Jeremias Tiller und die Fesseln der Zeit von BlueScullyZ

Jeremias Tiller und die Fesseln der Zeit von BlueScullyZ

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Noch immer stand Jeremias, umgeben von dem dämmerigen Licht einer flackernden Lampe sowie dem Rattern der Räder auf den Gleisen, im Gang des Hogwarts-Express’. Leute hatten sich in der Zwischenzeit an ihm vorbeigedrängt, woraufhin er in den Eingangsbereich des Wagens gegangen war. Dort war es selbst bei geschlossenen Verbindungstüren lauter und zugiger, aber es war geräumiger. Schüler waren an ihm vorbeigelaufen, ebenso wie eine rundliche, ältere Dame mit einem Verkaufswagen, die ihm Süßigkeiten angeboten hatte. Auf dem Rückweg hatte sie sogar einen Schokofrosch fallen lassen, nachdem sie sich bei ihm erkundigt hatte, ob alles in Ordnung sei. Jeremias hatte ihn ihr wiedergebracht, woraufhin sie ihn sehr merkwürdig gemustert hatte, bevor sie die Ware an sich genommen hatte und kopfschüttelnd abgerauscht war.

Zwei Vertrauensschüler waren ebenfalls bei ihm stehengeblieben. Er hatte ihnen glaubhaft versichert, dass es kein Problem gab und sie waren, wenn auch mit zweifelnden Mienen, weitergegangen, während der Erstklässler mit den Gedanken schon wieder weit in der Vergangenheit versunken gewesen war. Augenscheinlich gab es keine Vorschrift, die das Herumlungern auf dem Gang verbot.

Ungeachtet der unsicheren Blicke der Vorbeiziehenden hatte er sich Stunde um Stunde in seinen Erinnerungen verloren, während der Regen vorbeigezogen und die Landschaft für einen kurzen Moment durch die aufreißende Wolkendecke hindurch in das rotgoldene warme Licht der Abendsonne getaucht worden war, bevor sie schlussendlich in der Dunkelheit verschwand.

Ihn selbst überraschte es, dass er nahezu die gesamte Fahrt an dieser Stelle zugebracht hatte. Allein die ausgedorrte Kehle und seine schmerzenden Füße vermittelten ihm einen Eindruck der Zeit, die vergangen sein musste. Hunger hatte er trotz der langen Fahrt keinen. Stattdessen hatte ihn eine Durchsage aufgeschreckt.

»In fünf Minuten erreichen wir Hogwarts. Bitte lassen Sie Ihr Gepäck samt Haustiere im Zug, es wird für Sie zur Schule gebracht.«

Gut, dass er sich darum nicht kümmern brauchte, dachte er. So konnte er hier warten, bis sie ankämen. Er strich dem grauen Kater trostsuchend über den Kopf. Seine Finger verschwanden nahezu in den langen Haaren des Nackenfells.

Len blinzelte und leckte sich mit der Zunge die eigene Nase, während sein rechtes Ohr bei der Berührung zuckte. Das Tier war das einzige lebende Etwas, das ihn mit seinem Zuhause verband. Das, was einem Freund am nächsten kam.

Seine Familie hatte ihm viel Spaß gewünscht und gesagt, er lerne sicher viele nette Menschen kennen. Unter anderen Umständen hätte er sicherlich gerne mit seinen Mitfahrern über ihre Haustiere gesprochen, Zauberstäbe verglichen oder herumgealbert, doch heute war ihm nicht danach. Er hatte keinen Kopf dafür. Vielleicht später, wenn es seinem Bruder wieder gut ging – obwohl Jeremias bezweifelte, dass er jemals wieder in seinem Leben ernsthaft über solche Nichtigkeiten würde diskutieren können. Jetzt, wo er wusste, dass es so viel wichtigeres gab, kamen ihm die vielen kleinen Probleme seiner Mitschüler unendlich belangenlos vor.

Hinter sich hörte Jeremias, wie Schüler aus den Abteilen kamen. Er ließ von der Katze ab, um einen letzten Blick hinaus in die Schwärze der Nacht zu werfen. Spätestens jetzt war es vorbei mit der Abgeschiedenheit und er wollte seinen Mitmenschen keinen weiteren Grund geben, sich um ihn zu kümmern. Er wollte sie nicht anlügen, genauso wenig darüber reden. So ignorierte er den aufkommenden Tumult hinter sich so gut es ging, doch als er flüchtig die Spiegelung im Fenster betrachtete, störte ihn etwas. Er brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was es war, dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag: in knapp fünf Minuten musste er den Zug verlassen und er trug noch immer keine Schuluniform! Ganz anders als die Schüler, die in den Eingangsbereich getreten waren. Er dagegen steckte in seiner abgetragenen Hose und dem grauen Pullover.

Entsetzt, von fragenden Blicken verfolgt, stürmte er in Richtung seines Abteils. Hinter ihm maunzte Len erschrocken, ehe er ihm verdattert folgte. Schon als der Junge in den Gang einbiegen wollte, kamen ihm die nächsten drei Schüler entgegen, die ihm widerwillig unter genervten Gemurmel Platz machten. Im Vorbeirauschen verstand er etwas, das klang wie »Immer diese Anfänger". Von einem anderen schnappte er ein »Erstklässler« auf, das ähnlich missmutig klang und sich mit einem Lachen vermischte, während er sich durch den Strom aus Schülern kämpfte.

Endlich an den ersten drei Abteilen des Wagens vorbei, schob er die Tür auf, woraufhin er in zwei vollkommen fremde Gesichter schaute, die ebenso ratlos dreinsahen, wie er sich fühlte. »Entschuldigung«, nuschelte Jeremias, ehe er die Abteiltür hinter sich schloss.

Mit den Gedanken war er bereits auf dem Gang und wollte weiterstürmen, als sein Fuß sich in irgendetwas verfing. Schützend riss er die Arme hoch, verzweifelt versucht sich abzustützen oder zwischen den Wänden abzufangen, streifte unbeholfen die Wand, drehte sich im Fall und landete der Länge nach auf der Seite. Der dumpfe Aufschlag klang sanfter als der Sturz war – begleitet von einem hämischen Lachen sowie einem rüden: »Pass doch auf!« Der Schmerz in der Seite und in der Hand, mit der er sich abgefangen hatte, hallte nach. Hastig sah er über seine Schulter zurück. Die beiden Verursacher, die ihm wohl ein Bein gestellt hatten, konnte er nur jedoch noch von hinten sehen. Egal, er musste weiter!

Der Elfjährige rappelte sich auf, bevor er vorsichtig die Tür zum nächsten Abteil öffnete, dessen Insassen er nur zu gut kannte. Das zuvor angeregte Gespräch verstummte jäh, als die drei Schüler ihn im Eingang stehen sahen. Alle trugen ihre Umhänge. Auf dem Boden lagen vereinzelt Verpackungen von Süßigkeiten. Die Sitzpolster waren garniert mit Krümeln. Besonders Jeremias’ verwaister Sitzplatz hatte sich offenbar als Halde angeboten.

»Wir haben uns schon gefragt, wo du abgeblieben bist«, begrüßte ihn Edwana McBride trocken. Sie machte keinesfalls den Eindruck, als hätte sie ihn vermisst – aber auch nicht, als hätte sie in seiner Abwesenheit den größten Spaß ihres Lebens gehabt.

Ganz im Gegensatz zu Portia und Keaton, deren Lachen unbeholfen in ihrer Mimik hängen geblieben war. Sie sahen verlegen aus, als glaubten sie, sich für etwas entschuldigen zu müssen.

»Wir hätten aber deine Sachen mitgenommen, wenn sie nicht sowieso nach Hogwarts gebracht worden wären«, versicherte ihm das fröhliche Mädchen am Fenster glaubhaft.

Darum ging es Jeremias nicht. »Muss mich noch umziehen«, murmelte er, hastete zu seinem Koffer und zog diesen unter der Bank hervor. Da sich niemand rührte, fügte er an: »Ihr könnt ruhig schon los.« Schließlich hatten sie sich bloß kurz unterhalten. Er sah keinen Grund, weshalb sie sich dazu verpflichtet sehen sollten, auf ihn zu warten.

Portias Einwand hatte er kommen sehen. »Ach Quatsch, das ist doch doof, wenn wir dich hier alleine lassen.«

Dabei hatte er sie eben genau so allein hier sitzenlassen, um beinahe die gesamte Fahrt auf dem Flur zu verbringen. Aber gut, wegscheuchen wollte Jeremias sie auch nicht. Wenn sie darauf bestanden, dann sollten sie eben warten.

»Ein bisschen dauert es ja, bis wir da sind und die ganze Meute draußen ist«, erhielt er Zuspruch von unerwarteter Seite, wenn er auch wenig leidenschaftlich von McBride vorgetragen wurde.

Die beiden anderen sahen sie überrascht an. Sie verbargen ihren Unglauben ungleich weniger als Jeremias.

»Ja, was? Ich hab auch keine große Lust, mich durch die wilde Horde zu boxen!«, verteidigte sie ihre entspannte Haltung, während Jeremias den Deckel des Gepäckstücks aufriss, seine schwarze Robe herauszog und sie über den Kram auf seinem ehemaligen Platz schmiss.

»Oh ist die süß!«, ließ Portias verzückte Stimme den Jungen herumschnellen.

Fragend sah Jeremias sich zu ihr um, um zu sehen, was sie meinte.

So wie es aussah, hatte sie Len entdeckt, der unbeeindruckt in der offenen Abteiltür saß. Dabei war er schon allein wegen seiner Größe ziemlich auffällig, so dass es erstaunlich war, dass er so lange unbemerkt geblieben war.

»Das ist Len«, stellte er sein Haustier vor, ehe er, nachdem der Kater sich bequemt hatte hineinzutapsen, die Tür schloss und seinen grauen Pullover über den Kopf zog, unter dem ein braunes T-Shirt zu Tage trat.

»Okay, vielleicht sind Katzen doch kein Mädchenkram«, gab Keaton beeindruckt zu. »Ich mein, der sieht richtig krass aus!«

McBride schien für ihren Teil unschlüssig darüber, was sie von Len, der nun direkt vor ihr saß, zu halten hatte. »Sicher, dass das eine Katze ist?«

Wenig gnädig entgegnete ihre Sitznachbarin: »Na, ein Crup wird es wohl kaum sein!« Die beiden würden auf lange Sicht vermutlich keine besten Freundinnen zu werden. Auf der Fahrt hatte McBride es augenscheinlich geschafft, Portias zunächst unverwüstlich wirkendem Frohsinn einen Dämpfer zu verpassen.

»Was ist ein Crup?«, grätschte Keaton verwirrt dazwischen.

»So etwas wie ein Hund«, raunte Jeremias ihm zu. Die Beleidigung seines Katers, eine mögliche Verwechslung auch bloß anzudeuten, beschloss er, gekonnt zu ignorieren.

»Das meine ich nicht«, verteidigte sich das blonde Mädchen barsch. »Aber guck dir das Vieh doch mal an! Ich mein, ist das wenigstens ausgewachsen?«

Dabei fand Jeremias, dass der gutmütige Kater einen weit weniger kämpferischen Eindruck als die getigerte Felidera machte, die offenbar während der gesamten Fahrt vom Gepäckfach aus herrisch über das Abteil gewacht hatte. Ihr Blick war weit kampflustiger, während Len einzig durch seine Größe imponierte. Seit Portias entzücktem Aufschrei starrte er das Mädchen ohnehin mehr verschreckt statt souverän an und traute sich kaum sich zu rühren.

»Also ich finde ihn putzig«, beteuerte das Paket guter Laune liebevoll, woraufhin McBride fassungslos schnaubte.

»Sag das noch mal, wenn die dir mit ihrer Pranke eine runterhaut.«

»Er«, widersprach der junge Tiller, ohne sich zu McBride umzudrehen. Nicht, dass es wichtig wäre, welches Geschlecht die Waldkatze hatte, doch es klang einfach falsch, wenn sie von Len als Mädchen sprachen.

Betont laut seufzte seine Kontrahentin, so dass er zu hören glaubte, wie sie hinter ihm die Augen verdrehte. »Dann eben er«, brummte sie.

Schnell streifte der Erstklässler die Robe über T-Shirt und Hose. Die weiten Ärmel hätten sicherlich genügend Platz für den Pullover geboten, aber er wäre sich mit den vielen Schichten vorgekommen wie eine Zwiebel. Seine Turnschuhe waren, nachdem er den schwarzen Stoff geschlossen hatte, unter dem Saum nahezu unsichtbar. Er würde jedoch aufpassen müssen, dass er beim Laufen nicht auf den Stoff trat. Wenig liebevoll pfefferte der Junge das nun überflüssige, graue Kleidungsstück in den Koffer.

Vor dem Abteil setzten sich die Massen an Schülern, die zuvor im Gang gestanden hatten, in Bewegung. Das Öffnen der Türen schallte bis zu ihnen. Zumindest gerade, da kurzzeitige Stille herrschte, konnte man es deutlich vernehmen.

Hinter ihm sprang Portia ungeduldig von ihrem Sitz auf. »Ich kann es kaum erwarten, zu erfahren, in welchem Haus ich bin!« So viel zu der Stille.

»Ich bin mir unsicher«, erwiderte Keaton verlegen. »Das ist alles so viel. So wirklich begriffen hab ich das alles, glaube ich, noch nicht. Ich weiß gar nicht, in welches Haus ich will.«

»Ach, Hauptsache nicht nach Slytherin«, winkte das gutgelaunte Mädchen gelassen ab, während sie sich eine lockige Strähne aus dem Gesicht wischte, die sich bei ihrem Versuch des Aufbruchs hinter dem Ohr hervorgestohlen hatte.

Jeremias klopfte sich derzeit flüchtig die Krümel von dem Umhang, die auf dem schwarzen Stoff selbst in der schummerigen Wagenbeleuchtung besonders gut zur Geltung kamen. Die Häuserverteilung war noch so etwas auf der Liste der Dinge, für die ihm schlichtweg die Begeisterung fehlte.

McBride ignorierte den Einwand bezüglich der Häuser ebenfalls, spielte mit dem blonden Flechtwerk, das ihr über die Schulter fiel und fragte stattdessen: »Sag mal, bist du seit der Anfertigung des Umhangs geschrumpft oder hast du beim Kauf nicht aufgepasst?«

»Ich wachs’ ja noch«, fauchte Jeremias sie ungehalten an. Ihre Kommentare gingen ihm allmählich auf die Nerven. Vor allem, da sie in dieselbe Kerbe schlug wie seine Eltern, die ihn ebenfalls dazu hatten bewegen wollen, sich wenigstens einen passenden Umhang anfertigen zu lassen.

McBrides Mundwinkel zuckten unheilvoll. »Sicher?«

»Ja, ich bin mir sicher!«, platzte es wütend aus Jeremias heraus, was ihm augenblicklich leid tat. Er hatte sich gar nicht auf so einen Kinderkram einlassen wollen.

Len, der sich, ohne den Blick von der Runde zu lassen, die rechte Vorderpfote putzte, erstarrte bei der lauten Erwiderung.

Auch die anderen beiden Passagiere, samt Keatons Eule und der beiden Katzen, sahen ihn erschrocken an. Sogar Schecki lugte mit weit aufgerissenen Augen todesmutig über den Rand des Gepäckfachs hinweg.

»Schon gut«, beschwichtigte ihn McBride, wobei sie ihn durch ihren überheblichen Unterton spüren ließ, dass sie seine Reaktion für übertrieben hielt. »Die kann man dann zwar neu kaufen, aber ich hab ja nur gefragt.«

Wie gut, dass sie keinen großen Wert darauf legte, das Thema weiter zu verfolgen, dachte sich der Junge. »Meint ihr nicht, wir sollten langsam los?«, fragte er betont ruhig in die Runde, die plötzlich von einem höchst unangenehmen Schweigen anheimgesucht worden war.

Seine Mitfahrer starrten ihn an, als würde er gleich in Tränen ausbrechen oder womöglich in einem Tobsuchtsanfall das Abteil zerlegen. Portia fragte sich sicherlich, so reumütig wie sie schaute, ob sie etwas falsch gemacht hatte. Ein Gedanke, den sie scheinbar mit Keaton teilte.

Leider konnte Jeremias ihnen nicht einmal verübeln, dass ihnen die Situation unangenehm war.

McBride hielt ihn dagegen entweder für einen Spinner oder aber für einen Idioten. Trotzdem nickte sie. »Ja, wir sollten«, gab sie ihm Recht und öffnete die Tür zu ihrer Linken.

Während ihre Sitznachbarin es tunlichst vermied, zu ihm zu schauen, sah Keaton immer wieder verstohlen über seine Schulter zurück zu Jeremias, der als Letzter auf den Flur trat.

»Erstklässler zu mir!«, hörte Jeremias eine durchdringende, tiefe Stimme, noch bevor sie den Zug verlassen hatten. »Sin’ alle da? Erstklässler!« Die Rufe, die zwar laut waren, in ihrer Art und Weise dennoch mehr wie eine beiläufige Bemerkung klangen, kamen von draußen. Sie wurden magisch verstärkt, da war er sicher. Ansonsten hätte sie niemals das geschäftige Treiben der Schülermassen am Bahnsteig übertönt.

Nachdem er am Schluss in die kalte Nacht hinausgetreten war, musste Jeremias allerdings mehr als nur diesen einen Irrtum verdauen. Zwar war er sich immer unsicher, ob nicht doch Magie im Spiel war, aber viel schlimmer war, dass sein Bruder offenbar gar nicht gelogen hatte.

Über das Meer aus Umhängen, das in dem spärlichen Licht der wenigen Gaslaternen, das den Bahnsteig zu erhellen versuchte, zu einer schwarzen Masse verschmolz, erhob sich ein Mann, der sicherlich doppelt so groß sowie dreimal so breit wie die ältesten Schüler war. Er hatte zottiges, schwarzes, vielleicht auch dunkelbraunes Haar und die Finsternis der Nacht legte ihm tiefe Schatten in sein Gesicht, das mit dem dichten, langen Bart, der ihm bis zur Brust ging, beängstigend wild aussah. Ein Riese, musste sich Jeremias, zur Salzsäule erstarrt, eingestehen. In Hogwarts gab es Riesen.

Bei dem Gedanken, was von Nicolas’ Schauergeschichten womöglich noch so alles stimmte, lief es ihm eiskalt den Rücken runter. Würde man sie Duelle austragen lassen, um herauszufinden, welchem Haus sie würdig waren? Je nachdem, in wie vielen Stücken sie aus den Duellen hervorgingen? Oder würde man sie für die Häuserverteilung wahrhaftig in den verbotenen Wald schicken, in dem Werwölfe und Todesfeen hausten?

Der Riese, der sie zu sich rief, hatte für den Trip genau die richtige Kleidung an. Ein brauner, schwerer Mantel, von dem der Junge nicht sicher sagen konnte, ob er aus Fellflicken bestand, oder ob es tote Tiere waren, die aus den Taschen hingen. Er trug außerdem in einer Hand eine Laterne, die nur ein wenig kleiner war als ein handelsüblicher Zauberkessel, und leuchtete damit über die Menge hinweg. Seine dunklen Augen ließ er über die Menge schweifen, während er abermals rief: »Erstklässler!«

»Na komm schon«, rief Keaton, der todesmutig in Richtung des Riesen gegangen war, ehe er auf halben Weg zum Schülermeer stehenblieb. Er lächelte Jeremias zuversichtlich zu und zusammen liefen sie zu der Traube Schüler, die sich um den Hünen gescharrt hatte.

Im Nachhinein verwarf der Elfjährige den Gedanken, dass irgendeine Gefahr von dem Mann ausging. Seine Eltern hätten ihn gewarnt, wenn irgendetwas Gefährliches auf ihn zugekommen wäre. Außerdem hieß es, dass Riesen mindestens sechs Meter, oftmals sogar noch größer, waren und intellektuell eher auf dem Niveau knapp oberhalb eines Gnoms rangierten, während sie sich die Geselligkeit von tollwütigen Drachen zueigen gemacht hatten. Jedenfalls wenn man den Erzählungen seiner Tante Glauben schenkte. Keinem dieser Merkmale entsprach der Rufende, der bei näherer Betrachtung zu lächeln schien und offenbar in der Lage war, simple Sätze zu bilden. Somit besaß er locker ein Vielfaches der Intelligenz eines Gnoms. So richtig konnte man das Lächeln wegen des Bartes nicht sehen, aber die Falten um die Augen erweckten einen freundlichen Eindruck. Es war also wahrscheinlich ein ganz normaler, sehr großer, kräftiger Mensch. Vielleicht war er als Kind in irgendeinen Kessel mit Zaubertrank gefallen.

»Na, dann sind wir ja endlich vollständig«, stellte der Scheinriese fröhlich fest, woran auch immer er das erkannt hatte. Er schwenkte die Laterne über sie, ehe er sich umwandte. »Folgt mir! Aber bleibt dicht zusamm’n und passt auf, wo ihr hintretet.«

Die Erstklässler folgten ihm dicht aneinandergedrängt mit etwas Sicherheitsabstand.

Jeremias war offenbar nicht der Einzige, der seine Vorbehalte hegte. Als sie sich aus der Gruppe der restlichen Schüler lösten, schaute er sich noch einmal um. Die Älteren bestiegen Kutschen, die längsseits des Bahnsteiges warteten, während sie weiter an den Gleisen entlangliefen. Genau in Richtung der Bäume. War das der verbotene Wald? In der Schwärze der Nacht war nicht einmal auszumachen, um was für Bäume es sich handelte. Sie waren groß und die Wipfel hoben sich vor dem Nachthimmel spitz, irgendwie tannenartig ab.

Wie vom Donner gerührt fuhr Jeremias herum. Die Kutschen, mit welchen die Übrigen fuhren, waren führerlos. Schnell sah er wieder nach vorn. Er durfte den Anschluss nicht verlieren, erst recht nicht, weil sie gerade eben den gepflasterten Bahnsteig verließen. Der rutschige, nachgiebige Waldboden fiel steil nach unten ab, während die Lampe des vermeintlichen Riesen das einzige Licht war, das ihnen blieb.

Da dieser die Laterne vor sich hielt, verschluckte seine massige Gestalt einen Großteil des Scheins und ließ die Schüler, die unbeholfen hinter ihm herstolperten, in einer trügerischen Dämmerung zurück.

Einige hielten tastend die Hände vor sich, um sich abzufangen, falls sie stürzten und um das Gleichgewicht auf dem abschüssigen, rutschigen Pfad zu halten. Mehr als einmal hörte Jeremias, der mit McBride sowie einem weiteren Mädchen den Schluss bildete, einen erschrockenen Aufschrei von weiter vorn, gefolgt von dem Geräusch von jemandem, der auf den matschigen Boden fiel.

Staunen, oder vielmehr Unsicherheit und höchste Konzentration, sorgte dafür, dass keinerlei Gespräch zwischen ihnen zustande kam. Viel zu sehr waren sie darauf bedacht, bloß nicht auf die Nase zu fallen oder gegen einen der Bäume zu laufen, die in den Biegungen manchmal gerade mal eine Handbreit entfernt in der Dunkelheit auftauchten.

»He!«, schallte eine verärgerte Kinderstimme von vorn bis nach hinten, während der Zug zögerlich zum Stehen kam. Hinten war schwer zu erkennen, was dort geschah. Die Gruppe von Schülern war, je weiter sie in den Wald gegangen waren, dicht zusammengerückt.

»Man, jetzt sind meine Füße nass«, jammerte ein Junge wenige Meter von ihm entfernt.

Erst jetzt bemerkte Jeremias, dass zwar das Rascheln der Äste um sie herum zu hören war, aber auch ein leises Plätschern. Es schienen die einzigen Geräusche dieser Nacht, weshalb jedes Räuspern der Kinder, jeder Schritt, so klar zu hören war, als ertöne es direkt neben ihm.

Umso lauter war die Stimme des Riesen, sobald dieser abermals das Wort ergriff. »Die Boote bring’n euch ’rüber zum Schloss. Passt auf beim Einsteigen und nich’ mehr als vier Schüler in ’n Boot!«, erklärte ihr Waldführer. »Und passt auf, dass’er nich’ zu viel schaukelt. Das Wasser is’ kalt und da lebt mehr drin, als ihr euch vielleicht vorstellen könnt. Aber eigentlich is’er ganz lieb.«

Boote? Und wer war lieb? Jeremias versuchte, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, doch auch so erhaschte er keinen Blick über die Köpfe der anderen hinweg. Wie er versuchten auch die anderen, ihre Hälse zu recken, um mehr zu sehen, dadurch hatte er keine Chance. Immerhin wusste er, dass sie auf dem Wasserweg nach Hogwarts gelangen würden. Die Information reichte voll und ganz. Den Rest, versuchte er seine Neugier zu befrieden, würde er gleich so oder so zu sehen bekommen. Ob er wollte oder nicht.

Zögerlich rückten die Schüler weiter auf. Rechts von sich sah Jeremias, wie Portia und Keaton zusammen mit zwei fremden Kindern weiter nach vorne liefen. Kaum, dass sie eingestiegen waren, konnte der Junge das kleine Ruderboot erkennen, das dort auf dem Wasser schwamm. Vorn am Bug war eine kleine Laterne befestigt. Auf der schwarzen Oberfläche spiegelte sich der flackernde Schein und nachdem vier weitere Schüler ihr Gefährt bestiegen hatten, konnte er in der Ferne weitere Lichter erkennen. Lichter, die über den See schwebten. Und Lichter, welche die Umrisse einer Burg ausfüllten, die sich schemenhaft vor dem nächtlichen Horizont abhob.

In der Ferne, auf einem Felsen, augenscheinlich mitten in dem See, lag sie also: Hogwarts, die Schule für Hexerei und Zauberei. Der Anblick des entfernten und doch so riesig wirkenden Schlosses zog den Jungen für einige Sekunden in seinen Bann, der durch McBride gebrochen wurde.

»Jetzt komm schon.« Ungnädig zog sie ihn an der Schulter mit sich zu einem der Boote. »Wir sind die Letzten.«

Gemeinsam mit zwei weiteren Mädchen würde er also gemeinsam die Überfahrt wagen müssen. Das erste Mädchen mit dunklen Haaren, mehr konnte Jeremias nicht erkennen, kletterte behände in die Nussschale, in der sie ganz nach vorne zum Bug des Schiffes kletterte, woraufhin McBride folgte. Auch, wenn er schnell nach Hogwarts wollte, ließ er der dritten Mitfahrerin im Bunde den Vortritt, die schüchtern den Blick senkte, bevor sie ängstlich zum Boot tapste. Sie war kaum größer als Jeremias und dazu scheinbar ebenso redefreudig.

Das Mädchen, das als erstes in das Gefährt geklettert war, kam zurück zum Heck und reichte der schweigsamen Erstklässlerin die Hand, so dass kurz darauf auch Jeremias ohne zu zögern auf einen der beiden hinteren Plätze neben der Schüchternen Platz nehmen konnte und das Boot sich wie von selbst in Bewegung setzte. Sanft, ohne viel zu schwanken, glitt es nahezu geräuschlos durch das Wasser.

Jeremias vernahm, wie das Mädchen neben ihm hörbar nach Atem schnappte und sah, wie sich ihre Hände in das Sitzbrett krallten.

»Man sollte doch meinen, dass es die Leute nicht wundert, wenn sie in eine Zauberschule gehen, dass ihnen dabei Magie begegnet«, murmelte McBride kopfschüttelnd.

Alle im Boot, wenn sie vier untereinander auch kaum ein Wort gewechselt hatten, wussten genau, wem diese Worte galten. Während Jeremias ihnen keine Beachtung schenkte, schnaufte die zweite Schülerin mit den dunklen Haaren, die mit McBride vorn am Bug saß.

Eine Äußerung, auf die McBride natürlich reagierte. So gut kannte der Junge sie inzwischen. »Eher sollte es wundern, dass wir mit einem ganz normalen Zug anreisen.«

»Von einem magischen Gleis, das auf einem der größten Bahnhöfe in England durch Zauberei versteckt gehalten wird«, entgegnete ihre Sitznachbarin kühl. Man konnte es als Verteidigung derjenigen auffassen, wer auch immer sich diesen Anreiseweg ausgedacht hatte.

Jeremias jedenfalls pflichtete dem Mädchen im Stillen bei. Mangelnde Kreativität war den Planern nicht vorzuwerfen. Zu wenig Magie ebenso wenig.

Im Angesicht des Konters verschränkte McBride die Arme und ihre Augen funkelten angriffslustig. Das war sogar in dem schlechten Licht zu erkennen. »Jedenfalls war sogar die Zugfahrt spannender als diese Tretbootfahrt hier. Ich verstehe absolut nicht, dass sich Leute davon beeindrucken lassen.«

»Dann hör doch wenigstens auf, uns mit deiner miesen Laune zu nerven«, brummte ihre Sitznachbarin kopfschüttelnd. »Wir anderen wollen einfach nur unseren ersten Tag genießen und freuen uns, hier zu sein. Also, wenn es dir nichts ausmacht, halt einfach deine Klappe.«

Ungläubig wie gereizt stieß McBride scharf die Luft aus. »Und da blaffst du mich an? Der Zwerg sieht mindestens so schlecht gelaunt aus wie ich.« Dabei deutete sie auf Jeremias, der sie mit einem höchst ungnädigen Blick strafte, der leider ihre Aussage sehr eindrucksvoll unterstrich. Den Spitznamen hatte er bei ihr weg, wenn er nicht aktiv etwas dagegen unternahm.

Das Mädchen neben ihr hingegen entgegnete ungerührt: »Der hält wenigstens dabei den Mund und motzt nicht in einer Tour rum!«

»Ich versuche, in dieser ach so andächtigen Stille, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber ihr könnt gern schweigend weiter die Nacht anhimmeln«, ätzte McBride zurück.

Neben Jeremias starrte das dritte, stille Mädchen die beiden angstvoll an. Womöglich befürchtete sie eine Eskalation der Streitigkeit, was im Angesicht der zu vermutenden Wassertemperaturen ungemütlich werden würde.

Auf dem Gesicht des kampflustigen Mädchens, wie auch immer es hieß, bildete sich ein liebliches Lächeln. »Wenn du schwimmen gehen willst, brauchst du das nur zu sagen.«

»Wo-Wollen wir ... also«, stammelte das zuvor so stille Mädchen neben Jeremias unbeholfen, ehe sie dann doch wieder in verlegenes Schweigen verfiel, woraufhin die beiden streitenden Mädchen in entgegengesetzte Richtungen auf den See schauten.

Erleichtert, dass endlich Funkstille herrschte, lenkte Jeremias seinen Blick ausgiebig dem umliegenden Gewässer zu, auch wenn er außer den anderen Booten vor ihnen nicht viel sah. Beim genauen Hinsehen jedoch spiegelte sich der Sternenhimmel auf der nachtschwarzen Oberfläche, die sich lediglich geringfügig durch das Fahrwasser der Schiffchen kräuselte und die Sterne in Aufruh versetzte. Es sah aus, als schwebten die Boote nicht über einen irdischen See, sondern durch den Himmel. Ein Anblick, der es bewerkstelligte, dass in den Jungen für einige Augenblicke Ruhe und so etwas wie Zufriedenheit einkehrte. Solange, bis er bemerkte, dass sie fast am Schloss angekommen waren, in dem niemand auf ihn wartete, sondern in das er ganz allein gehen würde, mit all den Fremden, und sein Blick, den er gen Boden senkte, sich erneut verdüsterte.

Er sah erst auf, als die Nacht um sie noch schwärzer wurde. Mit einem Mal hallte das Plätschern des Wassers merkwürdig wider. Sie hatten den Schatten des mächtigen Felsens erreicht und fuhren durch einen Vorhang aus Efeu. Auch, wenn das Gewächs nicht ganz bis hinab zu den Booten reichte, duckten sich nicht wenige der Schüler. Er dagegen beobachtete das Spektakel. Sie waren in eine Art Grotte gefahren. Einige Meter weiter erhellten Fackeln die Wände rechts und links des Wasserweges und sie konnten in der Ferne einen Steg erkennen.

Sie waren da. Sie waren in Hogwarts.


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