betrat die Stallungen und blieb vor Windfohlens Box stehen. Er schenkte ihr ein undurchschaubares Lächeln. „Wahrhaftig, wunderschön.“ Seine Augen hingen an Éowyn und schienen die Stute gar nicht wahrzunehmen.

„Sie ist ein Geschenk meines Bruders. Er hat sie eigens für mich gezähmt und ausgebildet“, erwiderte Éowyn, bemüht sich das Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Sie beobachtete, wie Gríma das Pferd einen kurzen Moment ansah, ehe seine Blicke wieder zu ihr zurückkehrten.

„Natürlich hat er das“, stimmte Gríma zu. Er trat ein wenig näher. Während Éowyn sich gegen ihren Instinkt weigerte auszuweichen, scheute Windfohlen und machte einige Schritte rückwärts.

„Erschreckt sie nicht so. Sie muss sich erst an ihr neues Zuhause gewöhnen.“ Éowyn reckte ein wenig das Kinn und schob sich beschützend zwischen Gríma und ihre Stute. Damit kam sie dem Berater des Königs unweigerlich näher als beabsichtigt. Sie konnte seinen Atem auf ihrem Gesicht spüren, als er seinen Blick auf sie herabsenkte.

„Verzeiht mir, Herrin“, hauchte er. Sein Atem roch nach Met und faulem Obst. Éowyn musste ihre gesamte Beherrschung aufbringen, um standhaft zu bleiben. Schließlich machte Gríma einige Schritte zurück und verbeugte sich vor ihr. Seine Augen ließen dabei jedoch zu keinem Zeitpunkt von ihr ab. „Dürfte ich Euch zu einem gemeinsamen Ausritt einladen?“

So gern Éowyn auch auf Windfohlens Rücken durch die Landschaft reiten wollte, schüttelte sie sie den Kopf. Sehnsüchtig blickte sie zu ihrer Stute hinüber, ehe sie wieder Gríma ansah. „Sie ist noch nicht so weit. Und ich würde es vorziehen, wenn mich mein Bruder auf dem ersten Ausritt begleitet. Er kennt Windfohlen besser als jeder andere. Seine Gegenwart wird sie entspannen.“

Unmut flammte sichtbar in Grímas Augen auf, dennoch bemühte er sich zu einem Lächeln, das seine Augen jedoch nicht erreichte. „Gewiss.“

„Und nun entschuldigt mich“, bat Éowyn und wandte sich von ihm ab. Wehmütig, doch auch entschlossen, schob sie das Tor zur Box ihrer Stute zu und ging hinüber zu Feuerfuß. Auch ihm hielt sie einen halben Apfel hin, den er sofort aus ihrer Hand fraß. Sie streichelte dem Tier über die Nase und spürte deutlich Grímas Blicke in ihrem Rücken, der sie beobachtete. Trotz des warmen Sommermorgens fröstelte sie seinetwegen. Und so verabschiedete sie sich kurzerhand und eilte zurück zur Goldenen Halle.

Im Thronsaal saß ihr Onkel und winkte sie zu sich, sobald er sie erblickte. „Hast du deinen Geburtstag genossen, liebes Kind?“

Kind. Wann würde er wohl aufhören sie als solches zu sehen? Sie schenkte ihm dennoch ihr schönstes Lächeln. „Ja, das habe ich“, erwiderte sie, ging vor seinem Thron auf die Knie und küsste seine Hand, ehe sie sich leicht an ihn schmiegte. Er streichelte ihr das Haar, wodurch sie sich wieder sicher und geborgen fühlte, so wie damals, als er sie bei sich aufgenommen hatte. Die unheimliche Begegnung mit Gríma war für den Moment vergessen. „Vielen Dank auch für Schwert und Schild. Ich werde mich als würdige Schildmaid Rohans beweisen.“

„Ich hoffe, dass du dies niemals tun musst. Aber wenn doch, beruhigt mich der Gedanke, dass du dich zu verteidigen weißt und dass deine Bewaffnung auf dich abgestimmt ist.“ Sie sahen einander an. Tränen schimmerten in ihrer beider Augen. Es war Tradition, dass auch ein Teil der Frauen lernte mit Schwert und Schild umzugehen. Das hatte sich schon in der Vergangenheit als nützlich erwiesen.

„Euer Vertrauen ehrt mich, Onkel.“ Erneut küsste sie seine Hand. „Ich verspreche, dass ich Euch und unser Volk beschützen werde.“

Er nickte und tätschelte ihr zärtlich die Wange. In seinem Blick lagen so viel Kummer und Sorgen, dass es Èowyn beinahe das Herz brach. Sie wünschte sich, sie könnte ihn davon erlösen. Aber er vertraute sich ihr in diesen Dingen nicht an.

„Wo steckt dein Bruder? Wir hatten gestern Abend nicht viel Zeit unter vier Augen zu reden. Er soll mir ausführlich berichten, was sich in den letzten Jahren ereignet hat“, wechselte er schließlich das Thema, ehe sie beide zu emotional werden konnten.

„Als ich vorhin nach ihm gesehen habe, schlief er noch tief und fest. Ich kann gerne nach ihm schauen. Bestimmt ist er inzwischen aus den Federn.“

Théoden nickte sein Einverständnis, beugte sich vor und küsste seine Nichte auf die Stirn. „Ja, geh und schicke deinen Bruder zu mir, damit er mir Bericht erstatten kann, während er sich für den Tag stärkt.“

~

Sie ließ die Tür zu seinem Schlafgemach leise hinter sich ins Schloss fallen. Anders als erwartet schlief Éomer immer noch, dabei war es schon bald Mittag. Natürlich war das nach einer ausgiebigen Feier nicht allzu ungewöhnlich, und sie gönnte ihm die Ruhe, aber der König verlangte nach ihm und sie wollte dem Wunsch ihres Onkels entsprechen. Selbstverständlich konnte sie selbst es ebenfalls kaum erwarten mehr Zeit mit ihrem Bruder zu verbringen, jetzt wo er endlich wieder bei ihr in Edoras war.

Vorsichtig setzte sie sich auf die Bettkante und zog die Decke über Éomers Schultern zurück, die er trotz der sommerlichen Temperaturen bis ins Gesicht hinauf gezogen hatte. Ihr Bruder lag vollkommen nass geschwitzt im Bett und bemerkte sie gar nicht. Dabei war er sonst immer schnell erwacht, sobald sie sein Zimmer betrat. Stets der wachsame Krieger, der er war. „Éomer“, sagte sie sanft.

Er gab nur einen unmutigen Laut von sich, der wie ein Grunzen klang. Sie lächelte. „Éomer, der König wünscht dich zu sehen.“ Ihr Bruder rührte sich nicht. „Komm schon, es ist beinahe Mittag. Willst du den ganzen Tag verschlafen?“

Ihr Bruder versuchte daraufhin die Augen zu öffnen, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen. Und als er versuchte sich aufzusetzen, durchfuhr ein stechender Schmerz seinen linken Oberarm und erinnerte ihn an die Verwundung. Er blickte Èowyn angestrengt an, doch sein Blickfeld war ganz verschwommen und alles um ihn herum schien sich zu drehen. Erschöpft ließ er sich wieder zurück ins Kissen sinken.

„Èomer, du bist krank.“ Sofort legte sie ihm eine Hand auf die Stirn. Ihr Bruder war nicht nur wegen der viel zu warmen Decke verschwitzt, sondern auch weil er offensichtlich Fieber hatte. Sie stand auf und goss frisches Wasser in die Waschschüssel, auf einer nahen Kommode. Rasch tauchte sie ein Leinen darin ein und wrang es leicht aus, ehe sie ihm das feuchte, kühle Tuch auf die glühende Stirn legte. „Was fehlt dir?“

Éomer brauchte einige gedehnte Sekunden, um ihre Frage zu verarbeiten. „Wundfieber“, raunte er und deutete mit einem kaum sichtbaren Nicken zu seinem linken Oberarm. Sofort zog Éowyn sein Oberteil so weit zur Seite, dass sie den notdürftigen Verband erblickte. Dieser blutete sichtbar durch. Sie erschrak angesichts der Tatsache, dass er sich am Abend zuvor nichts hatte anmerken lassen. „… nur eine Fleischwunde“, fügte er unter Anstrengung hinzu und verzog das Gesicht zu einem schmerzerfüllten Grinsen.

„Nur eine Fleischwunde? Du bist in einen Kampf verwickelt gewesen? Wie konntest du nur so leichtsinnig sein?“, schimpfte sie mit ihrem Bruder. „Ich hole dir sofort einen Heilkundigen, der sich das ansieht. Bleib im Bett liegen, hörst du?“

Selbst wenn Éomer gewollt hätte, er fühlte sich viel zu schwach, um sich auch nur auf die andere Seite zu drehen, geschweige denn das Bett zu verlassen. Er sah seiner Schwester nach, die sein Schlafgemach verließ, ehe er wieder das Bewusstsein verlor.

~

Gríma war gerade in die Goldene Halle getreten, als Éowyn wie ein Wirbelwind aus Gold und weißem Leinen an ihm vorbei hinaus ins grelle Sonnenlicht stürmte. Er sah ihr verwundert hinterher, da bemerkte er schon im Augenwinkel, wie König Théoden sich mühsam aus seinem Thron erhob. „Mein Gebieter, was ist geschehen?“ So gleich war er an der Seite des Königs und stützte ihn, damit dieser sich auf den Beinen halten konnte.

„Allem Anschein nach war Éomer auf dem Weg nach Edoras in ein Scharmützel verwickelt und ist verwundet worden. Éowyn hat ihn mit starkem Wundfieber vorgefunden und holt ihm den Heilkundigen.“

„Ein Scharmützel …“, wiederholte Gríma, den König stützend. Sein Blick wanderte wieder zur Flügeltür der Goldenen Halle, durch die kräftige Sonnenstrahlen hereinfielen und Licht spendeten. Er wünschte sich, es wäre mehr als nur ein Scharmützel gewesen, dann hätte sich eines seiner großen Probleme bereits erledigt. Doch vielleicht war ihm das Glück auch so hold und Éomer würde am Wundfieber sterben. Es wurde langsam Zeit, dass Saruman seinen Teil der Abmachung einhielt und dafür sorgte, dass er Éowyn zur Frau bekam. Je älter und schöner sie wurde, desto schwerer fiel es ihm sich in ihrer Gegenwart neutral zu verhalten. Er wollte sie endlich berühren und zähmen und sie zur Mutter seiner Kinder machen.

„Hilf mir hinüber zu Tisch“, riss ihn Théodens Stimme aus seinen Gedanken.

Gríma tat wie verlangt, goss dem König Met ein und gesellte sich zu ihm an den Tisch. Es würde nicht mehr lange dauern, bis das Mittagsmahl serviert wurde. Danach legte sich der König meist für einen Mittagschlaf hin. Das könnte ihm eine gute Gelegenheit bieten, sich zu vergewissern, dass sich Éomer möglichst nicht mehr von seiner Verwundung erholte. Das Schicksal schien es gut mit ihm zu meinen.

Der König saß in sich zusammengesunken da, wirkte beinahe teilnahmslos. Gríma betrachtete ihn einige Momente. „Es war sehr egoistisch und unüberlegt von Eurem Neffen Aldburg allein zu verlassen und sich zu Éowyns Geburtstag auf den Weg hierher zu machen. Er hätte sich ankündigen müssen.“ Théoden nickte schwach. „Er hätte unterwegs fallen können und Ihr hättet es womöglich niemals erfahren. Stellt Euch nur vor, wie sich das auf die Ostfold hätte auswirken können? All die schutzlosen Dörfer, die vielen Leben …“ Der König seufzte und Gríma konnte ihm ansehen, wie er sich die Überfälle der Dörfer und den Niedergang Aldburgs vorstellte. Vor seinem inneren Auge sah er die Ostfold brennen, hörte die verzweifelten Schreie der Frauen und Kinder.

Éowyn kehrte in diesem Augenblick mit Dernulf, dem Heilkundigen zurück in die Goldene Halle. Der Mann machte dem König seine Aufwartung und wurde von diesem direkt zu Éomers Gemach weitergeschickt. „Kümmert Euch gut um ihn“, sagte der König, doch dann wandte er sich wieder Gríma zu. „Ihr habt wie so oft recht.“

Dernulf und Éowyn hatten sich bereits abgewandt und hatten die Haupthalle verlassen. Sie führte den Heilkundigen direkt zum Schlafgemach ihres Bruders. „Öffnet das Fenster und lasst frische Luft herein“, bat der Mann und Éowyn folgte der Anweisung.

Die Luft, die von draußen hereinströmte, war bereits warm von der Sonne, vertrieb aber dennoch die Schwüle und den Gestank nach Schweiß. „Geht mir zur Hand“, verlangte Dernulf weiter, während er Éomer bereits aufdeckte. „Ich muss ihn gründlich untersuchen, um sicherzustellen, dass er nur die eine Wunde hat.“

Und so half Éowyn dem Heilkundigen dabei ihren Bruder zu entkleiden. Der war halb besinnungslos und wehrte sich nicht. Er murmelte währenddessen vor sich hin, doch keiner der beiden verstand, was Éomer zu sagen versuchte.

Neben der tiefen Fleischwunde am linken Arm war sein Körper auch mit einigen dunkelblauen Flecken und Schwellungen übersäht. Der rechte Rippenbogen verursachte ihm Schmerzen, stellte Dernulf fest, als er den großen Bluterguss dort abtastete und Éomer schmerzerfüllt aufkeuchte. Die übrigen Prellungen waren weniger schwerwiegend. „Ich muss die Wunde reinigen und ihm einen Kräuterverband anlegen, der die Entzündung hemmt. Scheinbar hat er die Verletzung nicht gesäubert.“

„Kann ich Euch dabei behilflich sein?“ Éowyns besorgter Blick ließ nicht von Éomers verschwitztem, bebendem Körper ab.

„Sicher tut es ihm auch gut, wenn Ihr ihn wascht, Herrin. Kühlt seinen Körper ab, während ich mich um seine Verletzungen kümmere. Anschließend sollte jemand sein Bett frisch machen und Sommerwäsche auftragen. Dies hier“, er deutete auf das Bettzeug, „ist viel zu warm für die Jahreszeit und seinen Zustand. Wir müssen zusehen, dass wir seine Temperatur herunterbekommen. Wenn Ihr könnt, besorgt Eis, damit wir ihm kühlende Wadenwickel machen können.“

Und dann begannen die beiden mit ihrer Arbeit. Dernulf reinigte die Verletzung an Éomers Arm, zog mit einer feinen Federzange kleinste Metallsplitter aus der Wunde, spülte sie gründlich aus und legte einen dicken Kräuterverband an, während Éowyn ihren Bruder von Kopf bis Fuß wusch.

Stunden später saß sie an seinem Bett und hielt seine Hand. Immer wieder machte sie ihm kühle Wadenumschläge, frischte das feuchte Tuch auf seiner Stirn auf und sprach mit ihm. Hin und wieder erwachte er aus seinem Fieberschlaf, dann ließ sie ihn Wasser trinken oder versuchte ihm Hühnerbrühe einzuflößen, auch wenn diese längst kalt geworden war. Dernulf hatte ihr deutlich gemacht, wie wichtig es war ihn mit Flüssigkeit und Nährstoffen zu versorgen. Auch sein Bett war inzwischen frisch gemacht worden, sodass er nur ein dünnes Leinentuch als Bettdecke hatte.

Éowyn selbst hatte über die Sorge um ihren Bruder selbst gar keinen Appetit und ignorierte das eigene Magenknurren. „Du musst wieder gesund werden“, flüsterte sie und legte sich am Abend neben ihren Bruder in das Bett. Sie schmiegte sich dabei behutsam in die Beuge seines gesunden Arms, darauf achtend nicht seine verletzten Rippen zu berühren. „Ich brauche dich, Éomer. Bitte werde wieder gesund.“

Sie nahm nicht wahr, wie ihr die Tränen kamen, als sie so über ihren Bruder wachte und dabei auch an das kleine Mädchen zurückdachte, das sein Fieber nicht überlebt hatte. Jahre waren seit diesem Vorfall vergangen, doch er hatte Éowyn nie ganz losgelassen. „Ich kann dich nicht auch noch verlieren“, weinte sie schließlich in seine Halsbeuge. Plötzlich spürte sie seine Hand in ihrem Rücken. Er streichelte sie schwach.

„Nicht weinen“, raunte er heißer. Seine Stimme, ganz gleich wie schwach, entlockte ihr sofort ein Lächeln zwischen zwei Schluchzern. Sie stützte sich leicht auf und sah ihm ins Gesicht. Und er erwiderte ihr Lächeln, wenn ihm die Erschöpfung auch noch anzusehen war.

„Wie fühlst du dich?“, fragte sie sofort.

„Müde. Hungrig. Aber langsam etwas besser.“

Es war inzwischen mitten in der Nacht. Gríma hatte über den Tag zweimal nach ihm gesehen. Hatte versucht Éowyn aus dem Raum zu locken. Aber sie war ihrem Bruder nicht von der Seite gewichen. „Soll ich mich in die Küche schleichen und dir etwas zu Essen holen?“ Sie hatte sich eigentlich vorgenommen, ihn ob seiner Gedankenlosigkeit zu schimpfen, sobald er genesen war. Aber jetzt war sie einfach nur erleichtert, dass es ihm besser ging.

Sein Magen knurrte beim bloßen Gedanken an Essen. „Das wäre großartig.“

Sie küsste ihn auf die Stirn, lächelte und stahl sich auf nackten Füßen aus seinem Gemach. Ganz Meduseld schien zu schlafen. Nur hier und da waren die Gänge mit Kerzen beleuchtet. In der Küche angekommen, schnappte Éowyn ein Tablett und lud so viel zu Essen und einen Krug frischen Wassers auf, wie sie tragen konnte. Und dann eilte sie genauso lautlos zurück zu ihrem Bruder, wie sie gekommen war.

Dass Gríma sie wieder einmal aus den Schatten heraus beobachtete und zornig die innige Bindung zwischen ihrem Bruder und ihr verfluchte, bemerkte sie nicht.

Als Dernulf am nächsten Morgen kam, um nach seinem Patienten zu sehen, ging es Éomer schon sehr viel besser. Später am Tag machte sich sogar der König selbst die Mühe, Éomer am Krankenbett zu besuchen und saß einige Stunden an seiner Seite. Während dieser Zeit erzählte Éomer seinem Onkel, was sich in der Folde zugetragen hatte und konnte guten Gewissens berichten, dass es um Aldburg herum relativ ruhig und friedlich war.

Und so erholte sich Éomer jeden Tag ein bisschen mehr, bis er nach ein paar Tagen endlich sein Bett und auch seine Räume verlassen und mit Éowyn Spaziergänge durch Edoras machen durfte. Stets jedoch unter den grimmigen Augen der Schlange.
Reue by Nadia
Éomer ging es von Tag zu Tag besser. Und eines Tages fühlte er sich bereit, endlich den versprochenen Ausritt mit seiner Schwester zu unternehmen, den sie sich so sehr wünschte. Sie fragte ihn nie danach, aber sie besuchte ihre Stute jeden Tag im Stall und verbrachte viele Stunden damit, sie zu striegeln, ihr die Mähne zu flechten, die Hufe auszukratzen und sie auf jede erdenkliche Weise zu verwöhnen. Nur geritten war sie das Tier bislang nicht.

Beinahe zehn Tage waren seit Éowyns Geburtstag vergangen und als Éomer an diesem Morgen erwachte, fasste er den festen Entschluss, mit seiner Schwester über die weiten Ländereien Rohans zu reiten und den sonnigen Tag zu genießen.

Es war bereits kurz vor Mittag, als Éomer sich im Thronsaal von seinem Onkel verabschiedete. Gríma saß, wie gewohnt, in unmittelbarer Nähe des Königs. „Wenn Ihr es gestattet, würde ich mich nun zurückziehen. Éowyn und ich haben einen Ausritt geplant und werden nicht vor dem Abend zurück sein.“

„Haltet Ihr das für eine kluge Entscheidung, nachdem was Euch zugestoßen ist?“, wandte sich Schlangenzunge an Éomer, sah dabei jedoch den König an. Eine Geste, die Zustimmung begehrte.

Théoden nickte kaum sichtbar. „In der Tat“, sagte er und klang dabei ganz und gar entkräftet. Wie jemand, der einige Nächte nicht geschlafen hatte und nur von Sorgen umringt war. „Es könnte gefährlich sein.“

„Ich versichere Euch, mein König, dass ich gut aufpassen und Éowyn keiner unnötigen Gefahr aussetzen werde. Ich habe Gúthwine stets bei mir. Außerdem habt Ihr Éowyn eine ausgezeichnete Ausbildung zur Schildmaid zukommen lassen. Ich bin mir sicher, dass auch sie sich mit ihrer neuen Ausrüstung bestens zu verteidigen weiß. Andernfalls müsstet Ihr die Fähigkeiten eines Eurer besten Hauptmänner hinterfragen.“ Und damit, wusste Èomer, hatte er den König auf seiner Seite. Éowyn war in der Tat ebenso gut ausgebildet worden wie Théodred oder er selbst. Dagegen konnte selbst Gríma nichts einwenden.

Théoden brummte schließlich sein Einverständnis und deutete erneut ein Nicken an. Als Gríma neben ihm den Mund öffnete, um etwas zu sagen, winkte der König unwirsch ab und gebot ihm damit zu schweigen.

Éomer konnte den Missmut deutlich in Grímas Augen erkennen. „Wohl denn …“, ließ sich Éomer vernehmen und konnte sich ein triumphales Grinsen nur schwer verkneifen.

„Seid vor Sonnenuntergang zurück in Edoras“, verlangte der König.

Éomer verneigte sich vor ihm. „Wie Ihr wünscht, Onkel.“ Und damit wandte er sich ab und marschierte so schnell es die Höflichkeit gebot aus der Goldenen Halle hinaus ins Tageslicht. Die blendende Sonne ließ ihn für einige Sekunden erblinden. Er blinzelte mehrmals, dann gewöhnten sich seine Augen an das neue Licht und er eilte den Weg hinab zu den königlichen Ställen.

Einer der Stallburschen kam ihm mit einer Schubkarre voller Mist aus den Ställen entgegen und murmelte eine Begrüßung, während er geschäftig an Éomer vorbei ging.

Dieser ergriff den Jungen jedoch am Arm, ehe dieser ihn ganz passiert hatte. „Sag, Bursche, ist meine Schwester im Stall?“

Der Stallbursche blickte auf seinen Arm hinab und nickte eingeschüchtert. „Ja, mein Herr Éomer. Sie ist bei ihrer Stute.“ Éomer ließ den Jungen los und bedankte sich für die Auskunft. „Aber sie ist nicht allein, Herr.“

„Wer ist bei ihr?“

„Eine Freundin. Sie kommt hin und wieder vorbei.“

Éomer erinnerte sich vage an eine junge Frau, die auf Éowyns Geburtstagsfeier gewesen war. Viel hatte seine Schwester ihm noch nicht über ihre Freundin erzählt. Das wurde Éomer allerdings erst jetzt so richtig bewusst.

„Danke“, raunte Éomer und setzte seinen Weg fort. Der Bursche sah ihm noch einen Moment nach, dann setzte auch er seine Arbeit wieder fort und brachte den Mist der königlichen Pferde weg.

Als Éomer den Stall betrat, hörte er zunächst nur ein Tuscheln und dann mädchenhaftes Gekicher. Er trat näher und fand die beiden jungen Frauen in Windfohlens Box in einer Ecke sitzend und lachend. „Einen wunderschönen guten Tag, die Damen“, grüßte er die zwei und schmunzelte.

Während der einen Frau das Lachen verging, grinste die andere umso breiter. Éowyn stand auf und half dann ihrer Freundin mit einem beherzten Ruck ebenfalls auf die Beine. Die Freundin sah wie ein verschrecktes Reh aus. „Ich störe hoffentlich nicht?“ Éomer sah von einer zur anderen.

„Nein, du niemals“, sagte Éowyn und trat zu ihrem Bruder, um ihn mit einer Umarmung zu begrüßen. „Erinnerst du dich an Hunith?“

„Selbstverständlich“, erwiderte er nickend. „Deine Freundin. Sie war bei der Feier.“ Einen Moment herrschte Schweigen, dann: „Was hat euch eben amüsiert?“ Er hörte seine Schwester viel zu selten auslassen lachen.

„Das verraten wir dir nicht“, erwiderte Éowyn frech und zwinkerte ihrer Freundin zu. Diese stand immer noch ziemlich unbeholfen da und schien nicht recht zu wissen, was sie sagen oder tun sollte. „Und was treibt dich so früh hierher? Müsstest du nicht mit dem König über Karten brühten und Verteidigungspläne schmieden?“

„Heute nicht. Der Tag ist viel zu schön, um ihn in dunklen Hallen über Karten zu verbringen. Stattdessen dachte ich, wir beide könnten endlich den Ausritt machen, den ich dir schuldig geblieben bin.“

Éowyns Augen leuchteten auf. „Wirklich? Oh ja, das wäre großartig!“ Ihre anfängliche Begeisterung wechselte jedoch nur einen Sekundenbruchteil später in Trübsinn. Sie wandte sich an Hunith. „Wärst du mir böse, wenn wir das Training verschieben würden?“

Diese erzwang ein höfliches Lächeln und schüttelte die eigene Enttäuschung ab, um Éowyn zu täuschen. „Nein, natürlich nicht.“ Kaum ausgesprochen, machte sie sich bereits daran den Stall zu verlassen. Über ihre Schulter sagte sie: „Ich weiß noch nicht, wann ich wieder Zeit erübrigen kann. Vielleicht nächste Woche.“

„Was für ein Training?“, fragte Éomer neugierig. Die beiden Frauen konnten von der Herkunft kaum unterschiedlicher sein. Was verband sie? Gab seine Schwester der Freundin Reitunterricht?

„Kannst du an keinem anderen Tag in dieser Woche?“, wollte Éowyn wissen und ignorierte bewusst die Frage ihres Bruders. Hunith schüttelte den Kopf. Im Grunde wusste Éowyn, dass Hunith täglich auf dem Hof ihrer Eltern gebraucht wurde. Für die heutigen freien Stunden hatte sie in Vorleistung gehen müssen. Das Wissen darum zerknirschte Éowyn. Sie war hin und hergerissen zwischen ihrer Freundin und ihrem Bruder.

„Ich kann verstehen, dass du heute mit deinem Bruder ausreiten möchtest. Das Wetter ist perfekt dafür und du hast ihn so lange nicht gesehen“, erwiderte Hunith. „Das Training läuft uns nicht weg.“

„Welches Training?“, fragte Éomer erneut, diesmal fordernder. Brachte die Freundin seiner Schwester bei, wie man Kühe molk oder Schafe schor? Ein halbes duzend solch abstruser Ideen kam ihm dabei in den Sinn.

„Ich unterrichte sie im Schwertkampf“, unterbrach Éowyns Stimme seinen Gedankengang.

Er konnte nur schwer einen Lachanfall unterdrücken. Diese Möglichkeit war ihm wahrlich nicht in den Sinn gekommen. „Du bringst einer Bäuerin den Umgang mit dem Schwert bei?“, flüsterte er in Éowyns Richtung, sobald er sich einigermaßen gefasst hatte.

Èowyn reckte das Kinn. „Sei nicht so arrogant!“, herrschte sie ihn an und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. „Sie ist schon richtig gut geworden.“

Éomer verdrehte die Augen. „Wenn du meinst …“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass Éowyn einer Bäuerin den Schwertkampf beibrachte. Sie hatte doch selbst noch keine richtige Erfahrung in Scharmützeln gesammelt und noch nie einen Orc erschlagen. Es war eine Sache, wenn jemand wie Gamling, der schon viele Schlachten geschlagen und gewonnen hatte, Unterricht gab. Eine andere war es jedoch, wenn eine unerprobte Kämpferin eine Bäuerin mit noch weniger Sinn für die Kampfkunst in eben dieser unterrichtete. Das war, als führe ein Blinder einen Blinden. Die Ausbildung zur Schildmaid war der gehobenen Damengesellschaft vorbehalten und eigentlich auch nur eine Formsache. In keiner Éored gab es Frauen. Die Schlachten waren den Männern vorbehalten. Die Frauen lernten lediglich, sich in aller größter Not zu verteidigen. Was dachte sich Éowyn nur dabei?

In diesem Augenblick lernte Éowyn eine Seite an ihrem Bruder kennen, die ihr bislang fremd war. Sie sah ihn einen langen Moment schweigend an, ehe sie entschlossenen Schrittes zu Hunith hinüberging. „Weißt du was, Éomer, ich muss unseren Ausritt verschieben. Ich habe meiner Freundin ein Versprechen gegeben, das ich einzuhalten gedenke.“

„Éowyn“, ergriff nun Hunith das Wort und nahm ihre Freundin bei der Hand, „es ist schon gut. Mach den Ausritt mit deinem Bruder. Wahrscheinlich hat er recht und ich verschwende nur deine Zeit.“

„Unsinn“, schnappte Éowyn. „Komm, wir gehen auf den Übungsplatz. Die Männer dürften jetzt Mittag machen. Die nächsten zwei Stunden gehört der Platz uns.“ Und damit riss Éowyn ihre Freundin einfach mit sich und ließ ihren Bruder vollkommen konsterniert zurück.

~

Éomer musste zugeben, dass seine Schwester ihn positiv überraschte. Sie trug an diesem Tag Hosen, wie ein Mann und führte das Schwert mit so sicherer Hand, als würde sie seit Jahren nichts anderes tun. Ihre Freundin tat sich ein wenig schwer, sich in dem viel zu langen Rock einigermaßen elegant zu bewegen, doch auch sie wirkte nicht so verloren, wie er angenommen hatte. Er hoffte allerdings inständig, dass es niemals so weit kommen würde, dass seine Schwester und andere Frauen in den Kampf ziehen und Rohan gegen Saurons Schergen verteidigen müssten. Denn dies würde bedeuten, dass die Éored versagt hätten.

Für eine Weile beobachtete er die beiden jungen Frauen bei ihrem Training. Éowyn ignorierte seine Anwesenheit scheinbar bewusst. Sie war so stur wie schön, dachte Éomer bei sich. Ob sie das von ihrer Mutter geerbt hatte? Er wünschte, dass er sich besser an ihre Mutter erinnern konnte. Er wusste so wenig von ihr. Ebenso wenig von seinem Vater, der viel zu früh gefallen war. Und nun stand er hier und sah seiner jüngeren Schwester dabei zu, wie sie zu einer Kriegerin wurde. Seine geliebte kleine Schwester … Er war viel zu lange fort gewesen, stellte er ernüchtert fest. Sie hatte sich verändert, so wie er sich verändert hatte. Sie waren beide nicht mehr die Kinder, deren Wege sich vor all den Jahren getrennt hatten.

Aber es gab eine Möglichkeit das Versäumte wieder aufzuholen. Er musste herausfinden, was mit ihren Briefen geschehen war. Jemand hatte verhindert, dass sie sich über das jeweilige Leben auf dem Laufenden hielten. Jemand, der ihre innige Verbindung brechen wollte. Éomer wollte niemand anderes als Gríma dafür einfallen. Doch Schlangenzunge war ein geschickter Lügner, ein gewiefter und manipulativer Mann, der den Respekt und Schutz des Königs genoss. Éomer wusste, dass er Gríma nicht einfach mit Vorwürfen konfrontieren durfte, ohne Beweise zu haben.

Und so machte sich der junge Marshall auf den Weg zum Postmeister von Edoras. Vielleicht würde er dort einige Antworten erhalten. Mit Éowyn würde er sich zu gegebener Zeit wieder unterhalten, wenn sich ihr Gemüt beruhigt hatte. Im Augenblick war sie wütend auf ihn, das war nicht zu übersehen. Und so ließ er sie und ihre Freundin auf dem Trainingsplatz zurück und begab sich zum südlichen Eingang der Stadt, vor dem sich die Hügelgräber seiner Vorfahren befanden.

Während er durch die Stadt ging, wurde er von allen Seiten respektvoll begrüßt. Einige Leuten schienen sogar regelrecht froh zu sein, ihn wieder genesen zu sehen. Und er glaubte auch zu wissen, wo die Stimmung des Volkes herrührte. Der König war in keiner guten Verfassung, schien krank und vergesslich geworden zu sein. Hinzu kam der Einfluss, den Schlangenzunge auf den König ausübte. Éomer musste es geschickt anstellen, wenn er Gríma diskreditieren wollte. Er musste dabei genauso hinterhältig und geschickt sein wie Schlangenzunge. Nur was Éomer noch nicht begriff, war die Intension, die hinter Grímas Einfluss auf den König steckte. Erhoffte sich Schlangenzunge den Thron? Falls ja, konnte Éomer nur darüber lachen. Théodred würde sich nicht so leicht von Schlangenzunge einlullen lassen.

Der König hatte Gríma viel zu sehr intervenieren lassen. Es war, als spreche nicht mehr der König selbst, sondern Schlangenzunge, sobald Théoden den Mund öffnete. Der Einfluss des Beraters war allzu erschreckend. Aber Éomer war so lange fort gewesen, dass er nicht wusste, wie er seinem König jetzt noch helfen konnte. Es gab kaum einen Moment allein mit seinem Onkel, stets war Gríma an seiner Seite. Wie eine Zecke, die sich in sein Fleisch verbissen hatte, es vergiftete und ihm den Lebenssaft entzog …

Éomer blieb abrupt stehen und wandte sich nach Meduseld, der Goldenen Halle, um. Hoch oben auf dem Hügel thronte die schönste aller Methallen Rohans. Sein besorgter Blick galt jedoch nicht dem Gebäude selbst, sondern vielmehr dem König, dessen Geist von Tag zu Tag schwand. Wo war der stolze König von einst, der ihm und seiner Schwester Obhut und Liebe hatte zuteilwerden lassen? Wo war der Onkel, der sie beide getröstet und wie ein Vater geliebt hatte? Théodens geistige Umnachtung kam nicht von ungefähr. Éomer glaubte, dass Gríma zumindest eine Teilschuld an des Königs Zustand hatte. Allerdings war Gríma, Sohn Gálmóds, ein verhältnismäßig einfacher und nicht unbedingt der klügste Mann. Warum Théoden ihn und nicht Gamling oder einen der anderen Heerführer zu seiner rechten Hand erwählt hatte, würde wohl ein ewiges Mysterium für Éomer bleiben.

Schließlich legte er die letzten Schritte zurück und erreichte das Haus des Postmeisters. Er klopfte beherzt an die Tür und musste sich nicht allzu lange gedulden, ehe ihm die Tür geöffnet wurde.

„Mein Herr Éomer!“ Sofort verneigte sich der Postmeister. „Was kann ich für Euch tun, Herr?“

Éomer bemühte sich sachlich zu klingen, als er sein Anliegen preisgab. „Ich habe meiner Schwester in den vergangenen Jahren mehrere duzend Briefe geschickt, die sie jedoch niemals erreicht haben. Nun wollte ich mich erkundigen, ob Ihr eine Ahnung habt, wo sich die Schriftstücke befinden. Ebenso sind mir keine Briefe zugestellt worden, die meine Schwester mir geschrieben hat. Da ich jedoch im Schriftwechsel mit dem König war und auch mit meinem Vetter Théodred, glaube ich nicht, dass die Briefe unterwegs abgefangen worden sind. Wieso sollten sie auch? Es sind nur private Schriftstücke zwischen Geschwistern, die nichts als alltägliche Banalitäten beinhalteten und nicht etwa militärische Geheimnisse.“

Der Postmeister schluckte sichtbar schwer und vermied den Augenkontakt zu Éomer. „Sprecht“, verlangte der junge Marshall. „Was wisst Ihr über den Verbleib der Schriftwechsel zwischen meiner Schwester und mir? Ich verspreche, dass ich Euch gegenüber Nachsicht werden walten lassen, wenn Ihr die Wahrheit sagt.“

Der Postmeister, ein älterer Mann, der bereits in der dritten Generation diesen Posten bekleidete, sah bedrückt zu Boden. Er befeuchtete nervös seine Lippen und presste diese schließlich aufeinander. „Bitte kommt herein“, sagte er dann und öffnete die Tür weit genug, dass Éomer in die kleine Hütte eintreten konnte.

In der Stube standen mehrere Holzkisten unter dem einzigen Fenster, in denen sich diverse Briefe sammelten. Eine Kiste war mit Wildermark gekennzeichnet, eines der nördlichsten Gebiete Rohans. Eine Kiste mit Steppe, dem so ziemlich nordöstlichsten Ausläufer Rohans, der sich auf der einen Seite fast bis an die Grenzen zu den Wäldern Lothlóriens erstreckte und auf der anderen Seite vom Großen Fluss eingesäumt wurde. Eine Kiste war darüber hinaus für die Ost- und eine für die Westfold.

„Sind die Briefe in diesen Kisten?“, verlangte Éomer zu erfahren. „Wo habt Ihr sie gelassen?“

Der Mann schien sichtlich beschämt aufgrund seiner vergangenen Taten. „Ich bitte tunlichst um Vergebung, mein Herr Éomer. Ich bin nicht mehr im Besitz der Schriften. Sie wurden regelmäßig abgeholt …“ Der Postmeister bot Éomer einen Stuhl an, während er selbst vor dem Marshall auf die Knie ging und um Vergebung suchte.

Éomer konnte kaum glauben, dass der Postmeister sich ihm so leicht öffnete, und nahm auf dem dargebotenen Stuhl Platz. Er hatte geglaubt, oder vielleicht sogar gehofft, dass er sich irrte und dieser Weg sich als Sackgasse erweisen würde. Doch der Mann vor ihm war voller Reue und geständig und so wollte Éomer ihm die Möglichkeit der Erklärung geben. „Wer hat Euch dazu gebracht, die Briefe einzubehalten? Was war der Preis, den man Euch dafür bot.“

Tränen der Scham sammelten sich in den Augenwinkeln des Postmeisters, doch er antwortete diesmal erhobenen Hauptes, fast schon erleichtert, dass er endlich ertappt worden war und womöglich in der Hoffnung, dass dieser Niedertracht endlich ein Ende bereitet wurde. „Der Berater des Königs hat verlangt, dass ich Eure Briefe und die der Herrin Éowyn einbehalte und ihm übergebe. Er drohte meiner Familie, mein Herr. Ich habe eine kranke Frau, drei Kinder und sechs Enkelkinder. Er versprach mir Heilung für meine Frau …“ Der Mann schluchzte und versuchte erst gar nicht den Strom an Tränen zu unterdrücken.

Éomer zwang sich standhaft zu bleiben, auch wenn ihm der Mann leidtat. Was er getan hatte, war tiefes Unrecht. „Hat Gríma sein Wort wenigstens gehalten?“

Die Stimme des Postmeisters brach, während er kopfschüttelnd antwortete: „Meine Mechthild liegt im Sterben. Ich kann mir den Heiler nicht leisten.“

„Ich schicke den Heiler sofort zu Euch“, versprach Éomer. „Gebt mir dafür Euer Wort, dass Ihr mich sofort informiert, sollte Gríma wieder einen Brief der Königsfamilie einbehalten. Egal ob er vom König stammt, von Éowyn, Théodred oder mir. Ich schütze Euch und Eure Familie, aber ich verlange Eure bedingungslose Treue des Königshauses gegenüber.“

„Ich schwöre bei meinem Leben und das meine Familie, dass ich Euch niemals wieder hintergehen und Euch Briefe vorenthalten werde. Habt Dank, Herr Éomer! Alles was mir lieb und teuer ist, ist Euer.“ Er griff nach Éomers Hand und küsste seinen Handrücken.

„Ich vergebe Euch“, ließ sich der junge Marshall vernehmen, legte die freie Hand auf das Haupt des Mannes und gebot diesem schließlich, sich zu erheben. Sobald der Postmeister auf den Füßen war, erhob auch Éomer sich wieder von dem Stuhl. „Erwartet den Heiler in der nächsten Stunde.“ Damit wandte er sich zum Gehen und war schon halb zur Tür hinaus, als der Postmeister noch einmal seine Aufmerksamkeit forderte.

„Herr Éomer, vielleicht ist es bedeutungslos, doch ich habe den Berater vor einigen Monaten mit dem Weißen Zauberer gesehen. Gríma hat ihn zum Haupttor begleitet. Sie schienen sich gut zu verstehen, sprachen sehr leise miteinander. Ich konnte sie nicht verstehen, aber sie wirkten … einig.“

„Eine Verschwörung … mit Saruman …“ Éomer schwirrte der Kopf. Was mochte Saruman mit Gríma zu schaffen haben? Der junge Marshall nickte dem Postmeister zu. „Seid vorsichtig …“

„Ihr ebenso, Herr Éomer. Und habt Dank für … alles.“

Die beiden Männer sahen sich noch einen Moment in die Augen, dann trat Éomer hinaus auf die Straßen Edoras‘ und machte sich auf den Weg zu Dernulf. Er war der kundigste Heiler in ganz Edoras, der sonst vorwiegend die Königsfamilie behandelte. Wenn er der Frau des Postmeisters nicht würde helfen können, dann vermochte es niemand mehr.

Éomer war überdies wild entschlossen die einbehaltenen Briefe von Gríma einzufordern, auf die eine oder andere Weise …
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