Jeremias Tiller und die Fesseln der Zeit von BlueScullyZ

Jeremias Tiller und die Fesseln der Zeit von BlueScullyZ

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Die Minuten flogen an ihm vorbei. Nächtliche Schatten, tausende Atemzüge, unzählige Gedanken. Die Dunkelheit hatte ihm jegliches Zeitgefühl geraubt. Dennoch war er überzeugt davon, kein Auge zugemacht zu haben. Zu sehr war er gefangen von den vielen Fragen, auf die er keine Antwort fand. Er konnte ihnen bloß eines erwidern; einen Satz, der sich tiefer und tiefer in sein Hirn grub: Er war in Hogwarts und Nicolas nicht. Er war hier und Nicolas nicht. Er war hier. Nicolas nicht. Immer schmerzhafter fraß sich die Erkenntnis in seine Brust. Mit der Zeit wurde er taub für den brennenden Schmerz. Als er sich mit einer Hand über die müden Augen rieb, wurde ihm klar, dass er kurz eingenickt sein musste. Sein Gesicht war tränennass, doch er hatte keinerlei Erinnerungen daran, geweint zu haben.

Verstohlen sah er sich um. Im fahlen Mondlicht, das durch die Fenster fiel, ließen sich die Umrisse seiner Mitbewohner nur vage erahnen. Die schienen friedlich zu schlafen. Etwas, worum er sie im Stillen beneidete.

Er schlug so leise wie irgend möglich das Deckbett beiseite. Das Rascheln des Stoffs zerfetzte die Stille wie ein dünnes Pergament, weshalb er sich prüfend umsah.

Niemand rührte sich.

Weiterhin vorsichtig richtete sich der Junge auf. Als es still blieb und selbst Len reglos verharrte, schwang er seine Beine über die Bettkante. Zielstrebig tastete er nach der Kommode. Er fand das glatte, abgegriffene Holz. Auf der Suche nach dem Objekt der Begierde strich er mit der Handfläche über das Schubfach. Der Laut, den seine Haut auf der rauen Oberfläche erzeugte, wurde vom Hohlraum der Kommode aufgenommen. Es klang so imposant, dass Jeremias befürchtete, selbst Keaton, der am anderen Ende des Raumes lag, könnte davon erwachen. Letztlich fand er, was er suchte, griff es sich hastig, stand auf und erstarrte prompt.

Über ihm war eines der Lichter angegangen. Das Herz des Jungen schlug plötzlich im Takt der Flügel eines Kolibris. Mühsam befreite er sich aus seiner Starre, ehe er den Kopf zu den übrigen Betten wandte.

Nichts. Hatten sie einen so tiefen Schlaf? Oder war er gefangen in einem Alptraum?

Er kam nicht dazu, diese Idee weiter zu verfolgen, denn erleichtert fiel ihm auf, dass es im Raum gerade hell genug geworden war, dass er den Weg zu den beiden Türen finden konnte. Es war kein warmer, heller Schein, sondern ein silbriger Schimmer. Eher, als leuchtete der Mond durch die Öffnung in der Decke, zu der Jeremias gebannt aufschaute. Der kalte Schimmer schwemmte die Hitze, die ihm vor Schreck ins Gesicht gestiegen war, beiseite.

Entschlossen umfasste er das Papier in seiner Hand und schlich zum Eingang des Schlafsaals.Auch wenn er die Spuren der Tränen in seinem Gesicht spürte, wollte er keineswegs in den Waschraum. Die verräterischen Zeichen wischte er mit dem Ärmel seines Schlafanzugs beiseite, während er mit der freien Hand die Tür zum Flur öffnete und so vorsichtig wie möglich hindurchschlüpfte.

Kaum war die Tür hinter ihm erschreckend laut ins Schloss gefallen, wurde es im Flur heller. Hier herrschte das übliche gold-gelbe Licht vor, das zunächst bloß zu erahnen war, dann allerdings mit jeder Sekunde zunahm. Jeremias lief ohne abzuwarten den Gang entlang. Hier brauchte er auf niemanden Rücksicht zu nehmen. So ließ er ebenso keine besondere Vorsicht walten, als er die letzte leise knarrende Pforte öffnete und kurz darauf hinter sich schloss.

Wie vermutet, war der Gemeinschaftsraum leer. In der spärlichen Beleuchtung ging ein wenig vom gemütlichen Charme, den Jeremias am Abend wahrgenommen hatte, verloren. Vielleicht fehlten die Menschen. Vielleicht war es so aber auch genau richtig. Denn so lag der Raum da, wie er sich fühlte: verlassen.

Abermals wischte der Junge sich mit dem Ärmel über die Augen, die lange aufgehört hatten zu tränen, und begab sich zu einem der kleinen Tische. Es kümmerte ihn wenig, dass der Stuhl beim Zurückschieben lautstark über den Holzboden schliff.

Über ihm wurde es heller, bis er mühelos sehen konnte. Außerhalb des Lichtkegels lag der Raum weiterhin in nächtlicher Düsternis, die Jeremias getrost ignorierte. Sein Blick klebte an dem Papier, das er in Händen hielt. Seine milder werdenden Züge zeugten davon, wie die Abbildung darauf seinen Geist in sich aufnahm, um ihn von hier fortzubringen.

Von der Fotografie lächelten ihn vier glückliche Gesichter an. Seine Eltern, Nicolas und er selbst. Das Bild war kurz vor Nicolas' Einschulung aufgenommen worden. Ganz lässig hatte der ältere Bruder seinen Arm um Jeremias gelegt, der schräg vor ihm stand. Unbekümmert strahlte er in die Kamera, als dachte er in diesem Augenblick nicht im Traum daran, was einmal sein könnte. Hatte er es wahrhaftig vergessen? War er wunschlos glücklich gewesen?

Jeremias' Aufmerksamkeit wanderte zum Abbild seiner selbst. Auch aus seiner Miene sprach die Freude, der Stolz. Doch worüber? Die Vorfreude, eines Tages selbst nach Hogwarts zu kommen? Der Stolz auf seinen Bruder? Beides klang so logisch. Er wusste, dass es stimmte, aber es war vergebens, sich diese Gefühle in Erinnerung zu rufen. Sie waren unerreichbar, wie fest in ihm verschlossen. Wie die Gedanken eines Fremden. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als noch einmal so zu empfinden; unbeschwert zu sein. Frei von den dunklen Schatten, die ihn in dieser Sekunde sprichwörtlich umgaben.

Zitternd holte der Junge tief Luft, ohne den Blick von der glücklichen Familie abzuwenden. Er war sich des Schmerzes bewusst. Die Vernunft gebot es ihm, zurück in sein Bett zu gehen. Er musste morgen ausgeschlafen sein, um seine Nachforschungen zu beginnen. Diese Erinnerung brachte Nicolas nichts und ihm selbst rief sie nur allzu lebhaft ins Gedächtnis, was er befürchtete zu verlieren. Doch das war undenkbar. Es war das bisschen Glück, das er gierig daraus zog. Das blasse Echo der schönen Tage, die für diesen einen, flüchtigen Augenblick ihm bar jeder Vernunft all den Schmerz sowie die Finsternis wert waren. So starrte er weiter auf das Lächeln der anderen, verlor sich darin, stellte sich dem wilden Sturm in seinem Inneren, in dem seine Angst auf das wehrlose Glück traf, in der blinden Hoffnung, die Zukunft für einen Sekundenbruchteil zu vergessen. Er wollte einfach glücklich sein – selbst, wenn lange nicht die Zeit dafür war.

Mit einem erschrockenen, heiseren Schrei fuhr Jeremias hoch. Etwas Kaltes hatte seine Schulter berührt. Nasse Kälte, die sich sanft unter die Haut grub, ohne wirklich da zu sein. Um ihn herum war es dunkel. War er eingeschlafen? Hecktisch sah er über seine Schulter und erschrak erneut, was einen zweiten erstickten Schrei zur Folge hatte, dessen Tonhöhe ein wenig an Regin erinnerte.

In silbrigem Glanz hing schwebend in der Luft ein Geist. Der Lebensschatten eines Verstorbenen. Der Fette Mönch, wie Jeremias nach einer Schrecksekunde erkannte.

Der Geist lächelte – anders als die Tillers auf dem Foto, das der Junge noch immer in Händen hielt, keinesfalls unbekümmert. »Verzeihen Sie, aber es ist doch ein reichlich unbequemer Ort für den Nachtschlaf«, sprach der Untote. Die Worte vertrieben den Schatten aus seiner Miene, der Jeremias ratlos zurückließ. Sein Gesichtsausdruck bekam etwas Warmherziges, als die Krähenfüße um die Augen des Mannes zutage traten.

»Ich ...«, wollte der Schüler sich rechtfertigen.

Beschwichtigend hob der Mönch die Hände, bevor Jeremias ausgesprochen hatte. »Schon in Ordnung. Ich bin nicht hier, um Sie zurechtzuweisen«, beruhigte er den Jungen augenzwinkernd. »Ich dachte nur, dass es sicherlich nicht Ihre Absicht war, hier die ganze Nacht bis zum Morgengrauen zu verweilen.«

Beschämt verbarg Jeremias so gut es ging das Foto unter seinen Händen. Er gab sich Mühe, seine Unsicherheit zu überspielen. Wie lange er hier wohl gesessen hatte?

Der Geist schien seine Gedanken zu erraten. »Wir haben erst kurz nach Mitternacht«, gluckste er. »Und die erste Nacht ist für viele besonders aufreibend.«

Der Junge räusperte sich und widerstand dem Drang, sich abermals mit dem Ärmel seines Schlafanzuges über die Augen zu wischen. Er spürte die getrockneten Tränen auf der Haut, die sich wie eine dünne Kruste auf seine Wangen gelegt hatten. »Ja«, brachte er leise hervor, um überhaupt etwas zu sagen. Schließlich war es irgendwie unhöflich, kompromisslos zu schweigen.

Beschwingt schwebte der Geist an ihm vorbei und ließ sich auf dem Stuhl gegenüber sinken. Da das Möbelstück an den Tisch herangeschoben war, ragte der Oberkörper des Mönches aus der robusten Platte. Augenscheinlich machte es ihm nichts aus. »Mit einem leeren Magen schläft es sich umso schlechter«, bemerkte der Untote mit wissender Miene.

Ertappt betrachtete Jeremias die Holzplatte vor sich umso intensiver, womit er von dem skurrilen Anblick des halbdurchsichtigen Körpers, der im Tisch steckte, abließ. Es war ohnehin unhöflich, zu starren, erinnerte er sich tapfer. »Hatte keinen Hunger.« Der Trotz in seiner Stimme überraschte ihn selbst. Schließlich entsprach es der Wahrheit. Wobei Appetit der bessere Ausdruck gewesen wäre, wie ihn seine Mutter früher immer erinnert hatte, wenn er und Nico geschworen hatten, unbedingt einen Nachtisch zu brauchen, um ganz bestimmt satt zu sein.

»Vielleicht aber jetzt«, entgegnete der Geist beiläufig. »Es ist schließlich niemand hier, der Sie beobachten würde. Sie könnten in aller Ruhe Ihren Gedanken nachhängen.«

Zaghaft schaute Jeremias auf. Im Großen und Ganzen mochte der Mönch Recht haben, aber es war ohnehin alles graue Theorie. »Das Essen ist längst vorbei.« Er schaute nach unten, um dem Geist auszuweichen, gleichzeitig kochte Ärger in ihm hoch. Damit hatte er indirekt zugegeben, dass sein Magen in der Tat mit seiner abendlichen Entscheidung alles andere als zufrieden war. Und mit der am Mittag. Und mit dem verschmähten Frühstück, das er mit der Ausrede, vor der Reise nichts herunterzubekommen, ausgeschlagen hatte. »Und Sie sind hier.« Das war der zweite Umstand, der den Vorschlag des Mönches gegenüberstand.

Zu Jeremias' Überraschung erklang mit einem Mal ein vergnügtes Glucksen. »Ich zähle nicht«, widersprach ihm der Geist amüsiert. »Ich bin tot.«

Konfus starrte der Zauberschüler seinen Gegenüber an. Was an dieser Feststellung so lustig sein sollte, erschloss sich ihm nicht. Oder doch? Irgendwie schon, aber er brachte es nicht über sich, in das Gelächter einzustimmen.

»Entschuldigen Sie«, sprach der Mönch verlegen. »Ich vergesse manchmal, dass dieser Umstand für gewisse Lebende sonderlich ist.«

Sonderlich war noch nett ausgedrückt, fand Jeremias, der sich ein sehr flüchtiges, höfliches Lächeln abrang. »Aber trotzdem sind Sie ja ...«

Schritte. Hinter ihm erklangen tapsige Schritte. Schlagartig verstummte der Schüler argwöhnisch und schaute sich um. Er erblickte eine kleine Gestalt im Eingang des Gemeinschaftsraumes.

Sogar er war größer. Nur sein Kopf war wesentlich kleiner als der jener merkwürdigen Kreatur. Mit großen, wahrlich riesigen Augen, groß wie Mandarinen, starrte das Wesen ihn an. Die fledermausartigen Ohren, die es so fest angelegt hatte, dass sie auf den ersten Blick gänzlich mit der kahlen Kopfhaut verschmolzen, ließen es aussehen, als befürchte es, Jeremias würde es gleich anfallen oder bei lebendigem Leibe zerfleischen.

Oder, dachte der Schüler, es hatte Angst vor Geistern. Er konnte nur Mitleid mit diesem knochigen Wesen haben, das dort in ein weißes Tuch gehüllt stand, auf dem von einigen Soßenflecken verdeckt das Hogwartswappen prangte.

In seinen mageren Händen hielt es einen Teller, von dem der Junge befürchtete, dass das Gewicht desselben die zierliche Gestalt zu brechen drohte.

Es war das erste Mal, dass Jeremias einen echten, lebendigen Hauselfen sah.

»Ah, Korbey!«, begrüßte der Geist den verschüchterten Elfen, der zaghaft zu den beiden heraufsah, während er sich zögerlich dem Tisch näherte.

»Das Essen, um das Ihr batet, Sir«, sprach der Elf mit piepsiger Stimme, die sogar höher klang als Regins, was Jeremias bis dahin für unmöglich gehalten hatte.Den Gedanken schob der Junge jedoch beiseite, als Korbey sich streckte, um das Gedeck auf dem Tisch zu platzieren, dessen Platte auf Höhe seiner Bleistiftnase war.

Ohne groß darüber nachzudenken, griff Jeremias den Teller und stellte ihn selbst vor sich ab.

Mit noch viel größeren Augen, sodass das Gesicht des Elfen aus fast nichts anderem mehr zu bestehen schien als dem Weiß seiner riesigen Augäpfeln, dem warmen Braun seiner Iris und dem halboffenem Mund, sah Korbey den Erstklässler an.

Jeremias bekam bei diesem entsetzten Anblick schlagartig das Gefühl, etwas grundlegend Falsches getan zu haben. Hilfesuchend schaute er zum Mönch herüber, in dessen Miene fortwährend ein breites Schmunzeln zu sehen war.

»Vielen Dank, Korbey«, sagte der Geist freundlich.

Das Wesen stand immer noch sprachlos da, während sein Gesichtsausdruck glücklicherweise milder wurde. Statt namenlosem Entsetzen, spiegelte sich nunmehr Verblüffung darin.

»Danke«, brachte auch Jeremias unbeholfen hervor. Dabei schenkte er dem kleinen, offensichtlich verschreckten Wesen ein aufmunterndes Lächeln.

Korbeys Augen wurden daraufhin kleiner, begannen dafür plötzlich vor Freude zu strahlen. Hastig verneigte er sich, wobei seine lange, spitze Nase beinahe seine Zehen berührte. »Zu Ihren Diensten, Mister«, ließ er feierlich verlauten. »Falls der Herr etwas wünscht – einen Nachtisch oder eine heiße Milch mit Honig oder vielleicht eine Wärmflasche für die Nacht – wird Korbey ihm gerne behilflich sein.« Überschwänglich sprudelten die Worte aus dem kleinen Elfen heraus.

Mit diesem plötzlichen Wandel hatte Jeremias nicht gerechnet. »Nein, danke, alles gut«, lehnte er perplex ab, was erneutes Entsetzen auf der Gegenseite hervorrief. »Es ist wirklich sehr freundlich, aber ich brauche gerade nichts«, schob er eilig hinterher. »Vielen Dank.«

Das half offenbar. Ergeben senkte der Elf sein Haupt.

»Danke, Korbey«, mischte sich der Geist nachdrücklich ein.

Der Hauself wandte sich zurück an Jeremias. Auf seinem Gesicht hatte sich ein flüchtiges, unbeholfenes Lächeln gebildet. »Sir, seine Familie kann nicht zufällig einen tüch...«

Als der Fette Mönch seine Stimme erhob, war ein ärgerlicher Unterton unverkennbar. »Korbey?«

Verbissen kniff der Genannte seine Lippen fest aufeinander, vollführte einen hastigen Knicks und eilte dann fluchtartig in Richtung Ausgang. Auf halbem Wege sah er verstohlen über die Schulter hinweg. Sein flehende Blick erweckte Mitleid bei dem Jungen.

»Entschuldige«, lenkte der Geist Jeremias' Aufmerksamkeit auf sich. »Korbey ist erst seit Kurzem hier. Sein Meister verstarb unverhofft. Die Freiheiten, die er hier genießt, sind ihm neu.«

Jeremias rief sich den flehenden Ausdruck des Elfen in Erinnerung, was Zweifel in ihm aufkommen ließ. Konnte Freiheit derart quälend sein?

Dem Fetten Mönch fiel diese Skepsis ganz offensichtlich auf. »Hauselfen richten ihr gesamtes Leben ihren Besitzern aus. Ihr Lebensinhalt besteht darin, ihren Meistern gute Diener zu sein. Sie erwarten keinen Dank und keine Bezahlung. Allein zu wissen, dass sie nützlich sind, reicht ihnen vollkommen. Sehr enthaltsame Wesen, diese Elfen. Manchmal fast schon ein wenig lästig, wenn es ihnen nicht enthaltsam genug ist.«

Der Junge zweifelte weiterhin. Dass Hauselfen Diener waren, wusste er, auch wenn es in seiner Verwandtschaft niemanden gab, der einen besaß. Besaß, dachte Jeremias. Korbey war ihm sehr menschlich vorgekommen. Keinesfalls wie ein Tier. Selbst über Len würde er nie sagen, dass er ihn besitzen würde. Konnte man also Hauselfen besitzen?

»Sie sollten etwas essen«, riss ihn der Geist aus seinen Gedanken. »Sonst wird es kalt.«

Erstmals sah Jeremias genauer auf den Teller. Er erkannte, dass es sich um genau jenen handelte, den er beim Abendessen hatte stehen lassen. Dennoch dampfte der Kartoffelstampf wie beim Festmahl, das seit Stunden vergangen war. Auf den zweiten Blick erschien ihm die Portion größer. Noch einmal schielte er herüber zum Geist, der ihn erwartungsvoll wie ein Koch ansah, als habe er das Gericht eigenhändig kreiert und warte nun auf das Lob zu seinem Meisterwerk. Mit der Einsicht, dass er nicht drumherumkommen würde, lud er sich den ersten Bissen auf die Gabel. Es schmeckte unverändert gut. Nicht zu fad, sondern ein wenig salzig, vom unverkennbaren Kartoffelgeschmack ganz abgesehen. Der Mönch enthielt sich glücklicherweise jeglichen Kommentars, während der Junge langsam seinen Teller leerte. Im Schatten der Wärme, die ihn erfüllte, folgte unaufhaltsam die Müdigkeit, die neben seinem Geist, auch seine Glieder schwer werden ließ.

»Sicher, dass Sie keinen Nachtisch haben wollen?«, erkundigte sich der Mönch fröhlich, als Jeremias den leeren Teller von sich schob.

Bestimmt schüttelte der Junge den Kopf. »Nein, danke, ich bin ehrlich satt«, gestand er, ohne lügen zu müssen.

»Gut«, meinte der Geist, über das ganze Gesicht strahlend. »Schließlich ist morgen Ihr erster Schultag. Der sollte nicht mit einem knurrenden Magen beginnen. Natürlich studiert ein voller Bauch nicht gern, aber ein gänzlich leerer ist ebenfalls keine Hilfe.«

Abwesend nickte Jeremias, ehe er verstohlen nach dem Foto griff, das er verdeckt auf den Tisch gelegt hatte. Er hob es gerade so weit an, dass er die Personen darauf erkennen konnte. Für sie musste er morgen alles geben. Da durfte er sich keinesfalls gehen lassen.

»So«, setzte der Fette Mönch nachdrücklich an und schwebte einen guten Meter in die Höhe, »und damit Sie morgen weder das Frühstück noch den Unterricht verschlafen, wäre es besser, Sie gingen nun ins Bett.« Zwar bemühte er sich um eine strenge Miene, doch seine Krähenfüße verrieten ihn. Wenige Sekunden später fügte er behutsam an: »Schließlich hätte Ihr Bruder von Ihnen ...« Weiter kam er nicht.

Jeremias, der den Stuhl gerade an den Tisch zurückschieben wollte, erstarrte. Es überraschte ihn kaum, dass der Fette Mönch wusste, dass sein Bruder nach Hogwarts gegangen war. Die Worte trafen ihn dennoch. Die wohlige Wärme des Mitternachtmahls wandelte sich in ein zorniges Inferno. Wütend zischte er dem Geist über sich zu: »Was ist mit meinem Bruder? Sprechen Sie nicht von ihm, als wäre er tot! Er ist nicht wie ...!« Nach Worten ringend und von seiner eigenen Lautstärke erschüttert hielt er inne. Er suchte verzweifelt nach etwas, das Beschreibung genug wäre, aber milder als das, was ihm zunächst in der ersten Wut in den Sinn gekommen war.

Vor ihm sank der Fette Mönch mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen gen Boden. »Wie ich?«, fragte er. Nicht vorwurfsvoll, nicht wütend, nein. Voller Verständnis waren die wenigen Worte.

In Jeremias tobte ein Chaos. Er weigerte sich, dass das Mitgefühl seinen Zorn in sich aufsog. Mit aller Macht hielt er an der Wut fest. Gleichzeitig schämte er sich. Es war keinesfalls seine Absicht gewesen, den Geist zu kränken. Er wollte ihm wütend die Stirn bieten, doch er schaffte es keine Sekunde, dem Mönch in die Augen zu sehen.

»Keine Sorge«, versuchte der Geist ihn zu beschwichtigen, »ich hatte Jahrhunderte Zeit, mich an diesen Gedanken zu gewöhnen.«

Die Überreste seiner Wut kochten abermals hoch. Es war nur ein kläglicher Funken, mit denen er die letzten ungesagten Worte doch laut aussprach: »Ich weiß, dass er nicht will, dass ich traurig bin oder mich ablenken lasse, aber ich bin es leid! Er ist ja sowieso nicht hier, also kann es ihn nicht stören. Wozu dann so tun?« Beim Anblick des Geistes überkam ihn die Reue. »Trotzdem war es falsch, das zu sagen.«

»Und dennoch hatten Sie Recht«, sagte der Fette Mönch streng. »Ihr Bruder lebt und es war falsch, in der Vergangenheit von ihm zu sprechen.« Aus der Miene des Verstorbenen schlug ihm weiterhin Wohlwollen entgegen, das einen kleinen, fast erloschenen Funken Zorn aufglimmen ließ.

»Und ich sorge dafür, dass das so bleibt«, hörte Jeremias sich sagen. Es war merkwürdig, es auszusprechen. Es klang unwirklich. Es war das erste Mal, dass er seinen Plan mit jemandem teilte. In seinen Gedanken hatte es viel einfacher geklungen. Nun schwebte das Gesagte wie eine unbezwingbare Mauer vor ihm, die es zu überwinden galt.

Die Freude war aus dem Gesicht des Fetten Mönches gewichen. Sprachlos schaute er sekundenlang auf den Erstklässler herab.

Sekunden, in denen Jeremias mit sich rang. Plötzlich krochen die Zweifel aus den dunklen Ecken seines Hirns hervor, die er in der Winkelgasse gehabt hatte. Konnte er das wirklich? Hatte er, ein unerfahrener Zauberanfänger, überhaupt eine Chance? Mühsam schob er sie beiseite. Er würde es schaffen und er würde seinen Bruder heilen. Trotzig hielt er an diesem Gedanken fest und stellte sich den Erwiderungen des Geistes, die er so fürchtete. Umso entschlossener schaute er zu ihm auf. Er durfte nicht zulassen, dass irgendwelche Argumente von Erwachsenen seine Willenskraft oder seinen Plan zerstörten.

Als sich die Mundwinkel seines Gegenübers hoben, zog sich Jeremias' Magen zusammen. Der matte, entschuldigende Ausdruck kündigte die Beschwichtigungen an, die er befürchtet hatte. Er harrte starrsinnig der Dinge, die da kamen.

»Es ist sicher ein lobendes Ziel, aber ...«

»Man muss an seine Ziele glauben«, schnitt Jeremias ihm ungeduldig das Wort ab. Mister Ollivanders Worte waren ihm gut im Gedächtnis.

Die Lippen des Geistes zuckten unschlüssig in die Höhe. »Sicher ist das wichtig, aber ...«

»Ich muss es versuchen!« Entschlossen hielt der Schüler dem schmerzhaft verständnisvollen Blick des Fetten Mönches stand. Er spürte, wie seine Augen erneut zu brennen begannen und seine Eingeweide sich qualvoll zusammenzogen. »Ich werde ganz sicher nicht einfach abwarten, bis es passiert. Ich kann das nicht!«, schluchzte er. Wütend fuhr er sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Er wollte nicht weinen, aber wen interessierte das schon? »Ich muss es wenigstens versuchen«, flüsterte er leise. Verzweiflung keimte in ihm auf, während er daran scheiterte, die Tränen, die auf seinen Wangen brannten, zurückzuhalten.

»In der Tat sollten Sie es versuchen«, hörte er den Mönch sagen.

Perplex sah Jeremias auf. Wenn auch die Tränen seine Sicht trübten, konnte er an der freudigen Miene erkennen, dass der Geist voller neuer Zuversicht war.

Der Mönch beugte sich zu ihm herunter, soweit es sein Bauch zuließ. »Es ist sicherlich keine leichte Aufgabe, aber wenn Sie es nicht versuchen, werden Sie es garantiert niemals schaffen.«

»Was?«, entfuhr es dem Jungen verwirrt. Der Geist hatte ihm doch zuvor widersprechen wollen. Woher der Sinneswandel?

Abermals verlor der Gesichtsausdruck des Untoten seine Sorglosigkeit.

Jetzt verstand Jeremias, was es war, das im Vergleich zu vorher anders war: Die Miene des Geistes spiegelte genau das wider, was Jeremias fühlte, wenn er das Foto in seiner Hand ansah. Wenn er sich an schöne Tage mit seinem Bruder erinnerte. Wenn er sich all das in Erinnerung rief, mit der Angst im Nacken, genau das verlieren zu können.

»Ich bin sicherlich der Letzte, der jemandem deshalb Vorhaltungen machen sollte«, gestand der Mönch. »Schließlich bin ich ein Geist. Ich bin bloß deshalb auf dieser Erde, weil ich mich der Hoffnung hingebe, dass ich eines Tages vielleicht noch einmal zum Kardinal ernannt werde, wie ich es zu Lebzeiten immer vorgehabt hatte.«

»Sie halten es nicht für bescheuert?« Jeremias war zu überrumpelt von dem unerwarteten Zuspruch, als dass er sich die Worte hätte besser zurechtlegen können.

»Aber nein«, bekräftigte der Geist seinen Zuspruch. »Ich habe Jahrhunderte erlebt. Was zu meiner Lebzeit alles als unmöglich galt und heute alltäglich ist, hätte ich niemals geglaubt, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte.« Seine Züge wurden ernster. »Nur geben Sie auf sich Acht. Es bleibt ein Versuch.«

Lahm nickte Jeremias. »In Ordnung«, brachte er heiser hervor, ehe er nochmals über die Spuren der versiegten Tränen wischte.

Der Geist erhob sich, schwebte mit ernster Miene einige Zentimeter über dem Boden und räusperte sich. Er hob den Zeigefinger, ehe er mahnte: »Sie sollten zusehen, dass Sie nun ins Bett kommen. Es ist bald ein Uhr.«

Bevor er ging, hatte Jeremias allerdings eine weitere Frage. »Mister ...« Fetter Mönch? Stolpersteine, wohin man schaute. »Entschuldigung, aber wie kann ich Sie nennen?« Nun waren es schon zwei Fragen, die ihm auf der Seele lagen.

Der Geist war in der Tat sehr leicht auf andere Gedanken zu bringen. In derselben Sekunde begann der zuvor so ernste Mönch zu strahlen. »Meinen Namen?«, fragte er freudig überrascht. »Nun, zu Zeiten meines Ablebens«, berichtete er mit stolzgeschwellter Brust, »nannte man mich Bruder Leofstan.« Er vollführte eine Verbeugung. Bei Korbey hatte es so leichtfüßig gewirkt. Sah man dem beleibten Geist zu, konnte man auf den Gedanken kommen, es handle sich mehr um eine sehr komplizierte Turnübung, so ungelenk sah es aus. Dennoch nicht weniger feierlich.

»Bruder Leofstan«, wiederholte Jeremias, kurz zögernd, ob er die zweite Frage ganz sicher stellen wollte. »Sagen Sie, wecken Geister Schüler am Morgen?«

Glucksend schwebte der Hausgeist unter die Decke des Gemeinschaftsraums. »Ein amüsanter Gedanke, aber nein. Sollte jemand beim Frühstück vermisst werden, würde ich wohl nach dem Rechten sehen. Dafür gab es bisher jedoch keinen Anlass. Die Schüler haben, solang ich mich erinnern kann, immer untereinander sehr gut auf sich Acht gegeben.«

Beruhigt nickte Jeremias. »Danke.« Wie er in dem Augenblick bemerkte, waren seine Mundwinkel in die Höhe gewandert.

»Und nun ab ins Bett«, sprach der Geist ein Machtwort und schwebte von der Decke herab auf ihn zu, ihn mit den Armen vorwärtstreibend. »Morgen ist schließlich ein wichtiger Tag.«

Ein Gähnen überkam Jeremias, als er sich zum Gehen wandte und zu den Schlafsälen trottete. Nun, da sein Zorn verraucht war, wurde er sich der Müdigkeit, die von ihm Besitz ergriffen hatte, umso bewusster. Seine Glieder waren wie Blei, was auch für seine Augenlider galt, die schwer wie Sandsäcke geworden waren. »Gute Nacht, Bruder Leofstan«, murmelte er, öffnete die Tür und trat in den Flur der Jungenschlafsäle.

Silbriges Mondlicht empfing ihn, als er in den Schlafsaal schlüpfte. Es blieb still und so hoffte er, niemanden geweckt zu haben. Auf Zehenspitzen schlich er zu seinem Bett, auf dem Len saß und ihn mit einem vorwurfsvollen Blick bedachte. Mit dem Zeigefinger vor den Lippen bedeutete der Schüler seinem Kater, still zu sein, in der Hoffnung, er verstünde es. Bevor er das Familienfoto zurück in die Kommode legte, versuchte er noch einen Blick drauf zu erhaschen, doch dunkle und noch dunklere Flecken ließen keinerlei Kontur erkennen. So blieb ihm nur die Erinnerung. Er verstaute das Bild wohlweislich ganz hinten im Schubfach, ehe er unter die angenehm kühle Decke krabbelte, woraufhin das Licht vollständig erlosch. Mit ihm verging auch die Müdigkeit, die Jeremias Sekunden zuvor zu übermannen gedroht hatte.

Nahezu augenblicklich rückte Len näher an ihn heran, eine Vorderpfote besitzergreifend auf seine Brust gelegt.

So lag er wach da und schaute über die Umrisse der anderen Betten hinweg, in denen sich niemand regte. Gleichmäßiger, leiser Atem war zu vernehmen oder vereinzeltes Rascheln der Bettwäsche. Jeremias wusste, würde er aufstehen und wieder hinaus in den Gemeinschaftsraum gehen, würde er die geballte Erschöpfung des Tages zu spüren bekommen, egal wie wach er sich in der Dunkelheit fühlen mochte. Es half nichts. Er würde auf den Schlaf warten müssen, der ihn irgendwann in das Reich der Träume entführen würde.

Ungläubig blinzelte er, als er im Bett neben sich zwei zur Decke gerichtete Augen erblickte, die das wenige Restlicht munter reflektierten.

Regin war wach. Als hätte er gespürt, dass Jeremias ihn bemerkt hatte, wandte sein Nachbar sich ihm zu. »Konntest du nicht schlafen?«, flüsterte er gerade so laut, dass Jeremias es verstehen konnte. Wenn er flüsterte, klang seine Stimme etwas tiefer. Oder es kam ihm deshalb weniger extrem vor, weil er noch Korbeys Sopran im Ohr hatte.

»Nein«, antwortete er auf Regins Frage. Das ließ sich nur schwer leugnen. »Du auch nicht?« Im Nachhinein war seine eigene Frage nicht weniger sinnlos.

Seinen Nachbarn schien das egal zu sein. »Nein«, antwortete er. »Hast du Heimweh?«

Die Sorge des anderen Jungen versetzte Jeremias einen Stich. Den ganzen Tag hatte er sich nicht mit den anderen unterhalten und nun fragte der Junge so etwas. Hatte er Heimweh? Sicherlich traf es nicht ganz zu. Er vermisste nicht einfach nur sein Zuhause, sondern sein Zuhause, wie es einmal gewesen war. Ein echtes Zuhause, keine zukünftige Gedenkstätte. »Ja«, flüsterte er in die entstandene Stille. Ja, in gewisser Weise hatte er Heimweh. »Und du?«

Bedächtig drehte Regin sich zu ihm herüber. Dabei stützte er sich auf seinen Ellenbogen. »Auch ein bisschen«, gab er zu. »Aber ich bin einfach mega aufgeregt, dass ich hier bin.«

Unter anderen Umständen wäre es Jeremias ebenso ergangen.

»Und ganz vielleicht habe ich ein bisschen Angst, dass der Fette Mönch heute Nacht vorbeikommt«, gab sein Nachbar letztlich kleinlaut zu.

»Keine Sorge«, flüsterte Jeremias ihm zu. »Ich hab ihn gefragt. Er erschreckt keine schlafenden Schüler.« Er vermutete, dass Regin ihn mit Argwohn musterte, jedenfalls verharrte er regungslos auf seinem Bett.

»Wirklich?«, hakte der Junge nach Sekunden der Stille skeptisch nach.

»Ja«, gab Jeremias leise zurück. »Versprochen.«

Vorsichtig legte Regin sich zurück auf sein Lager. »Danke«, flüsterte er, bevor er sich unter seiner Decke zusammenrollte und es still wurde.

Wenig später schlief auch Jeremias endlich ein.


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