Jeremias Tiller und die Fesseln der Zeit von BlueScullyZ

Jeremias Tiller und die Fesseln der Zeit von BlueScullyZ

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Am nächsten Morgen wurden sie aus dem Schlaf gerissen. Etwas oder jemand klopfte laut gegen die Tür. Müde blinzelten sie dem hellen Sonnenlicht entgegen, das den Raum durchflutete.

»In einer halben Stunde gibt es Frühstück«, rief jemand vom Flur her. Die Stimme klang älter. Bestimmt war es der Vertrauensschüler Kanon.

Beschwerden wurden keine laut. Den meisten schrieben ein breites Grinsen sowie leuchtende Augen die Vorfreude auf den heutigen Tag ins Gesicht. Niemand brauchte länger als eine Minute, um das gemütliche Bett hinter sich zu lassen. Schnell war das Waschzeug aus den Koffern gekramt, ehe die fünf Jungen im Waschraum verschwanden, um ihre Pyjamas gegen die schwarzen Umhänge samt Spitzhut einzutauschen.

Die aufgeregten Spekulationen über das Frühstück, die Ausstattung der Bäder sowie Überlegungen hinsichtlich des bevorstehenden Unterrichts, die zwischen den Erstklässlern entflammten, ignorierte Jeremias. Er überlegte, ob es sinnvoll war, seine Schulsachen zum Essen mitzunehmen, was er letztlich lieber bleiben ließ. Kanon hätte es ihnen gesagt, wenn sie etwas hätten mitnehmen sollen. Außerdem wusste niemand von ihnen, welche Fächer sie hatten. Alle Bücher wollte er nicht mit sich herumschleppen.

Zusammen gingen sie anschließend in den Gemeinschaftsraum, in dem die beiden Vertrauensschüler sie erwarteten. Len war ebenfalls zu sehen, wie er auf dem hohen Fenstersims, mit einigen Artgenossen sein Frühstück zelebrierte, ohne Jeremias eines Blickes zu würdigen. Ob Korby den Katzen das Mahl in der Nacht hingestellt hatte?

Erst jetzt fiel Jeremias auf, wie viele Hufflepuffs es gab, denn im Gegensatz zum gestrigen Abend waren sie nicht allein. Geschäftiges Treiben herrschte im Saal, der zuvor so riesig gewirkt hatte. Vor dem Kamin, in dem ein überschaubares, prasselndes Feuer entzündet worden war, unterhielten sich drei ältere Schüler angeregt. Weitere saßen an den Tischen, entweder in Gespräche vertieft, vor einem Zauberschachbrett oder mit der Nase in einem Buch. Allgemeines, lebhaftes Gemurmel erfüllte den Raum. Es ließ ihn einerseits sehr viel kleiner aussehen, als Jeremias ihn in Erinnerung hatte, aber auch geselliger.

Neben den vielen Fremden waren auch die Mädchen ihres Jahrgangs anwesend.

»Wunderbar«, rief Connor erfreut. Sie strich ihre braunen Wellen nach hinten, als sie die Erstklässler erblickte. Zuvor hatte sie sich mit einer Schülerin in ihrem Alter unterhalten. Jetzt kam sie zu ihnen herüber. »Dann haben wir ja alle Zeit der Welt. Wir bringen euch gleich in die Große Halle und hinterher hierher zurück, damit ihr eure Bücher holen könnt. Professor Sprout hat uns zwar heute Morgen eure Stundenpläne gegeben, aber lasst die Sachen besser erstmal hier. Ihr werdet ohnehin zu beschäftigt sein, um reinzuschauen. Es langt vollkommen, eure Schulsachen nachher zu holen.« Sie reichte jedem ein Pergament, das von sogleich begutachtet wurde.

Ebenso hielt es Jeremias. Kaum hatte er seinen Plan in den Händen, besah er sich den Tagesablauf, der von nun an seine Woche bestimmte. Der Unterricht würde für ihn mit Geschichte der Zauberei beginnen.

»Oh nein, gleich die erste Stunde mit den Slytherins«, stöhnte Laetitia leise.

Zustimmend nickten Regin und Eldary, während die Übrigen sich vornehm zurückhielten. Trotzdem schien ihnen diese Konstellation ebenso unheimlich.

»Wartet erst einmal ab«, beschwichtigte sie Connor. Wenigstens unternahm sie den gutgemeinten Versuch. »Jedes Haus hat seine Schwächen, aber auch seine Stärken.«

»Was sie damit sagen will«, mischte sich Kanon ein und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen einen der Tische, »ist, dass es überall Idioten gibt.«

Der vorwurfsvolle Ausdruck in Connors Gesicht, mit dem sie zu ihrem Kollegen herübersah, war Jeremias vertraut. Seine Mutter sah bisweilen seinen Vater so an, wenn dieser weniger streng war, als sie es von ihm erwartete. »So kann man es natürlich auch ausdrücken«, entgegnete sie zähneknirschend.

»Urteilt nicht vorschnell«, pflichtete Kanon ihr bei, was sie augenscheinlich versöhnte. »Uns halten alle für dumm. Das ist genauso falsch.«

»Wir haben heute echt mit jedem Haus zusammen Unterricht«, bemerkte Eldary erstaunt. »Verwandlung mit den Ravenclaws und danach Zauberkunst mit den Gryffindors.«

»Heißt das, wir lernen in Verwandlung so richtig uns zu verwandeln?«, fragte Keaton begeistert an die Vertrauensschüler gewandt.

Mindestens einer der beiden war über den Themenwechsel sehr froh. Es war nicht Kanon.

»Nein«, entgegnete Connor schmunzelnd. »Ihr fangt mit einfachen Dingen an. Ihr verwandelt Streichhölzer in Nadeln oder später Lauchzwiebeln in Kochlöffel. Die Verwandlung der eigenen Gestalt, sogenannte Animagi, lernen die Allerwenigsten.«

»Cool!« Statt darüber enttäuscht zu sein, strahlte Keaton mit dem ebenfalls muggelstämmigen Oscar um die Wette. Ob er bereits konkrete Pläne hatte, was er mit einem selbstverwandelten Kochlöffel anstellen würde?

Neben Connor stieß sich Kanon vom Tisch ab, an dem er gelehnt hatte. »Ich denke, es wäre gut, wenn wir losgehen. Dann haben wir alle Zeit der Welt«, schlug er vor. »Wenn ihr wollt, könnt ihr eure Stundenpläne erstmal in den Schlafsaal bringen. Dann könnt ihr eure Hüte gleich ablegen. Die werden nur zu besonderen Anlässen getragen. In fünf Minuten treffen wir uns vor dem Gemeinschaftsraum.«

Kurze Zeit später, nachdem sie alle ihre Hüte weggebracht hatten, standen sie versammelt vor dem Eingang. Niemand hatte getrödelt, denn niemand von ihnen war sich sicher gewesen, wie lang der Weg zum Ausgang durch den Tunnel am gestrigen Tag gewesen war.

Wie zuvor hatten die Vertrauensschüler auf sie gewartet und geleiteten sie über einen Flur, ganz ohne Geheimtunnel, in die Große Halle. Sie mussten den Kellergang entlanglaufen und dann nach oben, sofern die Treppen sich dazu herabließen, sie nach oben zu geleiten.

Zum Erstaunen und gleichsamen Entsetzen von Oscar und Keaton bewegten sich die steinernen Aufgänge ständig zwischen den Stockwerken oder veränderten begleitet von einem steinernem Scharren gar ihre Richtung, wenn Stein an Stein rieb. Auch, wenn seine Mitschüler ihre Scheu unauffälliger zeigten, blickten sie kritisch auf die Herausforderung vor ihnen. Von unten betrachtet war es überschaubar, schließlich mussten sie lediglich abwarten, bis eine Treppe zu ihnen nach unten kam. Was aber war, wenn man oben stand und sich plötzlich vor den eigenen Füßen ein Abgrund auftat? Wie sich zeigte, war das nicht das einzige Problem.

Auf halbem Weg hinauf stieß Oscar einen erschrockenen Schrei aus, der sie alle herumfahren ließ. Der stämmige Junge war in einer Stufe hängengeblieben, die sich urplötzlich nach unten abgesenkt hatte. Der Schrei war allen durch Mark und Bein gegangen. Vor allem aber hatte der Vorfall Oscars Vertrauen in die magische Architektur nachhaltig erschüttert. Vorsichtig prüfte er fortan jede Stufe, bevor er sein Gewicht darauf verlagerte.

Im ersten Stock angekommen folgten sie dem Flur gen Süden. Zumindest behauptete Kanon das. Danach bogen sie zweimal links ab, ehe sie sich in der Eingangshalle wiederfanden, von wo aus sie sogar selbst den Weg fanden. Wenig später nahmen sie am Tisch der Hufflepuffs platz, der sie trotz der wenigen Anwesenden mit allerlei Speisen willkommen hieß. Müsli, Cornflakes, Toast, Schinken, Bohnen und vieles mehr. Hier blieben keine Wünsche offen.

Durch die wenigen Schüler, sah der Saal noch gigantischer aus. Jene, die an den Tischen saßen, waren meist nicht viel älter als sie selbst. Die übrigen Hogwartsschüler trudelten kleckerweise ein, bis der hohe Raum von Stimmen, Geschirrgeklapper und später mit Eulenschreien erfüllt war.

»Ich werd verrückt!«, staunte Keaton. Über ihren Köpfen waren die ersten Vögel durch die hohen Fenster hereingeflogen, beladen mit Briefen, Zeitungen oder gar Paketen.

Grinsend fragte Laetitia: »Du hast doch eine Eule, oder? Die kann das auch.«

Eine Vorstellung, bei der Keatons Augen noch größer wurden, wodurch der Junge seinem Haustier erneut erschreckend ähnlich wurde. »Meine Mutter stirbt vor Schreck, wenn ich ihr einen Brief mit einer Eule schicke«, prophezeite er mit einem schelmischem Grinsen, das sich langsam in seinem Gesicht bildete.

Jeremias hingegen starrte auf seine gebackene Bohne, die er zuvor aufgespießt hatte. Auf halben Weg zum Mund war er erstarrt. Statt die Nacht zu nutzen, um einen späten Brief an seine Familie zu schreiben, wie er es hoch und heilig versprochen hatte, hatte er dagesessen und ein Foto angestarrt. Nun würde es einen Tag länger dauern, bis er von seiner Ankunft berichten konnte. Obwohl Schuldgefühle seinen Magen traktierten, zwang er den Bissen herunter. Appetit hatte er keinen. Eigentlich gehörten gebackene Bohnen zu seinen morgendlichen Leibspeisen, doch heute kamen sie ihm vor wie blutige Gedärme. Das gesammelte Fett auf der halbleeren Platte mit gebratenem Speck bereitete ihm allein beim Ansehen Übelkeit.

Seine Strategie: möglichst wenig darüber nachdenken und seine Portion herunterschlingen. Versiegelt wurde das Mahl letztlich mit einer trockenen Scheibe Toast, die er still vertilgte, während der Rest sich in Spekulationen zum heute stattfindenden Verwandlungsunterricht erging, wonach sie bereits beim Abendessen in der Lage sein würden, Mitschüler bunt zu hexen. Gleichzeitig schwoll die Geräuschkulisse in der Großen Halle immer weiter an.

Wie auf Kommando erstarb das Geplapper, als Kanon zu ihnen kam, um sie zurück in den Gemeinschaftsraum und anschließend zum Klassenzimmer zu bringen. Sie alle schoben eilig ihre Teller von sich und erhoben sich von ihren Plätzen, Blicke tauschend, die vor Vorfreude glühten.

»Aber geht ihr mal vor, ich komme nur mit«, meinte der Vertrauensschüler. Mit der Hand wies er den Jüngeren den Weg zum Ausgang der Großen Halle.

Die flammende Begeisterung war in manchen Gesichtern dem Argwohn gewichen.

Einzig Laetitia zuckte lässig mit den Schultern. »Klar.« Scheinbar frei von jedem Zweifel, schritt sie unbekümmert voran.

Jeremias, getrieben davon, sein Werk endlich zu beginnen, und Eldary folgten ihr, was die Übrigen überzeugte.

»Ah, Babysitter?«, fragte jemand auf dem Weg aus der Halle. Der ältere Junge war ihnen entgegengekommen. Aus welchem Haus er kam, war nicht zu erkennen. Wie jeder trug er einen schwarzen Umhang. Unverhohlen musterte er im Vorbeigehen den Vertrauensschüler der Hufflepuffs.

Kanon schüttelte bloß den Kopf und sagte, sie sollten weitergehen, aber als Jeremias sich zu ihm umdrehte, erkannte er, wie sich seine Gesichtszüge verhärteten.

Sie waren viel zu aufgeregt gewesen, um sich lange von dem Zwischenfall in der Großen Halle beeindrucken zu lassen. Schnell drehten sich die Gespräche wieder um Verwandlungen und magische Pflanzen sowie Tiere. Jeremias merkte, dass der ruhigste Platz bei Audie war, die mit einem schüchternen Lächeln der Gruppe folgte. Dass er sich zu ihr gesellte, quittierte sie mit einem zaghaften Ausdruck der Freude, den er mechanisch erwiderte.

Als sie an der ersten Gabelung zögerlich stehen blieben, kam sein Plan, sich zurückzuhalten, ins Wanken. Laetitia und Keaton hatten eine vage Vermutung, aber zu einem Ergebnis kamen sie mit ihrem »Ich denke links"-"Meinst du nicht eher rechts?"-Disput keinesfalls. Eine lange Minute lang hoffte Jeremias, dass er sich irrte, doch sie blieben unschlüssig wo sie waren.

»Wir sollten nach links gehen«, durchbrach er zur Überraschung seiner Mitschüler das Gespräch der beiden. Nicht, weil er Laetitia mehr vertraute als Keaton. Er hatte andere Gründe. »Man kann die Treppen hören.«

Vollkommen verdattert sahen die Kinder ihn an, während sie zeitlich dem entfernten, steinernen Kratzen lauschten, das nun, da sie schwiegen, deutlich aus der Ferne von links zu vernehmen war.

Es war unvermeitlich, dass sich seine Mitschüler an den nächsten zwei Gabelungen, an denen Laetitia unsicher war und auch Keaton oder Oscar ratlos schienen, an ihn wandten. Jeremias' Taktik, sich im Hintergrund zu halten, hatte sich damit erledigt. Er war froh, dass Kanon die Führung übernahm, nachdem sie ihre Schulsachen für den heutigen Unterricht geholt hatten.

Irgendwo im zweiten Stock – Kanon hatte den Teil des Schlosses als Ostflügel bezeichnet – blieben sie vor einer massiven, beschlagenen Holztür stehen. Die meisten Räume, an denen sie bisher vorbeigekommen waren, verfügten über einen ähnlich robusten Eingang.

Aus den Bogenfenstern gegenüber der Tür konnten sie einen Blick in den Innenhof erhaschen, in dem ein Kiesweg das spärliche Grün durchschnitt. Zwei Schüler hasteten über den Pfad. Ansonsten war er wie leergefegt, doch eine ihm wohlbekannte, weibliche Stimme, zog seine Aufmerksamkeit auf sich.

»Hier sind wir richtig«, verkündete Edwana McBride stolz der ihr folgenden Gruppe. Als sie prüfend hinter sich sah, wippte ihr blonder Pferdeschwanz.

Zumindest das Mädchen schräg hinter ihr, das in etwa dieselbe Größe hatte, aber einen noch bestimmenderen, wenn nicht sogar arroganten Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte, war ganz offensichtlich kaum überzeugt. Dabei schaffte sie es, trotz ihrer braunen Locken alles andere als locker auszusehen. Ein straff gebundener Dutt hätte perfekt zu ihrem Auftreten, den schmalen Lippen sowie ihrem analytischen Blick gepasst. Der Gesichtsausdruck, mit dem sie die Hufflepuffs musterte, war keinesfalls schmeichelhaft. »Sieht immerhin so aus, als hätten wir unsere Klassenkameraden für die nächste Stunde gefunden«, räumte sie ein. »Ob die vor dem richtigen Raum warten?«

»Ihr könnt nur ...!«

»Ein Vertrauensschüler hat uns den Weg gezeigt«, unterbrach Jeremias Laetitia, deren gereizter Tonfall nach Eskalation geschrien hatte, kühl. Bevor er es ausgesprochen hatte, verfluchte er sich für sein loses Mundwerk. Schon wieder hatte er die Aufmerksamkeit unbedacht auf sich gelenkt. Andererseits war eine lautstarke Auseinandersetzung nun einmal vollkommen unnötig.

Als Ergebnis seiner Einmischung lag das Interesse der Slytherins nun auf ihm. Dem Großteil stand die Frage auf der Stirn, wer er war oder ob man auf sein Wort etwas geben konnte. Zu Jeremias' großer Überraschung breitete sich auf dem Gesicht eines blonden Jungen eine Art höfliches Lächeln aus. Trotz genauem Hinsehen konnte der Hufflepuff keine Häme oder Spott darin erkennen.

Der größere Slytherin trat aus der Gruppe heraus und streckte ihm die Hand entgegen. »Upton Clay«, stellte er sich freundlich vor.

Auch wenn Jeremias versuchte, sich aus den Häusern nichts zu machen, überraschte ihn das zuvorkommende Verhalten. Sprachlos schüttelte er die Hand, während er in Gedanken den Haken an der Sache suchte, so dass er seinen eigenen Namen mit einiger Verzögerung hervorbrachte.

»Er ist okay«, ergriff McBride überraschend für ihn Partei, ehe sie sich direkt an ihren ehemaligen Mitreisenden wandte. »Zugegebenermaßen hatte ich irgendwie damit gerechnet, dass du zu uns kommen würdest.«

Erneut fiel Jeremias keine gute Antwort ein, weshalb er lediglich unschlüssig mit den Schultern zuckte. Es war ja nicht so, dass er irgendetwas dafür getan hätte, nach Hufflepuff zu kommen.

»Schön zu sehen, dass nicht jeder uns für das ultimative Böse hält oder tut, als hätten wir Schlotzkrätze«, fuhr Upton offensichtlich erleichtert fort.

Ein drahtiger Junge, der weiter hinten im Pulk der Slytherins stand, zuckte bei diesen Worten gelassen mit den Schultern. »Tja, so ist es eben an der Spitze. Einsam.«

»Ist es nicht etwas früh, sich als Spitze zu bezeichnen?«, entfuhr es Jeremias trocken. »Ihr hattet bisher keine einzige Unterrichtsstunde.«

Upton, der noch immer vor ihm stand, lächelte peinlich berührt. »Ich denke, es liegt in der Natur eines jeden Menschen, das Beste aus seiner Lage zu machen. Meint ihr nicht?«

Eine Friedensgeste, die auch bei Jeremias' eigenen Leuten kritisch betrachtet wurde. Jetzt war es von Vorteil, dass er McBride kannte, denn auch sie gehörte zu den wenigen, die sich damit scheinbar arrangieren konnten. Der zweite, auf den das zutraf, war überraschenderweise nicht Keaton.

Der muggelstämmige Eulenjunge sowie sein neuer bester Freund Oscar starrten ihn und Upton an, als hätten sie Hochverrat begangen, obwohl sie von den Rivalitäten der Häuser erst am Abend zuvor erfahren hatten.

Regins unbeholfenes Lächeln dagegen wirkte geradezu erleichtert.

»Sicher«, entgegnete Jeremias in die entstandene Stille. Bestimmt versuchte jeder das Beste in seiner Lage zu sehen. Dass die Slytherins meist zu den besten Schülern gehörten, war allgemein bekannt. Ungläubiges Schnauben unterbrach seinen Gedankengang jäh.

»Ob ihr wirklich so lieb und nett seid, werden wir ja sehen«, brummte Laetitia. Dass sie den Slytherins bloß so weit traute, wie ihr Zauberstab reichte, war damit klargestellt.

»Wenn ihr sowieso schon entschieden habt, dass wir verabscheuungswürdig sind, können wir uns die Mühe gleich sparen«, war McBrides Meinung zu dem Thema, die Jeremias dazu veranlasste, genervt die Augen zu verdrehen und die Tür anzustarren, in der Hoffnung, dieser Kinderkram würde ein schnelles Ende finden.

Bevor jemand die unschlüssige Stille durchbrechen konnte, die sich zwischen den Fronten breitgemacht hatte, öffnete sich plötzlich eben jene Pforte, die Jeremias eindringlich gemustert hatte. Einen flüchtigen Moment überkam den Jungen der Gedanke, ob sie sich deshalb geöffnet hatte. Natürlich vollkommener Quatsch. Oder?

»Zugegebenermaßen gehört zu einem friedlichen Miteinander, dass beide Parteien sich Mühe geben«, wandte Upton ein, was Laetitia, wie Jeremias aus dem Augenwinkel sah, mit einem höchst skeptischen Blick quittierte, ehe sie sich ebenfalls zu der Tür drehte.

Kaum, dass Jeremias den ersten Schritt darauf zuging, tat es ihm die Klasse nach und wandte sich dem Eingang des Unterrichtsraums zu.

Die Kammer, ein ziemlich passender Begriff für das schummerige Zimmer, war leer. Zwar fiel Sonnenlicht durch die beiden Fenster auf der linken Seite, in dessen Strahlen Staubkörner tanzten, doch die dunkle Holzvertäfelung schluckte nahezu jede Helligkeit, die es wagte, die Grenzen dieses Klassenzimmers zu überschreiten. Vier Reihen Schreibpulte, zwei je Reihe, standen ordentlich verteilt. Sie boten Platz für je zwei Schüler. Allesamt waren sie auf die beiden Stelltafeln hinter dem Lehrerpult ausgerichtet. Während die Hufflepuffs zunächst unschlüssig stehen geblieben waren, drängten sich die Slytherins an ihnen vorbei. Sie belegten zielstrebig die vorderen beiden Tische, sowie zwei der rechten, dunkleren Seite.

»Sind wohl lichtscheu«, flachste Eldary leise über die Schulter hinweg zu den Hufflepuffs, was Keaton und Oscar mit einem Glucksen untermalten. Selbst Regin, Laetitia sowie die zurückhaltende Neva schmunzelten.

Jeremias war es egal. Er schob sich an den anderen vorbei und ließ sich ebenfalls auf der rechten Seite in der dritten Reihe nieder. Schräg vor ihm saß McBride, die ihn mit einem wissendem Grinsen bedachte. Ein stilles Lob für seine Wahl, für das er nur ein Kopfschütteln übrig hatte. Wegen ihr hatte er sich dort nicht hingesetzt. Vielmehr war der Grund, dass er befürchtete, zwischen den quirligen Hufflepuffs ständig abgelenkt zu werden. Das war alles.

Wie um seine Ahnungen zu bestätigen, nahmen die beiden Muggelstämmigen, die sicherlich einiges zu besprechen hatten, nebeneinander Platz. Laetitia und Eldary setzten sich ebenfalls in die dritte Reihe, jedoch auf die linke Seite. Beide sahen fragend, mit unterschwelligem Vorwurf, zu ihm herüber, der allein saß und das Treiben der Klasse so gut wie möglich zu ignorieren versuchte. Da die beiden Mädchen, Audie und Neva sich, wie zu erwarten gewesen war, in die letzte Reihe verdrückt hatten, war es Regin, der sich mit schüchternem Lächeln neben ihn zwischen die Slytherins schob, die er mit unverhohlenem Unbehagen abwechselnd betrachtete.

Um ihm Platz zu machen, räumte Jeremias die Bücher, die er auf dem Tisch abgelegt hatte, schnell beiseite. »Sie werden dich schon nicht beißen«, brummte er seinem neuen Sitznachbarn zu.

Regin bemühte sich, weniger bekümmert auszusehen. Bei seinem kläglichen Versuch blieb es auch. Er verstaute seine Bücher unter dem Tisch, ehe er sich zu Jeremias herüberlehnte. »Was ist, wenn wir doch im falschen Raum sind? Hier ist ja niemand«, raunte er ihm leise zu.

Zugegebenermaßen fand es auch Jeremias merkwürdig, dass von dem Lehrer keine Spur zu sehen war. Die Tür schien sich von allein geöffnet zu haben. Genauso schloss sie auch sich wieder.

Alle wandten ihre Köpfe herum. In jedem Gesicht, das Jeremias verstohlen musterte, konnte er Unsicherheit erkennen, wobei manche es sehr gut verbergen konnten. Zwischen Audies schreckensweiten Augen und McBrides betont gelassener Miene lagen Welten. Jedenfalls war er nicht der Erste, der zu dem Schluss kam, dass es wenig zielführend war, eine geschlossene Tür anzustarren.

Ein spitzer Aufschrei lenkte ihre Aufmerksamkeit schlagartig zurück zur ersten Reihe, in der eine pummelige Slytherin mit rotblonden Haaren erschrocken Alarm geschlagen hatte, dann mit vor den Mund geschlagenen Händen verstummt war. Mehr außergewöhnliches, außer die erstarrten Mitschülerin, suchten sie vergebens. Das taten die übrigen ihr gleich und waren mindestens ebenso verblüfft.

»Ich fasse es nicht«, nuschelte Regin neben ihm. Zeitgleich mit Jeremias hatte er den Geist erblickt, der durch die Tafel hindurch in den Raum geschwebt war.

Vollkommen unbeeindruckt von der schreckensstarren Schar kam der Untote hinter dem Rednerpult zur Ruhe.

Regins Fassungslosigkeit hätte keiner Worte bedurft, denn sie war ihm in aller Deutlichkeit ins Gesicht geschrieben, in die weit aufgerissenen Augen, mit denen er das halbdurchsichtige Wesen vor der Klasse bestaunte. Jeremias war sich sehr sicher, dass seinem Tischnachbar die verstohlenen Blicke vereinzelter Slytherins entgingen, die diese ihm über die Schulter hinweg zuwarfen.

»Das ist schon das zweite Mal, dass du Recht hast«, raunte er dem Jungen neben sich zu. Ob sie alle sich daran erinnern konnten, wie sie gestern in dem kleinen Nebenraum zusammengepfercht gestanden hatten? Leider war jener Störenfried, der Regin für seine Frage, ob der Geist des Fetten Mönchs der Hauslehrer des Hauses Hufflepuffs wäre, abwesend. Jeremias war sich jedoch sicher, dass einige der Anwesenden diese Idee ebenfalls für schwachsinnig befunden hatten und nun eines Besseren belehrt wurden.

Das Gespenst ließ sich davon in keiner Weise beeindrucken. Aus einer Tasche, die wie er aus silbrigen Rauchschwaden bestand, zog er ein durchsichtiges Buch, das er vor sich ablegte, während er mit unbeeindruckter, ruhiger Stimme, ohne von seiner geisterhaften Lektüre aufzusehen, zu dozieren begann: »Nun, ein neues Schuljahr hat begonnen und ich heiße Sie an der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei willkommen. Mein Name ist Professor Binns, meines Zeichens Lehrer für die Geschichte der Zauberei. In meinem Unterricht werden Sie keine Zauberstäbe oder Kessel benötigen, da wir uns in Ihrer sehr nahen Zukunft den Fakten und Ereignissen der Vergangenheit zuwenden werden. Eine unverzichtbare Basis für Ihre Ausbildung zu reflektierten, umsichtigen und vernunftorientierten jungen Zauberern.«

Mit jeder Silbe, die den Mund des Geistes verließ, bereute Jeremias seinen Entschluss weniger. Es war ein Irrtum gewesen, dass Binns ruhig oder konzentriert zu Werke ging. Stattdessen war sein Vortrag derart monoton vorgetragen, dass das Wort Totlangweilig eine vollkommen neue Dimension erreichte. Seine Bemerkungen hingen trocken wie Staubwolken in der Luft, ganz gleich, wie wahr der Inhalt sein mochte. In Kombination mit dem Inhalt des Unterrichtsfachs eine mörderische Mischung, denn Jeremias fesselte an den zu erwartenden Litaneien absolut nichts. Was brachte ihm das Wissen über irgendwelche längst geklärten Konflikte? Vollkommen unnötiger Ballast.

»Wie üblich werden wir mit einem sehr einfachen Sachverhalt in die Thematik einsteigen, um es für Sie greifbarer zu machen«, fuhr der Geist unbeirrt fort. »Bitte holen Sie Ihr Geschichtsbuch heraus. Schlagen Sie die Seite einhundertdreiundfünfzig auf, um meinen Ausführungen zu den verschiedenen Völkern der magischen Welt besser folgen zu können.«

Der Rest der Klasse war sich offensichtlich uneins darüber, was sie von dem Professor der Zaubereigeschichte halten sollten. Fragende, zweifelnde Blicke wurden getauscht, andere wiederum, unter ihnen McBridewana und das Mädchen, das neben ihr saß, zeigten sehr gut, was sie vom Unterricht des Geistes hielten. Ihre Grimassen, mit der sie sich unter ihren Tisch beugten, um ihre Lehrmaterialien hervorzuholen, illustrierten gut, dass sie ebenso motiviert wie Jeremias selbst waren.

Ähnliches tat auch Jeremias, nur dass er sich nicht sein Geschichtsbuch griff, sondern den Stapel unschlüssig musterte, ehe er ein grünes Buch mit roten Intarsien, »Tausend Zauberkräuter und -pilze« von Phyllida Spore, auf seinen Tisch legte. Im Gegensatz zu Erzählungen über Trolle und Wichtel und wie sie sich mit Zauberern vertrugen, konnte er das, was in ihrem Kräuterkundebuch stand, wirklich gebrauchen. Zumindest hoffte er das. In den Ferien hatte er vorwiegend erfolglos in dem Werk für Verteidigung gegen die Dunklen Künste geblättert. Dazu, die übrigen Bücher zu begutachten, war er kaum gekommen. Das ließ sich hier offensichtlich sehr gut nachholen.

Noch bevor er es aufschlagen konnte, stupste Regin ihn von der Seite an. »Das ist das falsche Buch«, flüsterte er ihm zu.

Ob er da alleine draufgekommen war? Das freundlich-schüchterne Lächeln im Gesicht seines Sitznachbarn machte es Jeremias schwer, ihm bösen Willen zu unterstellen, weshalb er sich den bissigen Kommentar verkniff. »Danke, ich weiß.« Er schlug das Buch auf, während er sicherheitshalber prüfend in Richtung des Geister-Professors sah.

Neben ihm sah Regin verwirrt zwischen dem Lehrer und ihm hin und her. Er war offensichtlich überfordert, mit der Frage, was er nun tun sollte. »Aber ...«, flüsterte er einen Hauch energischer und gleichzeitig verwirrter Jeremias zu, der ihn mit beschwörendem Ton unterbrach.

»Ich schlag bloß schnell was nach«, zischte er seinem Mitschüler zu. »Pass du lieber auf, sonst kriegst du wegen mir Ärger.« Das war die netteste Entgegnung, die ihm eingefallen war. Am liebsten hätte er seinem Nebenmann gesagt, er solle sich um seinen eigenen Kram kümmern, aber das brachte er nicht übers Herz.

»Nun, da Ruhe eingekehrt ist, werden wir beginnen«, verkündete Professor Binns im unverändert monotonen Tonfall, der es Jeremias unvorstellbar machte, dem Mann länger als zwei Minuten zuzuhören, ohne ins Reich der Träume zu entfliehen. »Die älteste Zusammenkunft von ...«, begann der Geist zu, kam allerdings nicht weiter. Statt lediglich seine Rede zu unterbrechen, war er erstarrt, als er die Klasse gemustert hatte. Nun schaute er niemand anderen als Jeremias an.

Der Junge hielt dem Blick des Professors stand, doch sein Herz schlug ihm bis zum Hals und plötzlich fühlte sich seine Kehle an, als wäre das letzte Glas Kürbissaft statt wenige Minuten Tage her. Hatte der Lehrer von seinem Platz aus womöglich erkannt, dass das falsche Buch auf seinem Tisch lag? Waren die Tische verzaubert? Erkannten sie womöglich den Betrug? Unter seinem Umhang wurde ihm im Angesicht der durchschimmernden Gestalt, dessen Miene sich in verärgerte Falten legte, gleichzeitig heiß und kalt. Das Buch pulsierte wie sein eigenes Herz wild in seiner Hand.

»Nun, haben Sie eine Frage?«, erkundigte sich der Geist, aus dessen Tonlage zum ersten Mal so etwas wie eine Gefühlsregung herauszulesen war. Ganz offensichtlich war er über die Notwendigkeit einer Unterbrechung sehr unglücklich.

Jeremias' Kehle fühlte sich mit einem Mal noch ausgedorrter an, während er verzweifelt nach einer Erklärung suchte, so dass die Stimme hinter ihm ihn ruckartig herumschnellen ließ.

»Nein, Sir, aber ...«, setzte der Schüler hinter ihm entrüstet an. Der Slytherin saß allein in der letzten Reihe. Mit seinen braunen, zottigen Haaren sowie der unzufriedenen Miene, machte er keinen geselligen Eindruck.

Jeremias atmete erleichtert aus, sobald ihm klar wurde, dass der Lehrer gar nicht wegen ihm aufgehorcht, sondern der Junge hinter ihm aufgezeigt hatte. Sowohl das Herzklopfen als auch die plötzliche Hitze verzogen sich schlagartig. Zurück blieb ein Schatten des Schreckens, der ihn davon abhielt, sofort wieder in das Inhaltsverzeichnis seines Buches unter seiner zitternden Hand zu schauen. Sicherheitshalber wollte er das Gespräch abwarten, falls es überhaupt eines geben würde, da der Lehrer für Geschichte der Zauberei augenscheinlich andere Pläne hatte, als den Slytherinschüler ausreden zu lassen.

»Nun, wenn Sie keine Frage haben, Mister, dann würde ich es begrüßen, wenn Sie mir weiter zuhören würden. Die älteste Zusammenkunft ...«

»Aber Sir«, wetterte der Junge, der auf niemand Geringeren als den Hufflepuff vor sich deutete: Jeremias.

Der Beschuldigte, der keinen Schimmer hatte, was der Mitschüler ihm zur Last legen wollte, erstarrte erneut, dem brennenden Blick des Mitschülers ausgesetzt, der die altbekannte Unruhe in ihm aufflammen ließ. Da bekam er eine Ahnung, was sein Hintermann vorhatte. Er betete inständig, er mochte sich irren oder der Schüler würde es sich anders überlegen.

»Er hat gar nicht ...«, begann der Slytherin, den Jeremias stumm beschwor, doch bitte den Mund zu halten, was erstaunlicherweise tatsächlich geschah, weil Professor Binns ihm abermals ins Wort fiel.

»Ich wiederhole mich höchst ungern, aber wenn Sie keine Fragen haben, würde ich Sie inständig bitten, es zu unterlassen, den Unterricht zu stören. Sollte Ihr Mitschüler ein Problem haben, ist er sicherlich in der Lage, das selbst anzubringen. Für mich hat es nicht den Anschein, dass irgendwelche Unklarheiten bestünden. Gehe ich richtig in der Annahme?« Diesmal sah der Lehrer unmissverständlich zu Jeremias, der sein neuerliches Glück kaum fassen konnte.

Stumm, mit fortwährend trockener Kehle nickte Jeremias. »Alles gut, Sir«, antwortete er mit fester Stimme, die ihn selbst positiv überraschte.

»Wie erfreulich«, entgegnete Professor Binns, zur Bestürzung des Jungen hinter Jeremias. »Die älteste Zusammenkunft zwischen Zauberern und magischen Wesen ...« War den ersten Worten, die der Geist von sich gab, eine Spur von Freude anzuerkennen gewesen, wohl, weil er seinen Satz endlich vollenden konnte, verfiel er einen Lidschlag später in seine übliche Monotonie.

Trotzdem wagte Jeremias es nicht, in sein Buch zu sehen. Noch immer zitterten seine Hände. Außerdem spürte er die unnachgiebige Musterung seines Hintermanns in seinem Nacken. Auch McBride sah über ihre Schulter hinweg misstrauisch zu ihm. Er stand unter Beobachtung. Genau das hatte er vermeiden wollen. So lauschte er unfreiwillig den geleierten Ausführungen seines Lehrers. So viel Sinnvolles, das er in der Zeit hätte tun können und er vergeudete sie wegen der Missgunst irgendwelcher Neider. Der aufwallende Trotz war es, der ihn dazu anstachelte, langsam den Kopf zu senken. Fortwährend prüfend, ob jemand ihn im Visier hatte, schaute er sich um, doch kam seinem Ziel immer näher. Letztlich, nachdem bereits die Hälfte der Stunde um war und bestimmt die Hälfte der Schüler mit schweren Lidern oder ihrer Konzentration haderte, konnte er endlich das Inhaltsverzeichnis überfliegen, das leider nicht nach Nutzen der jeweiligen Kräuter sortiert war. Grundlagen der Aufzucht, Wachstumsbedingungen, Schädlinge und Krankheiten, Besonderheiten der verschiedenen Arten. Es würde eine Weile dauern, bis er herausgefunden hätte, welche der beschriebenen Pflanzen Heilkräuter waren oder welche er gepflegt ignorieren konnte. Beinahe war er froh, dass der Unterricht noch eine Weile andauerte.

Professor Binns stellte keine Fragen. Er sah die meiste Zeit seine Schüler nicht einmal an, sondern war voll und ganz in der Geschichte versunken, ja, geradezu verschmolzen. Es schien ihm vollkommen zu entgehen, was um ihn herum passierte, während er mühelos, aber genauso emotionsbefreit, über das berichtete, was er für wichtig hielt.

Leider war die Struktur des Lehrbuchs nur ein Teil dessen, was Jeremias bei seinen Nachforschungen bremste. Zwischenzeitlich sah er sich um, möglichst, ohne den Kopf zu bewegen. Der Lehrer war der zweite Faktor, weshalb es nicht so lief, wie geplant. Der dahinplätschernde Vortrag des Geistes, der sich weiter um das Zusammentreffen von Zauberern und Elfen drehte, prasselte in seiner Gleichförmigkeit der chinesischen Wasserfolter ähnlich auf ihn nieder. Es war unmöglich, völlig in dem Buch zu versinken. So vergingen die Minuten in dem halbdunklen Raum nicht halb so erfolgreich, wie er sich das vorgestellt hatte. Dass es seinen Mitschülern ähnlich erging, die sich die ersten beiden Schulstunden an einer Akademie für Zauberkünste wahrscheinlich vollkommen anders vorgestellt hatten, half ihm keinesfalls über die ernüchternden Minuten hinweg.

Als Professor Binns den Unterricht mit den Worten »Lesen Sie bis zur nächsten Stunde die Seiten hundertdreiundfünfzig bis hundertfünfundfünfzig. Fassen Sie die Ereignisse dieser wichtigen Zusammenkunft zusammen« beschloss, meinte der Junge ein kollektives, erleichtertes, sehr leises Seufzen zu vernehmen. Für wenige Sekunden konnte es die Menge scheinbar nicht glauben, dass ihrer Langeweile ein Ende gesetzt war, dann erfüllte das geschäftige Rücken von Bänken und Rascheln von Umhängen das Klassenzimmer, sobald die Schüler hastig ihre Bücher nahmen und ihr Heil in der Flucht suchten.

Jeremias dagegen ließ sich Zeit. Er las den letzten Satz über die Nautische Henne zu Ende – ein graziles Wassergewächs, das in der Nähe von Meermenschenkolonien siedelte. Es konnte zur Behandlung von Höhenangst verwendet werden und eigenete sich außerdem als Bindemittel für Pudding oder Soßen. Erst dann schlug er das Buch zu. In einem Anflug von Verfolgungswahn schob er es mittig in den Stapel, ehe er mitsamt seines Hab und Guts den Raum gemeinsam mit zwei Slytherinschülerinnen verließ.

Draußen warteten seine Klassenkameraden. Es war kein freudiger Empfang. Allen von ihnen war das Lächeln aus dem Gesicht gewichen. Stattdessen musterten sie ihn schweigend und offenbar ratlos. Erst, als die Tür hinter Jeremias zufiel, brach Laetitia das Schweigen.

»Du hast echt Glück gehabt«, sagte sie mit gesenkter Stimme, nachdem sie sich versichert hatte, dass die Slytherins außer Hörweite verschwunden waren. »Das hätte uns Punkte kosten können!«

Freudlos lachte Jeremias auf. Punkte, dachte er. So ein Kinderkram. »Hat es aber nicht.« Ohne eine weitere Verteidigung seinerseits wandte er sich ab, um zum nächsten Raum zu gehen. Seinetwegen brauchten sie hier keine Wurzeln zu schlagen. Neben der Tatsache, dass er keine Ahnung hatte, wohin genau sie mussten, hielt ihn einer seiner Mitschüler am Arm fest. Eldary, wie Jeremias feststellte, als er sich zu demjenigen umsah.

Die kleine Falte über seinen Augenbrauen ließ den Größeren unerwartet aufgebracht wirken. »Es wäre echt blöd, wenn wir gleich am ersten Tag Punkte verlieren würden«, unterstrich er Laetitias Einwand, die mit verschränkten Armen hinter ihm stand.

Jeremias verdrehte bei dem Anblick genervt die Augen. Da hatten sich zwei gefunden. »Wenn das eure einzige Sorge ist«, gab er mit gesenkter Stimme zähneknirschend zurück, »geb ich mir Mühe, sollten Hufflepuff jemals wegen mir Punkte abgezogen werden, die woanders rauszuholen.«

»Es wär gut, wenn du erst gar keine verlieren würdest«, brummte Laetitia verstimmt.

Zunehmend aufgebracht sah Jeremias aus schmalen Augen zu ihr und ließ Eldary, der direkt vor ihm stand, links liegen. »Warum? Weil du sonst vor deinem Bruder schlecht dastehst, oder was?« Die Worte taten ihm leid, bevor er sie ausgesprochen hatte, aber es war zu spät.

»Nein«, knurrte das vorlaute Mädchen, das den Vorwurf offenbar so persönlich auffasste, wie er gemeint gewesen war, »weil unser Haus sowieso einen schlechten Ruf hat!«

»Hey, wirf mir das vor, wenn ich den Notendurchschnitt irgendwann mal nach unten reiße, aber nicht nach der ersten Stunde«, entgegnete er, darum bemüht, trotz seines Zorns möglichst wenig verbrannte Erde zu hinterlassen.

»Na ja«, mischte sich plötzlich Keaton, wenn auch sehr zögerlich, ein, »man muss dazu sagen, dass die Stunde echt langweilig war.«

Die unerwartete Unterstützung verschlug Jeremias die Sprache.

Der Muggelstämmige, der neben ihm stand, sah unschlüssig zwischen den Parteien hin und her. Er war zartrosa angelaufen. Die plötzliche Aufmerksamkeit war ihm wahrscheinlich unangenehm. »Ich mein nur, ich hab nebenher die Seiten in dem Buch gelesen. Da stand exakt das drin, was Professor Binns erzählt hat.« Noch viel leiser, so dass man es nur mit viel Mühe verstand, fügte er kleinlaut an: »Ich hab selbst überlegt, ob ich mir zur nächsten Stunde einen Comic mitnehme, damit ich wach bleibe.«

Der letzte Kommentar brachte Oscar zum Grinsen, der sich jedoch wegdrehte, um nicht ebenfalls Laetitias Zorn auf sich zu ziehen.

Das aufgebrachte Mädchen mit den kurzen Haaren hatte sich allerdings so weit Jeremias das erkennen konnte beruhigt. »Auch wahr«, gab sie zerknirscht zu. »Vielleicht bin ich auch etwas geknickt, weil ich mir den Unterricht irgendwie spannender vorgestellt habe.«

Wie ein Pfeil schnellte plötzlich etwas auf Jeremias zu, der erschrocken einen Schritt zurückwich.

»Tut mir leid«, gestand Leatitia, die offenbar ehrlich um Frieden bemüht war ihm ihre Hand hinhielt. »Auch, dass ich mich aufgeführt habe, wie ein Quidditchkapitän.«

Erstaunt betrachtete Jeremias die Hand vor sich, ehe er sie kommentarlos ergriff. »Schon gut. Das passiert.« Er wusste eigentlich sehr gut, dass Laetitia seine geringste Sorge war. Es war unfair, sie anzublaffen. Trotzdem war sein Griff viel zu fest, sein Blick zu hart und seine Stimme zu kalt, um seine Mitschülerin von der Ehrlichkeit seiner Worte zu überzeugen. Das wusste er selbst.


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