Jeremias Tiller und die Fesseln der Zeit von BlueScullyZ

Jeremias Tiller und die Fesseln der Zeit von BlueScullyZ

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Nach und nach kletterten sie alle aus den Booten auf den hölzernen Anleger. Der Anblick der Grotte – die herabhängenden Stallaktiten und die Spiegelungen der Laternen und Fackeln auf der nahezu unbewegten, pechschwarzen Wasseroberfläche – sowie die baldige Ankunft im Schloss, hielt sie alle in Atem, so dass lediglich der Widerhall ihrer Schritte auf dem Steg zu hören war. Die riesenhaften Füße ihres Wegweisers, die donnernd auf den Untergrund trafen, übertönten diese gespenstige Geräuschkulisse mit jedem seiner Schritte.

Der Scheinriese führte ihre stille Prozession über einen steinernen Pfad ins Innere des Felsens. Der Gang wurde, wie der unterirdische Hafen, von Flammenschein erhellt. Die Schatten der Kinder und der riesigen Gestalt vor ihnen tanzten unheilvoll an den Wänden, während hinter ihnen langsam der Klang der Wassertropfen, die von Zeit zu Zeit von der Decke in den unterirdischen See hinabtropften, verhallte.

Jeremias kam der Weg endlos vor. Steil führte der Pfad hinauf, kleine Stufen waren in den Boden eingelassen. Ungeduld ergriff von ihm Besitz und so hielt er seit dem Anleger keinen Abstand mehr zur Gruppe, sondern war Teil des Schülerpulks, das sich hinter dem Riesen vorwärtsbewegte. Das Einzige, das ihn von den meisten anderen unterschied, war sein entschlossener Blick. Während viele um ihn herum maßlos beeindruckt oder voller Vorfreude, manche auch ängstlich waren, sah Jeremias aus, als zöge er in eine alles entscheidende Schlacht. Je näher er glaubte, der Schule zu kommen, desto grimmiger wurde seine Miene, die mit einem Schlag die Dunkelheit verschleierte, nachdem sie hinaus an die frische Nachtluft getreten waren.

Eine kalte Brise schlug ihnen über die schwerlich zu erkennenden Wiesen entgegen, sobald sie statt massivem Stein Schotter unter den Füßen hatten und das Flackern des Feuers dem nächtlichen, sternenklaren Himmel wich.

Ebenso konnte Jeremias die Lichter des Schlosses wieder sehen, dieses Mal aus der Nähe. So wenig, wie der Felsen, auf dem die Burg thronte, klein war, war es das Gemäuer selbst. Es war einen kurzen Fußmarsch entfernt, dennoch sah es bereits jetzt weit imposanter aus, als er vom Ufer des Sees aus gedacht hätte. Die Anzahl der Fenster schien sich vervielfacht zu haben. Selbst mit dem Wissen, dass es ein Streich war, den die Entfernung ihnen gespielt hatte, war Jeremias erstaunt, wie riesig es tatsächlich war und dass es mit jedem Schritt, den sie darauf zumachten, noch größer wurde.

Was sie umgab, waren im spärlichen Restlicht der Dunkelheit nur vage zu erkennende Schemen, doch Hogwarts selbst erwachte den Anschein von innen heraus zu leuchten. Wenn auch nicht jedes Detail erkennbar war, so zog ihn das warme Licht in der kalten Nacht wie magisch an.

»Doch nicht so abgebrüht, wie du tust, was?«

Erschrocken fuhr Jeremias herum. Dass McBride immer noch neben ihm lief, hatte er verdrängt gehabt. Zu seinem Erstaunen musterte sie ihn keinesfalls abfällig, sondern wirkte ehrlich amüsiert. Die feindselige Erwiderung schluckte er deshalb hinunter. »Hab’ ich nie behauptet.«

»Das ist auch nichts, was man behauptet«, gab das Mädchen kühl zurück. Sie war wieder in ihrem Element. »Entweder man ist es, oder man ist es nicht.« Nun klang sie wieder schnippisch, fand der Junge.

Um sie herum brandete Gemurmel auf. Erwartungsvolles Tuscheln mischte sich mit unheilvollem Raunen.

»Ich will auf keinen Fall nach Ravenclaw«, hörte Jeremias vor sich einen Jungen sagen, der ihn nahezu um einen Kopf überragte.

»Kann ich verstehen, ich will auch woanders hin. Blau steht mir einfach nicht«, pflichtete dem Jungen ein ihm ebenso fremdes Mädchen bei.

Farben. Jeremias verdrehte die Augen. Die hatten Probleme! Blieben ihre Umhänge nicht sowieso schwarz? Es wäre ihm neu, dass sein Bruder farbige Umhänge hatte – sah man von seinen Quidditchsachen ab. Die beiden zu belehren, war jedoch nicht seine Aufgabe. Stattdessen lehnte er sich zu McBride rüber und murrte: »Da bin ich ja froh.«

»Worüber bist du froh?«, fragte sie zurück, das augenscheinlich einer anderen Unterhaltung gelauscht hatte.

Für einen Sekundenbruchteil trauerte er der Möglichkeit nach, das Gespräch durch Stillschweigen im gegenseitigen Einverständnis beendet zu haben. »Schon gut.«

Neben ihm lachte das blonde Mädchen leise auf. »Ich hätte echt nicht gedacht, dass ich jemanden treffe, dem das alles hier mehr auf den Keks geht als mir.«

Fragend wandte Jeremias sich zu ihr herum.

Zu seiner Überraschung grinste McBride ihn verstohlen an, jedoch ohne dabei ihre Hochnäsigkeit aufzugeben. »Irgendwie ist das cool.«

»Aha.« Das war alles, was Jeremias dazu zu sagen hatte. Er würde ihr bestimmt nicht auf die Nase binden, was ihm den ganzen Tag durch den Kopf gegangen war. Egal war es ihm nicht, nur den ganzen Firlefanz drumrum hätte man sich in seinen Augen sparen können. Was ihn im Gegensatz dazu absolut nicht interessierte, war, was andere von ihm hielten. Sollte McBride doch von ihm denken, was sie wollte.

Es blieb keine Zeit mehr, das lang und breit zu erklären, denn die Schülergruppe wie auch ihr Anführer stiegen einige Steinstufen empor, bevor sie vor einem riesigen, schier gigantischen Portal aus Holz stehenblieben. Schlagartig, mit dem Stillstand des Pulks, verstummten die Gespräche.

Der Riese, der vermutlich keiner war, sah vor dem Durchgang fast wie ein normalgroßer Mensch aus, während Jeremias sich vorkam wie eine Ameise, die um Einlass begehrte. Er war nicht der Einzige, der mit halboffenem Mund langsam den Blick von unten nach oben über die Pforte wandern ließ und er war ebenfalls in guter Gesellschaft, als er wie vom Donner gerührt zusammenschrak, nachdem ein markerschütterndes, hölzernes Klopfen die Stille zerrissen hatte.

Mit großen Augen betrachtete die Schar die Tür. Die Sekunden, in denen nichts geschah, zogen sich wie Bubbles bester Blaskaugummi endlos dahin. Ein Knarren ließ einige unwillkürlich zurückweichen, bevor sie realisierten, dass die Flügel des Tores sich endlich nach innen öffneten.

Über die Köpfe hinweg, von der niedrigsten Stufe aus, konnte der Junge bloß raten, wer ihnen die Tür öffnete, allerdings war die dröhnende Stimme des Riesen selbst dann schwerlich zu überhören, wenn man es mit aller Macht versuchte. Ebenso wie das Klopfen zuvor, gingen seine Worte durch Mark und Bein. »Guten Abend, Professor. Die Erstklässler.«

»Guten Abend, Hagrid. Ich übernehme ab hier«, antwortete eine Frau.

Ohne sie zu sehen, wusste Jeremias, dass sie älter und sicherlich streng war. Die Begrüßung machte auf ihn keinen sonderlich herzlichen Eindruck. Es war mehr wie bei seiner Mutter, wenn diese ihre Großtante begrüßte, die sie noch nie hatte leiden können. Höflichkeit nannten Erwachsene das. Zugegebenermaßen war der Ton der Professorin weit weniger abweisend als die Gespräche zwischen Tante Genovefa und seiner Mutter, bei denen selbst ’Könntest du mir bitte die Milch reichen?’ klang, als wünschten sie einander schlimme Dinge an den Hals.

»Folgt mir!« Dies war unüberhörbar ein Befehl, trotz der Ruhe in ihrer Stimme. Den Tonfall kannte er ebenfalls von seiner Mutter. Unweigerlich durchzuckte ihn der Gedanke, sein Zimmer nicht aufgeräumt oder eine sonstige Schandtat begangen zu haben.

So setzte sich ihr Zug im Gleichschritt in Bewegung und sie traten durch das große Eingangstor in die Halle. Kaum war Platz genug, dass auch Jeremias die letzte Stufe hochsteigen konnte, gelang es ihm, zwischen den Köpfen der vorderen Schüler hindurch, einen Blick auf die Professorin zu erhaschen. Sie war ziemlich groß, aber schmal. Das war alles, was der Junge erkennen konnte, denn sie hatte ihnen bereits den Rücken zugewandt. Ihr Spitzhut verdeckte ihren Hinterkopf. Er legte ihren Nacken in tiefe Schatten und ihr smaragdgrüner Mantel, der in dem spärlichen Licht schwarz schimmerte, wehte trotz ihres entschlossenen Tempos träge.

Zwar ebbte der seichte Wind ab, sobald sie durch die Tür getreten waren, aber im Inneren herrschte die Kälte steinerner Gemäuer. Ehrfürchtig, wie alle anderen, sah er sich in der von Fackeln und Kerzen erhellten Halle um. Sie war sehr lang und zu beiden Seiten gingen Gänge ab.

Jeremias kam sich mit einem Mal unglaublich klein vor. Schon vorher hatte es kaum einen Schüler gegeben, der ihm seinen Zwergenstatus hätte streitig machen können, doch hier in dem riesigen Foyer, in das der Hogwarts-Express bestimmt einmal quer hineingepasst hätte, fühlte er sich schier wie ein Gnom im Wohnzimmer eines Riesens – wenn Riesen so etwas wie Wohnzimmer hatten. Ob es das Licht war oder die in den Ecken lauernde Dunkelheit, die das Gebäude größer als ohnehin wirken ließ, war ein weiteres Mysterium. Trotzdem machte das Schloss mit den Wandteppichen in satten, erdigen Farben sowie den Gemälden, deren Bewohner ihnen gelegentlich im Vorbeilaufen wohlgesonnen zunickten oder sich weniger höflich abwandten, einen freundlichen, aber dennoch respekteinflößenden Eindruck.

Sie gingen rechts herum in einen Gang, aus dem bereits Stimmen zu ihnen drangen. Der Lärm musste aus dem Raum hinter der großen Tür kommen, auf die sie zuliefen. Es klang nach einer ganzen Horde Menschen; nach so vielen Schülern, als habe es mehr als nur einen Hogwarts-Express gebraucht, um sie herzubringen. Statt davor stehenzubleiben, liefen sie an der Flügeltür, welche die Ausmaße des großen Haupttor nicht ganz erreichte, vorbei.

Dort öffnete die Professorin den Eingang zu einem Raum neben der Versammlungsstätte. Der Einlass sah im Vergleich zu dem mächtigen Tor geradezu winzig aus. Sie ließ die hochgewachsene Gestalt der Lehrkraft darin gleich weniger eindrucksvoll erscheinen.

Jeremias nutzte die Gelegenheit, um im Vorbeigehen einen Blick auf die ältere Frau zu werfen.

Auf ihren schmalen Lippen lag kein Lächeln. Ihr Gesicht war bereits von Falten durchzogen. Ihr Blick allerdings, den sie gebieterisch über die Schüler schweifen ließ, war wach und aufmerksam wie der eines Raubvogels.

Als sie zu ihm sah, der zuletzt die kleine Kammer betrat, in der sich die Schüler aneinanderdrängten, wandte Jeremias den Blick schleunigst ab und stolperte einen Schritt schneller hinein, woraufhin die Lehrerin die Pforte hinter ihm schloss.

»Mein Name ist Professor McGonagall, stellvertretende Schulleiterin und Hauslehrerin von Gryffindor«, sprach sie eindringlich zu der vor ihr versammelten Schar.

Niemand, da wettete Jeremias drauf, wagte es, unaufmerksam zu sein.

»Ich heiße Sie alle herzlich in Hogwarts willkommen.«

An der Herzlichkeit hatte der Junge jedoch seine Zweifel.

»Das Bankett anlässlich des Beginns dieses Schuljahres, an welchem auch Sie teilnehmen werden, beginnt in Kürze. Im Vorfeld werden wir jedoch bestimmen, in welches der Häuser Sie gehören. Wie Sie eventuell bereits wissen, gibt es in Hogwarts vier Häuser, welche allesamt eine ehrenvolle Vergangenheit und für die Schule einen bedeutenden Ursprung haben. Ravenclaw, Gryffindor, Slytherin und Hufflepuff. Die Gemeinschaft des Hauses, dem Sie zugeteilt werden, wird die nächsten sieben Jahre gleichsam Ihrer Familie sein. Sie werden gemeinsam mit den Schülern Ihres Hauses speisen; sie werden sich die Wohn- sowie die Schlafgemächer teilen. Glänzen Sie mit Ihren Leistungen, bringen Sie Ihrem Haus Punkte. Verstoßen Sie gegen die Schulregeln oder fallen in irgendeiner Weise negativ auf, verliert Ihr Haus Punkte. Das Haus, welches am Ende des Schuljahres die meisten Punkte hat, gewinnt den Hauspokal. Bis es soweit ist, werden Sie hier warten. Ich werde Sie holen, sobald wir mit der Zeremonie beginnen. Sie sollten die Zeit bis dahin nutzen, um sich ein wenig zurechtzumachen.« Bei ihren letzten Worten ließ sie den Blick abermals über die Menge gleiten. Ungnädig blieb sie an dem ein oder anderen Schüler hängen, der auf dem Weg ausgerutscht war, oder dessen Haare nicht ordentlich lagen. Schließlich nickte die Lehrerin knapp, ehe sie mit wehendem Umhang den Raum verließ.

»Himmel, hat die Haare auf den Zähnen«, brummte ein stämmiger Junge in die Stille hinein, nachdem die Tür der Kammer hinter der stellvertretenden Schulleiterin ins Schloss gefallen war. Ihn hatte McGonagall schwerlich meinen können, als sie gesagt hatte, sie sollten sich zurechtmachen. Seine hellen Haare waren raspelkurz geschoren und sein Umhang tadellos. Seine Miene spiegelte keine positive Form der Verblüffung wider. Offenbar widersprach der Empfang seinen Erwartungen.

Um ihn herum brandete verhaltenes, zustimmendes Brummen und teils sehr leises, amüsiertes Kichern auf, während die meisten Erstklässler aussahen, als hätten sie Angst, dass Professor McGonagall jederzeit durch die Tür zurückkommen könnte, um sie zurechtzuweisen.

»Wer wollte nochmal nach Gryffindor?«, fragte ein Mädchen mit langen, braunen Haaren, das sich trotz des frechen Grinsens seine rotkarierte Schleife richtete, die seitlich an seinem Haar angebracht war.

Die Frage entlockte vereinzelten Kindern ein freies Lachen, woraufhin sich die Atmosphäre langsam entspannte.

»Wer will denn ...«, setzte ein anderes Mädchen an, stockte dann aber mitten im Satz. Erst dachte Jeremias, den schnippisch-arroganten Tonfall zu kennen, doch es war nicht Edwana, die das gesagt hatte, dann jedoch abrupt verstummt war, als sie genervt an die Decke geschaut hatte.

Fragende Blicke lagen auf ihr. Einige, darunter auch Jeremias, waren ihrem Blick gefolgt – und ebenfalls erstarrt. Nicht, weil die Decke der kleinen Kammer ebenfalls gute vier Meter hoch war, was dem beengten Raum den Charme einer mittelalterlichen Kerkerzelle verlieh, sondern weil etwas aus der Wand heraus auf sie herunterschaute. Kein magisches Gemälde, sondern ein silbrig schimmerndes Nebelwesen, das seinen Kopf durch die massive, steinerne Mauer gesteckt hatte.

Ein Geist. Ein wahrhaftiger Geist. Und in der Sekunde, in der sie zu ihm aufsahen, bildete sich auf seinem Gesicht ein freundliches Lächeln, das kaum jemand von ihnen registrierte, denn neben ihm brach eine zweite Gestalt aus der Wand. Sie schwebte vollkommen unbeeindruckt über sie hinweg, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Auf seinem ... Ja, seinem Was? Sagte man Körper? Jedenfalls glänzten auf ihm einige silbrige Flecken. Näher konnte Jeremias es nicht erkennen, denn weitere Geister kamen aus dem Gestein und beehrten sie mit ihrer zweifelhaften Anwesenheit. Irgendwo wimmerte ein Mädchen, oder ein Junge mit angstvoll hoher Stimme. Die Meisten hielten gespannt den Atem an, während sie ungläubig die transparenten Wesen über ihnen betrachteten, von denen einige zu ihnen herabsahen und den Gemälden sehr ähnlich verschieden, mal freundlich, mal ablehnend, reagierten. Andere unterhielten sich ganz ungeniert, ohne von ihnen Notiz zu nehmen.

»Die neuen Erstklässler« – »... von Jahr zu Jahr immer ...« – »Hach, so viel Leben!«

Nur ein Geist, jener der zuerst aus der Wand gesehen hatte, richtete sein Wort direkt an sie, während er endlich vollständig aus dem Gemäuer trat und sich bis ganz knapp über ihren Köpfen herabsinken ließ. »Wir sehen uns in Hufflepuff«, meinte er mit einem Zwinkern, ehe er seinen Mitverstorbenen folgte.

»Krass«, kommentierte niemand anderes als Keaton, der immer noch mit großen Augen an die Stelle starrte, durch welche die Geister in Richtung der Versammlungshalle verschwunden waren. Man hätte sagen können, er wirkte völlig entgeistert.

»Ist der Geist der Hauslehrer?«, fragte ein Junge mit piepsiger Stimme, was ihm von vereinzelten Schüler hämisches Gelächter bescherte.

Das hinderte einen anderen Jungen jedoch keinesfalls daran, stattdessen zu fragen: »Weiß jemand, wie diese Verteilung abläuft?«

Das wiederum erinnerte Jeremias an die Geschichten seines Bruders. Da sie bereits im Schloss waren, hielt er es für unwahrscheinlich, dass die Version mit dem verbotenen Wald stimmte. Mussten sie vor der gesamten Schule wirklich Duelle ausfechten? Und wenn ja, womit? Niemand von ihnen konnte zaubern.

»Ich hab gehört, man muss einen Zaubertrank trinken. Irgendwie können die dann sehen, in welches Haus man gehört«, ließ ein Mädchen kühl die Wartenden wissen. Sie war sich ihrer Sache offensichtlich ziemlich sicher. In ihren Augen lag absolut keine Furcht. Stattdessen zuckte sie gleichgültig mit den Schultern.

Die Aussicht, einen unbekannten Zaubertrank zu trinken, stieß wie so vieles zuvor auf geteilte Resonanz.

Jeremias beschloss, seine Horrorgeschichten für sich zu behalten. Sie waren genug verunsichert und würden gleich ohnehin erfahren, was passieren würde.

»Ich habe gehört, ein alter Hut teilt uns in die Häuser ein«, meldete sich der Junge mit der piepsigen Stimme erneut zu Wort.

Jemand lachte laut, aber hohl auf. »Ja klar, ein Hut! Du glaubst ja auch, dass Geister Lehrer wären«, entgegnete einer jener Schüler, die bereits bei seiner vorherigen Frage gelacht hatten.

Im nächsten Augenblick wandten sich alle Köpfe ruckartig in Richtung des Eingangs. Gleichzeitig verstummten sie jäh, denn mit einem obligatorischen Knarren wurde die Tür von außen geöffnet, in der niemand anderes als Professor McGonagall stand. »Es ist so weit«, verkündete sie förmlich und ließ abermals den Blick über sie wandern, was hauptsächlich ein Meer aus schuldbewussten sowie ängstlichen Blicken bedeutete, denn niemand von ihnen hatte die Zeit genutzt, um sich wie gefordert zurechtzumachen. »Stellen Sie sich in einer Reihe auf und folgen Sie mir.«

Ohne ein Wort zu verlieren, folgten sie Professor McGonagall geordnet zurück auf den Gang. Die Stimmen, die aus der Halle drangen, schienen lauter geworden zu sein. Jedenfalls kam es Jeremias so vor, der, da er nah bei der Tür gestanden hatte, recht weit vorn hinter einem Mädchen mit langen schwarzen Haaren in der Schlange lief.

Vor der Flügeltür blieb die Lehrerin stehen. Mit einem Blick über die Schulter versicherte sie sich, dass sie noch alle da waren. Wie auf ein unsichtbares Kommando hin, verstummten selbst hinter der Tür die Gespräche, was den dunklen Flur, in dem ihre eigenen Schatten an den steinernen Wänden flackerten, noch unwirklicher erscheinen ließ.

Dann stieß Professor McGonagall die Tür auf und sie standen das erste Mal in ihrem Leben in der Großen Halle von Hogwarts. Als hätte es an diesem Tag nicht genug Grund zum Staunen gegeben, so verschlug es den meisten von ihnen zum wiederholten Male die Sprache, als sie die vielen, ihnen zugewandten Gesichter sahen. Nach einem holprigen Start, da einige der Erstklässler plötzlich stehengeblieben waren, gingen sie an vier langen Tafeln entlang. Eigentlich bloß an zweien, denn es standen zwei der langen Tische zu jeder Seite, alle parallel nebeneinander. Die Ausnahme bildete ein kürzerer, aber höherer Tisch, der ganz vorn auf einem Podest quer zu den anderen stand. Die Personen dort waren wesentlich älter und zahlenmäßig unterlegen. Aus diesem Grund schätzte Jeremias, dass es die Lehrer waren, die er dort vor sich hatte.

In der Mitte des hohen Tisches saß ein alter Mann mit langen weißen Haaren, einem riesigen violetten Spitzhut sowie einem Bart, der hinter der Tischplatte verschwand. Er trug eine halbmondförmige Brille. Jeremias kannte ihn von einigen der Schokofroschkarten. Albus Dumbledore, der Schulleiter von Hogwarts. Seine Eltern sprachen nur in den höchsten Tönen von ihm. Ebenso Nicolas. Immer wenn er ein Wort über ihn verlor, so klang immer ein Hauch von Ehrfurcht in seiner Stimme.

Der Platz rechts neben dem Schulleiter war leer. Einen Platz weiter saß allerdings ein Lehrer, der mindestens so streng dreinsah wie Professor McGonagall. Während die stellvertretende Schulleiterin auf den Elfjährigen einen respekteinflößenden Einfluss hatte, der seine Furcht schürte, einen Fehler zu begehen, glaubte er bei dem Blick aus den dunklen Augen dieses Lehrers, diesen schwerwiegenden Fauxpas längst begangen und einen Schulverweis schon vor der ersten Unterrichtsstunde verdient zu haben. Seine kinnlangen, schwarz schimmernden Haare verliehen ihm dazu ein schmieriges, aalglattes Aussehen. Bestimmt war er kein sonderlich sympatischer Mensch.

Ganz im Gegensatz zu dem freundlich lächelnden kleinen Mann, der auf der rechten Seite von Professor Dumbledore saß. Er trug ebenfalls einen Spitzhut, jedoch in klassischem Schwarz, dazu einen hellblauen Umhang, der zu dem hellen Braunton passte, den seine Sitznachbarin trug. Mit seiner Brille, die kaum größer als seine Augen war, und den kleinen Händen, sah er wie ein Maulwurf aus, fand Jeremias.

Die Hexe neben ihm sah genauso freundlich zu ihnen hinunter. Ihre braungrauen Locken wellten sich unter ihrem Hut hervor.

Einen Platz weiter saß das genaue Gegenteil des Maulwurf-Lehrers. Sie trug eine Brille, die beinahe ihr gesamtes Gesicht einnahm. Viel schlimmer war allerdings die eindringlicher Musterung, als wolle sie die Kinder förmlich durchbohren. Es war viel unangenehmer als es bei Mister Ollivander damals in der Winkelgasse. Schnell sah er woanders hin. Diese Frau war ihm unheimlich. Einzig, dass der Riese Hagrid, wie die stellvertretende Schulleiterin ihn genannt hatte, mit am Tisch saß, registrierte er, während die übrigen Lehrer für ihn verschwommene Schemen blieben.

Die Schüler vor ihm schauten mal nach rechts, mal nach links oder bewunderten die Dekoration der Decke, der er gerade einmal für einen Sekundenbruchteil seine Aufmerksamkeit schenkte. Sie sah aus, als bestünde sie aus einem wahrhaftigen Sternenhimmel, unter dem Kugeln aus schierem Licht in einem Meer aus Kerzen tanzten.

Statt sich davon beeindrucken zu lassen, blieb Jeremias’ Blick an dem großen, blau-silbrigen Banner hängen. Das Wappen der Ravenclaws. Was war diese ganze schöne Dekoration wert? Sie war Zierde, beeindruckte, aber nutzte niemandem. Keine Verzierung, kein billiger Zaubertrick, der hier zu Anwendung gekommen war, hatte verhindern können, dass er heute allein hier stand und vom Tisch der Ravenclaws, der zu ihrer Rechten lag, niemand zu ihm herübersah. Es war nichts als Zeitverschwendung, ermahnte er sich. Entschlossen setzte er seine kalte Miene auf, die er kurzzeitig seit Betreten des Schlosses verloren hatte. Er musste sein Ziel im Auge behalten. Die Häuserverteilung war unwichtig. Er würde in jedem Haus etwas lernen. Darauf kam es an, redete er sich ein, während er den Blick finster auf das Banner gerichtet hielt, das hinter den Lehrern an der Wand hing.

Am Rande nahm er wahr, wie die Schüler vor ihm zum Stehen kamen, was er ihnen gleichtat.

Professor McGonagall deutete eine Linie vor dem Lehrerpult an, woraufhin sich die ersten zögerlich in Bewegung setzten, um sich vor dem Tisch aufzustellen.

Zwar waren sie nun den älteren Schülern zugewandt, aber der Junge sah durch sie hindurch, wie durch Geister. Er wusste, er würde kein bekanntes Gesicht finden – und jeder andere zählte nicht. Mutlos ließ er seinen Blick über die Tische schweifen. Die Kelche sowie die Teller glänzten wie reines Gold. Das warme Licht der schwebenden Leuchtkugeln und Kerzen, tauchte die Halle, anders als die Gänge, nicht in die gespenstige Aura eines Kellerverließes, sondern erhellten auch den kleinsten Winkel. Es mussten über hundert Schüler sein, die dort saßen und sie beobachteten. Allein an einer Tafel saßen bestimmt fünfzig. Jüngere wie Ältere. Manche tuschelten miteinander, andere warteten gespannt auf das Kommende. Es sollte feierlich sein, dachte Jeremias. Mit der Erkenntnis des nutzlosen Scheins war auch das Hochgefühl verblasst. Was immer käme oder wie man sie in die Häuser einteilte, es sollte einfach schnell vorbei sein.

Professor McGonagall lief an ihm vorbei, in der Hand einen Stuhl, den sie mittig vor die Reihe stellte, so dass, wer auch immer sich daraufsetzte, auf sich alleingestellt vor der Reihe Erstklässler säße und in die Masse der Schüler schaute. Der sprichwörtliche Präsentierteller hätte nicht besser in Szene gesetzt werden können. Auf den Schemel legte die Professorin einen alten, braunen, zerknitterten Hut.

Verstohlen beugte Jeremias sich vor. Er schaute zu dem Jungen, der etwa seine Größe hatte und, wie er wusste, eine sehr hohe, piepsige Stimme. Eben jener, der zuvor etwas von einem Hut erzählt hatte. Der stand da mit stolzgeschwellter Brust und puderroten Ohren, während der andere Erstklässler, der sich zuvor über ihn lustig gemacht hatte, argwöhnisch zu dem beleibten Geist stierte, der über dem Tisch der Hufflepuffs schwebte und ihnen seine gedrückten Daumen darbot.

Behielt der Junge etwa Recht? Würde dieser Hut darüber entscheiden, wohin sie kämen? Wie sollte das funktionieren? Würde er seine Farbe wechseln, wenn sie ihn aufsetzten? Oder er war mit einem Bann belegt und sie würden sich gegen ihn zur Wehr setzen müssen. Oder man würde sie auffordern, etwas mit dem Hut anzustellen. Das Ding hatte allem Anschein nach so Einiges mitgemacht. Jeremias fragte sich, ob er aus mehr als Flicken in verschiedenen Brauntönen bestand. Vielleicht war er einst schwarz gewesen und von seiner ursprünglichen Form war wegen des Rituals nichts mehr übrig. So krumm und schief, wie er dort auf dem Stuhl lag, sah er aus, als benutze ihn jemand zwischen den Jahren als Kopfkissen. Wie gut, dass es kein Tier war, sondern bloß ein Gegenstand.

Von diesem Standpunkt aus war es etwas merkwürdig, das in dieser Halle voller Menschen plötzlich alle atemlos an ihrem Platz verweilten und einen Schemel anstarrten. Musste jetzt nicht jemand etwas sagen? Oder etwas erklären? Worauf warteten sie?

Als eine Stimme aus dem Zentrum ihrer Aufmerksamkeit erklang und der Hut sich plötzlich rührte, erübrigte sich die Antwort.

Bin ich auch hässlich, alt und grau,
so stehl ich hier vorn doch jedem die Schau.

Meine Erfahrung macht mich zu einer Institution,
vereint das hohe Alter der Tradition,
mit den Andenken der Historie,
an welche ich mich noch gut erinnere.

Einmal im Jahr, da seht ihr mich,
doch nur einmal im Leben, da sehe ich dich.
Schau hinein in deine junge Seele,
und sage dir, zu wem ich dich zähle.

Eure ganze Schulzeit sollt ihr verbringen
in Gesellschaft eurer Gleichgesinnten.
Doch für jeden einen großen Applaus,
der Freunde findet, nicht nur im eigenen Haus.

Ob alte Seele oder junger Blick,
bei meiner Wahl bewies ich noch immer Geschick.
Alle Tapferen und auch den ein oder anderen Tor,
schickt ich seit jeher nach Gryffindor.

Kennt vor allem eure Loyalität keine Grenzen,
werd ich euch trotz Naivität den Hufflepuffs kredenzen.

Nach Ravenclaw kam – und so auch noch heute,
wer Wissen erachtet als die größte und wichtigste Beute.

Sobald ein dunkler Schatten zieht dahin,
sagen alle, es sei Slytherin.
Doch zu den Jüngern Salazars bestimme ich gleich,
wer Menschen zu leiten und zu lenken weiß.

So hat jedes Wesen seine Tücken,
eignet sich nicht nur, um zu verzücken.
Die Wahrheit kann schmerzen,
der Mut wie die List euch verletzen
und nicht jeder weiß echte Treue zu schätzen.

Es gibt zu jeder Manier Turbolenzen,
aber allein deshalb sollt ihr nicht zaudern.
Mit jedem Wesen kann man glänzen,
kein Grund, vor meinem Urteil zu schaudern.


Das Lied des alten, sprechenden Hutes verklang, tosender Beifall von allen vier Tischen brandete auf, während die Erstklässler die Erkenntnis sprachlos verdauten. Auf dem Stuhl vollführte die Karikatur eines Spitzhutes etwas, das einer Verbeugung gleichkam. So viel dazu, dass er nicht mitbekäme, was gleich mit ihm geschah. Was ihre Aufgabe wäre, das war Jeremias noch immer schleierhaft.

Augenscheinlich wäre kein Trick notwendig, sondern der Hut hatte irgendeine Möglichkeit, in ihren Kopf hineinzusehen. Plötzlich wünschte er sich, er müsste den Lumpen mit seinem Zauberstab nur in die Luft jagen. Alles in ihm sträubte sich dagegen, dass jemand seine Gedanken las. Was wäre, wenn der Hut merkte, dass es ihm egal wäre, wohin er käme? Dass er den ganzen Zauber hier für überflüssig erachtete und eigentlich nur zurück nach Hause zu seinem Bruder wollte? Moment, halt! Er wollte hier sein, ermahnte er sich barsch in Gedanken. Er wollte hier sein. Er wollte dafür Sorge tragen, dass sie im nächsten Jahr gemeinsam herkommen konnten. So sehr er sich danach sehnte, die Zeit mit Nicolas zu verbringen, so wenig wollte er anerkennen, dass es seine letzte war. Dagegen konnte selbst ein alter, sprechender Hut wohl kaum etwas einzuwenden haben.

»Ich werde euch der Reihe nach aufrufen. Ihr werdet dann nach vorne kommen, euch auf den Stuhl setzen und den Sprechenden Hut aufsetzen«, unterbrach Professor McGonagalls rigorose Stimme Jeremias’ Gedanken. Sie blickte streng über den Rand der Pergamentrolle, die sie soeben entrollte, zu ihnen herüber.

Den Hut aufsetzen? Na, das sollte zu schaffen sein. Auch die anderen Erstklässler, rechts und links neben ihm, die er verstohlen musterte, wirkten sehr erleichtert.


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