7.06 - Erwarte das Unerwartete von Nadia, red-eyes

7.06 - Erwarte das Unerwartete von Nadia, red-eyes

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Als der Radiowecker ansprang, war Pacey noch im Tiefschlaf. Ganz leise hörte er die Musik. Er wurde langsam wach und erkannte „Love Is All Around“ von Wet Wet Wet. Bis er einigermaßen wach war und zumindest schon einmal seine Augen ein wenig öffnete, waren einige Minuten vergangen. Er hatte überhaupt keine Lust aufzustehen.

Pacey streckte seine Hand aus, doch es lag niemand neben ihm. Er hasste es, alleine aufzuwachen. Wie gerne hätte er jetzt Joey neben sich im Bett liegen gehabt, hätte ihr einfach nur beim Schlafen zugesehen. Aber leider war sie nicht in Capeside.

Etliche Minuten später stand Pacey auf, zog sich aus und ging noch schlaftrunken ins Bad. Er betrat die Dusche und drehte das Wasser auf. Erst als das kalte Wasser aus der Brause kam wurde er richtig wach. Er schüttelte sich, regulierte jetzt die Wassertemperatur und duschte sich.

Etwa fünfzehn Minuten später verließ Pacey die Dusche und trocknete sich ab. Er rubbelte sich die Haare trocken. Danach putzte er sich die Zähne und rasierte sich. Er verließ das Bad und zog sich an. Anschließend holte er sich die Tageszeitung rein. Während er ausgiebig frühstückte, blätterte er in der Zeitung. Es gab keine großen Neuigkeiten, aber was sollte in Capeside auch schon groß passieren?

Auf der Immobilienseite verweilte er am längsten. Er las sich alle Anzeigen durch, weil er für Joey und sich ein Haus mieten wollte. Er hätte ja lieber ein Haus gekauft, aber seine letzten Dollars hatte er in sein Restaurant gesteckt. Zudem hatte er noch bei der Bank einen Kredit aufnehmen müssen. Also kam leider nur ein Mietshaus in Frage. Die meisten Inserate überflog er nur schnell. Entweder waren die Mieten für ihn astronomisch hoch oder die Immobilien waren zu weit außerhalb von Capeside. Vier Anzeigen markierte Pacey sich trotzdem. Er rief die angegebene Telefonnummer an und vereinbarte für den Nachmittag Termine mit den Hausbesitzern. Er wollte sich die Häuser mal ansehen.

Als er mit dem Frühstück fertig war, stellte er das Geschirr in die Geschirrspülmaschine. Er griff nach der Zeitung, verließ die Wohnung und machte sich auf den Weg zum Icehouse.

~*~

Das rasselnde Geräusch ihres Weckers riss sie unsanft aus einem traumlosen Schlaf. Ohne die Augen zu öffnen griff sie nach dem lärmenden Gerät, schaltete es aus und stellte den Wecker zurück auf das Nachttischchen neben ihrem Bett. Nur noch fünf Minuten, dachte sie sich und kuschelte sich wieder gemütlich zurück ins Kissen. Obgleich sie sich selbst noch fünf Minuten gönnte, sprach sie sich in Gedanken immer wieder vor: 'Jetzt nur nicht wieder einschlafen. Nur nicht einschlafen, Joey'. Irgendwann bekam sie Angst, dass eben genau dies doch eintreffen würde und so setzte sie sich im Bett auf, reckte und streckte sich. Dann hievte sie sich mit einem herzhaften Gähnen aus dem warmen Bett.

Routiniert griff sie in einzelne Schubladen ihrer Kommode, schaltete nun endlich das Licht im Schlafzimmer ein und suchte sich etwas aus dem Schrank, das sie heute zur Arbeit würde tragen können. Mit samt ihren frischen Kleidern ging sie anschließend ins Badezimmer, schaltete den kleinen Heizstrahler auf die maximale Stufe und ging auf die Toilette. Sie hatte erwartet ihre Periode über Nacht zu bekommen, doch dies war nicht der Fall. Grüblerisch betätigte sie die Spülung, zog sich gänzlich aus und stieg unter die Dusche.

Schon beinahe sehnsüchtig drehte sie das Wasser auf und stellte sich unter den wohltuenden Strahl, der weder zu kalt noch zu heiß war. Wieder schloss sie die noch müden Augen.

Es war gestern wieder mal später geworden, als es gut für sie war. Sie brauchte mindestens sieben Stunden Schlaf, um den Tag zu überstehen, doch sie hatte lange nicht einschlafen können, wodurch sich die Zeit ihres tatsächlich gefundenen Schlafes auf gerade Mal fünfeinhalb Stunden belief.

Neuerlich gähnte sie ausgelassen und griff nach der Shampooflasche. Der vertraute und wohltuende Duft von Vanille stieg ihr entgegen und sie nahm einen tiefen Atemzug davon, bevor sie begann das Shampoo ins Haar zu massieren.

Ohne, dass sie es beabsichtigt hatte, schlich sich plötzlich ein Gedanke in ihren Sinn. Nämlich die Frage nach ihrer letzten Periode. Sie rechnete vom ersten Tag ihrer letzten Periode achtundzwanzig Tage weiter. Demnach war sie vor drei Tagen fällig gewesen.
Natürlich konnte der Stress der letzten Wochen mit Schuld daran sein, dass sie ein wenig über die Zeit war. Doch was, wenn dies nicht zutraf?

Sie spülte das Shampoo wieder runter und wusch sich in aller Eile. Währenddessen rechnete sie wieder und wieder die Tage durch. Doch jedes Mal kam dieselbe Zahl dabei heraus. Sie war definitiv über die Zeit.

Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet Joey, dass sie gut in der Zeit war. Wie jeden Morgen fönte sie das lange Haar, legte etwas von dem Parfüm auf, das sie von Pacey zu ihrem Geburtstag bekommen hatte, zog sich vollständig an und schminkte sich letztlich ein wenig. Da draußen immer ein grässlicher Wind ging, entschied sie sich dazu, das Haar hochzustecken. Und so, fertig und zufrieden mit ihrem Äußeren, verließ sie nach einiger Zeit das Badezimmer.

Im Wohnzimmer sammelte sie alle Unterlagen zusammen, die sie gestern von der Arbeit mit nach Hause gebracht hatte, um sie fertig zu machen und stapelte alles auf der Kommode im Eingangsbereich, damit sie sie nachher nicht vergessen würde.

Noch einmal sah sie auf die Uhr. Sie hatte noch genug Zeit, einen Anruf zu tätigen, bevor sie sich auf den Weg machen musste. Einen Kaffee und etwas zu Essen würde sie sich wie immer unterwegs holen. In New York gab es mehr als genug Bäckereien und Cafés.

Joey suchte die Nummer aus ihrem Adressbuch, tippte sie ins Telefon ein und wartete – selbst für ihre Verhältnisse – zu angespannt darauf, dass jemand den Hörer abnahm. Endlich, nach dem fünften Klingeln wurde das Gespräch angenommen und eine freundliche Frauenstimme meldete sich wie gewohnt: "Praxis Dr. Fraser. Guten Morgen."

„Guten Morgen“, grüßte Joey zurück. "Mein Name ist Josephine Potter. Ich bräuchte noch für heute einen Termin, wenn es geht."

„Ich habe nur noch um 12:15 Uhr etwas frei“, sagte die Sprechstundenhilfe.

„Gut, das passt mir. Da habe ich Mittagspause.“

„Dann trage ich Sie ein. Bis heute Mittag dann.“

„Ja, danke.“ Damit legte Joey auch schon wieder auf. Tief durchatmend starrte sie noch einen Moment auf das Telefon, bevor sie sich Handtasche und Schlüssel nahm, von der Kommode die Unterlagen schnappte und sich auf den Weg ins Büro machte.

~*~

Jack hatte gerade das Lehrerzimmer verlassen und ging durch den Schulflur zu seiner Klasse. Bei ihm stand jetzt eine Doppelstunde Literatur auf dem Plan. Wenn er durch die Flure der Schule ging, musste Jack oft an seine eigene Schulzeit zurückdenken. Das war jetzt schon einige Jahre her, aber es hatte sich kaum etwas verändert. Das Gebäude war immer noch das gleiche. Es gab nur bei den Lehrern einige neue Gesichter. Dafür hatten andere Capeside verlassen oder waren in den Ruhestand gegangen.

Jack betrat das Klassenzimmer und die Schüler setzten sich alle langsam hin. Hier und da unterhielten sich noch einige von ihnen miteinander. Jack legte seine Tasche auf den Lehrerpult und setzte sich hin. Jetzt verstummten die Gespräche.

„In unserer heutigen Unterrichtsstunde beginnen wir, die Werke von J.R.R. Tolkien durchzugehen“, begann er. „Spätestens seit der Verfilmung von der Trilogie ,Der Herr der Ringe‘ kennen fast alle Tolkien. Doch die Filme interessieren uns nicht. Wir befassen uns hier mit Literatur und nicht mit Film. Also vergesst Spielberg, Lucas, Jackson, Leery und Co.“

„Kennst du Leery?“, hörte er die Schüler sich zuflüstern.

Jack musste lächeln. „Vergesst es. Jeder, der einen oder mehrere Teile gesehen hat, hebt bitte die Hand.“

Von seinen einundzwanzig Schülern hoben neunzehn die Hand.

„Und jetzt jeder, der die Bücher oder wenigstens eins der Bücher gelesen hat.“

Diesmal hoben nur sechs Schüler die Hand.

„Wir leben echt im digitalem Zeitalter. Printmedien sind wohl nicht mehr gefragt.“ Jack schüttelte den Kopf. „Also, wer weiß etwas über Tolkien oder kennt andere seiner Werke?“

Er sah sich um. Ein dunkelhaariger Junge mit Brille aus der zweiten Reihe hob etwas schüchtern die Hand.

„Clark.“ Jack nickte ihm zu.

„Der Hobbit“, warf Clark in den Raum.

„Das ist richtig. Wisst ihr sonst noch etwas über ihm?“

Wieder sah sich Jack in seiner Klasse um, doch niemand meldete sich.

„Wofür steht denn J.R.R.?“

„Für Jack?“, rief einer in die Klasse.

Jack blickte ihn an. Der Schüler war dunkelhaarig, hatte eine etwas muskulöse Erscheinung und erinnerte ihn ein wenig an Pacey.

„Nicht ganz, Matt“, widersprach Jack. „Sonst niemand?“

Es meldete sich keiner.

„Dann fangen wir mal von vorne an. J.R.R. steht für John Ronald Reuel. Tolkien wurde 1892 in Bloemfontein, Südafrika geboren. Er erschuf die Imaginäre Welt ,Mittel-Erde‘ und schrieb einige Werke unter anderem ,Der Hobbit‘, ,Der Herr der Ringe‘ und ,Das Silmarillion‘. Tolkien verstarb 1973 im Alter von 81 Jahren.“

Jack erzählte jetzt ausführlicher über den Schriftsteller und seine Werke. Manchmal wurde er durch Fragen seiner Schüler unterbrochen.

Zum Ende der Unterrichtsstunde gab er noch Hausaufgaben auf. Die Schüler mussten bis zum nächsten Montag ein mindestens fünfseitiges Referat über Tolkien schreiben. Natürlich kam ein leises Murren aus den hinteren Reihen, doch damit hatte Jack gerechnet. Welcher Schüler machte schon gerne Hausaufgaben. Das waren nur wenige. Er sah auf seine Uhr und da ertönte auch schon die Schulklingel und die Schüler stürmten nach draußen. Er packte seine Sachen in die Tasche, stand auf und verließ das Klassenzimmer.

~*~

Zur selben Zeit im Strandhaus kam Doug aus der Küche, stellte den Klappkorb und den leeren Getränkekasten neben der Couch ab und ging neben Amy in die Knie, die inmitten des Wohnzimmers auf einer Decke auf dem Boden saß und spielte.

Liebevoll streichelte er dem Mädchen über das blonde Haar. „So meine süße Maus, dann wollen wir dich auch mal fertigmachen und anziehen. Wir werden einkaufen gehen.“

Amy sah ihn nur aus großen Augen an, als wolle sie fragen 'Jetzt, wo ich gerade so schön spiele?' und hielt ihm einen kleinen Teddy entgegen.

„Ich spiele nachher mit dir, Schatz. Ich kann kein Abendessen kochen, wenn wir jetzt nicht einkaufen fahren“, erklärte er, obgleich er bezweifelte, dass Amy ihn wirklich verstand. Sie sah jedenfalls nicht begeistert aus.

Nichtsdestotrotz stand sie auf, als Doug ihr die rechte Hand hinhielt. Inzwischen ging sie schon sehr sicher an der Hand. Zumindest solange sie keine Schuhe trug. Sobald man ihr Schuhe anzog, blieb sie für gewöhnlich wie angewurzelt stehen.

Die Treppen ins obere Stockwerk trug Doug sie allerdings. Da brauchte sie noch viel zu lange. Und er wollte möglichst bald einkaufen gehen, bevor die Berufstätigen in ihren Mittagspausen meinten, die Läden stürmen zu müssen. Er würde dann kein gutes Brot mehr bekommen. Das passierte Jack ständig, wenn er mit einkaufen dran war.

Jack ... Sehnsüchtig dachte Doug an ihn. Die Tage auf Jamaika hatten ihnen beiden wirklich gutgetan. Sie hatten die Tage meist in der Sonne am Strand unter Palmen verbracht, waren viel schwimmen gegangen und nachts hatten sie sich von Club zu Club bewegt, die es an der Promenade mehr als genug gab. Er hatte den Eindruck gewonnen, dass Jack sehr ausgelassen war. Doch kaum, dass sie aus dem Flieger gestiegen und zurück nach Capeside gefahren waren, sprach Jack das Thema Jen an und sie waren noch am selben Tag, trotz der Erschöpfung zum Friedhof gefahren.

Es schien fast so, als habe Jack die Abwechslung - oder sollte er sagen Ablenkung? - sehr genossen, jedoch danach sofort ein schlechtes Gewissen bekommen, obgleich dies aus Dougs Sicht vollkommen unnötig war. Jen hätte sicherlich nicht gewollt, dass Jack sein Leben nicht mehr genießen würde. Doch was sollte er tun? Was konnte er tun? Immer versuchte er Jack abzulenken, viel mit ihm zu unternehmen – sofern ihrer beiden Arbeit dies zuließ – und ihm zu zeigen, dass das Leben durchaus noch lebenswert war. Er war bald an dem Punkt angekommen, wo er nicht mehr wusste, was er tun sollte. Jacks Trauer schien so unermesslich groß, dass Doug zuweilen glaubte, er würde nie über den Tod Jens hinwegkommen.

Seufzend sah er ihrer gemeinsamen Tochter an und bemühte sich zu lächeln.

„Kaufen ...“, sagte Amy, öffnete und schloss die kleine Hand dabei und schien endlich Freude an der bevorstehenden Einkaufstour zu entwickeln.

„Ja, gleich gehen wir. Ich mache dir noch eine frische Windel hin. Und wir müssen dich warm anziehen. Es ist wieder kälter geworden.“

„Kaufen ...“, wiederholte sie.

Doug grinste, wusste er doch, dass sie sich darauf freute etwas Süßes oder etwas Neues zum Spielen zu bekommen. Er wusste, dass es nicht gut war, sie so zu verwöhnen, aber meist konnte er nicht widerstehen. Zu sehr gefiel es ihm, wenn sie ihn anstrahlte, als wollte sie ihm danke sagen, wenn sie etwas von ihm bekam. Es hatte sich schon regelrecht zu einem Ritual entwickelt.

Zu einem Ritual, das Jack ganz und gar nicht gefiel. Er war der Ansicht, dass Amy in dieser Sache zu sehr verwöhnt wurde und, dass dies eines Tages noch Folgen nach sich ziehen würde. Sie weinte ja jetzt schon fast jedes Mal, wenn Jack mit ihr einkaufen ging und ihr nichts kaufte. Und daher passte es Jack verständlicherweise nicht, dass er aufgrund von Dougs Verhalten praktisch der böse Daddy war.

„Vielleicht“, sagte Doug daher zu Amy. „Weißt du, Daddy mag es nicht, wenn ich dir immer was kaufe.“

„Kaufen ...“

Doug lächelte. Wie sollte er dem Blick dieses süßen Mädchens widerstehen können? Er sagte nichts weiter, setzte Amy auf dem Wickeltisch ab, für den sie schon allmählich zu groß wurde, legte sie hin und begann damit sie frisch zu machen.

~*~

Im Supermarkt etwas später packte Doug gerade den Einkaufswagen voll. Er schob den Wagen durch die Gänge und nahm einige Lebensmittel aus den Regalen. Manche landeten im Wagen, viele stellte er zurück in die Regale. Nachdem der Einkaufswagen mit Brot, Wurst, Käse, Erdnussbutter, Müsli, Milch und noch einigen anderen wichtigen und weniger wichtigen Nahrungsmittel gefüllt war, begab er sich zur Kasse.

Auf dem Weg dorthin kam er noch an den Regalen mit den Backwaren vorbei. Er hielt an und nahm zwei Kuchen aus dem Regal. Ein Schokoladenkuchen und ein Käsekuchen. Er überlegte ein wenig und legte dann den Käsekuchen zurück. Der Schokoladenkuchen landete im Wagen. Dann schob er den Einkaufswagen weiter zur Kasse.

~*~

Vor dem Haus von Jack und Doug hielt gerade ein Taxi an. Die Tür öffnete sich und eine junge Frau stieg aus. Es war Dougs und Paceys Schwester Gretchen.

Sie bezahlte den Taxifahrer, nahm zwei Taschen und ging zum Strandhaus. Dabei musste sie an die Hütte denken, in der sie zusammen mit Pacey für einige Monate gelebt hatte. Sie war kleiner gewesen, aber trotzdem erinnerte sie sich gerne an die Zeit zurück.

Vor der Eingangstür stellte sie ihr Gepäck ab und klingelte. Als sich nichts rührte, klingelte sie erneut. Doch noch immer blieb es still im Strandhaus. Sie drehte sich um und blickte über das Wasser. Die Aussicht war einfach schön. Hier konnte man es gut aushalten.

Gretchen drehte sich um und klingelte erneut und klopfte zusätzlich an der Tür. Sie schlug kräftig gegen die Tür. Das musste im ganzen Haus zu hören gewesen sein. Doch auch diesmal blieb es unerhört. Waren denn alle ausgeflogen? Sie griff nach ihrem Handy und wählte Dougs Nummer.

~*~

Doug stand gerade in einer etwas längeren Schlange vor der Kasse als er ein Vibrieren in der Hosentasche spürte. Das war das Handy. Jemand rief ihn an. Er nahm sein Handy aus der Tasche und blickte auf das Display. Es war Gretchen. Doug lächelte. Er hatte schon länger nichts mehr von ihr gehört. Er verließ die Schlange. Die Lücke schloss sich sofort. Doug fuhr den Wagen in eine ruhigere Ecke und nahm dann den Anruf an.

„Hallo, Gretchen. Hab schon lange nichts mehr von dir gehört. Wie geht‘s dir denn?“

„Hi, Doug. Na ja, mir geht’s so mittelprächtig.“ Sie wollte noch weiterreden, wurde aber von ihrem Bruder unterbrochen.

„Wieso nur mittelprächtig? Was ist denn los?“ Da kam ihm eine Idee. „Was hältst du davon, Jack und mich mal zu besuchen? Vielleicht muntert dich das ja ein wenig auf? Wir haben uns doch schon länger nicht mehr gesehen.“

„Eine gute Idee. Wann bist du denn Zuhause?“

„Woher weißt du denn, dass ich gerade nicht Zuhause bin?“

„Wegen der Geräusche im Hintergrund und weil ich gerade vor deiner Haustür stehe und mehrmals angeklopft habe.“

„Du bist in Capeside? Bei unserem Strandhaus?“, fragte Doug verdattert. „Wenn du noch ungefähr fünfzehn Minuten wartest, bin ich bei dir.“

Gretchen sagte ihm, dass sie es sich am Strand bequem machen und auf ihn warten würde. Sie beendeten das Gespräch. Gretchen setzte sich an den Strand und Doug reihte sich im Supermarkt hinten in der Schlange an der Kasse ein.

~*~

Sie kam mit langsamen, bedächtigen Schritten hinter dem Umkleidevorhang hervor und warf einen argwöhnischen Blick auf den Stuhl und die Gerätschaften, die sich rechts davon befanden. Gott wie sie diese Untersuchung jedes Mal hasste! Nichts war unangenehmer als zum Frauenarzt zu gehen, doch wenn sie nicht eines Tages wie ihre eigene Mutter an Krebs sterben wollte, so waren die halbjährlichen Untersuchungen nicht zu vermeiden. Zudem nahm sie die Pille was bedeutete, dass sie spätestens alle drei Monate hier her in die Praxis kommen musste.

Ein Seufzen verließ ihren Mund. Dr. Fraser sah zu ihr auf und lächelte. „Nehmen Sie platz, Miss Potter“, bat der mitvierziger Arzt und deutete ohne hinzusehen auf den Untersuchungsstuhl. „Wie geht es Ihnen?“

Eine Routinefrage, erforderte eine Routineantwort. „Gut“, sagte Joey daher, doch Unsicherheit lag in ihrer Stimme. „Nun ja“, kam sie ins wanken und begann vor dem Stuhl zu gestikulieren. „Meine Menstruation ist ausgeblieben.“

„Wie lange sind Sie drüber?“, erkundigte sich Dr. Fraser und deutete nochmals auf den Stuhl.

Diesmal nahm Joey wider Willen darauf platz. Und noch während sie ihrem Arzt antwortete zog dieser ihr Gesäß weiter nach vorn, so dass sie das Gefühl hatte jeden Moment abzurutschen und auf dem Hintern zu landen. „Ich habe es x-mal durchgerechnet. Es sind genau neun Tage.“

„Hatten Sie in letzter Zeit viel Stress? Irgendwelche emotionalen Belastungen?“ Joey schüttelte den Kopf. Dr. Fraser nahm eines der Untersuchungsgeräte an sich und begann damit routiniert seine Patientin zu untersuchen. „Das Ausbleiben der Menstruation muss nicht zwangsläufig eine Schwangerschaft bedeuten“, sagte er.

„Ich habe die Pille immer regelmäßig genommen. Allerdings hatte ich einen Magen-Darm Infekt vor ...“ Sie rechnete zurück. „... etwa drei Wochen.“

Der Arzt nickte, legte die Geräte beiseite und begann mit der Abtastung. „Ich würde gerne einen Ultraschall durchführen.“

„Okay“, kam es ohne zu zögern von Joey und sie sah den Arzt dabei angespannt an. Seine Hände an ihrer intimsten Stelle zu fühlen behagte ihr ganz und gar nicht, doch sie ließ die Maske der erwachsenen Joey Potter auf, die damit umgehen konnte, als wäre sie bei einem x-beliebigen Arzt in Behandlung.

Dr. Fraser nahm ein Gerät von dem Wagen, der rechts neben Joey stand und auf dem ein Monitor und zig andere Hightech-Geräte standen. Dann stülpte er ein Kondom darüber und Joeys Augen weiteten sich in Ungläubigkeit.

„Werden Ultraschalls nicht äußerlich gemacht?“, fragte sie ein wenig unsicher.

Dr. Fraser lächelte, bevor er das Ding, das wie ein etwas zu großer Stift aussah, einführte und den Monitor zu seiner Linken anschaltete. „Entspannen Sie sich bitte.“ Er bewegte das Gerät ein wenig von links nach rechts und starrte auf den Monitor. „Sehen Sie das?“ Mit diesen Worten zeigte der Arzt auf einen winzig kleinen Punkt auf dem Bildschirm, der durch das leichte Flimmern und die Bewegung durch den 'Stift' nur schwerlich erkennbar war.

„Was ist es?“, fragte Joey und hielt den Atem an. In ihren Augen konnte es ein Kind sein oder auch ein Geschwulst.

Die wenigen Sekunden, bis zur Antwort kamen ihr wie eine halbe Ewigkeit vor, dann sagte Fraser in einem sanften Tonfall: „Ich tippe auf die fünfte Woche. Und das dürfte etwa mit den Daten übereinstimmen, die Sie mir genannt haben.“ Er lächelte, zog das Gerät heraus und sah lächelnd in das ernste Gesicht seiner Patientin. „Sie sind schwanger, Miss Potter.“

Joey starrte den Arzt an und sagte zunächst nichts. Sie fühlte sich außerstand sich zu artikulieren. „Aber ...“, stammelte sie schließlich.

„Es war nicht geplant, oder?“

Sie schüttelte energisch den Kopf und stieg von dem Stuhl herunter. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie vor einigen Jahren – in ihrem letzten Jahr an der Highschool – ebenfalls die Befürchtung gehabt hatte schwanger zu sein. Diesmal war sie es tatsächlich.

„Sie können sich wieder anziehen“, sagte Dr. Fraser. „Ich sollte allerdings noch Ihre Brust abtasten.“

„Ja ... okay“, kam es stoisch von Joey, während sie hinter dem Vorhang verschwand und sich wieder Slip und Jeans überzog.

„Meine Sprechstundenhilfe wird Ihnen nachher einige Broschüren mitgeben. Sie sollten sich nicht von dieser Information schockieren lassen. Schlafen Sie darüber, denken Sie ausführlich darüber nach, sprechen Sie mit Ihrem Partner.“

„Ihm wird das wahrscheinlich gefallen“, kam es sarkastisch hinter dem Vorhang vor.

Abermals lächelte der Arzt. „Sie sind wie gesagt erst in der fünften Woche, Sie haben noch mindestens weitere fünf Wochen Zeit sich zu überlegen, ob Sie das Baby möchten oder nicht. Und je nachdem, wie Sie sich entscheiden“, fuhr er sachlich fort, „kann ich Ihnen Unterstützung oder Alternativen zur Schwangerschaft anbieten.“

Alternativen? Abtreibung oder das Baby austragen und dann zur Adoption freigeben. Das waren die Alternativen. Joey schloss die Augen und schlüpfte aus dem Pulli. Wie in Trance ließ sie auch den Rest der Untersuchung über sich ergehen, nahm später von der Sprechstundenhilfe die Infobroschüren entgegen und machte sich auf den Heimweg.

Das alles schien ihr so unwirklich. So als würde sie es träumen. Oder so als würde es jemand anderem passieren, nicht ihr. So als wäre sie nur eine Beobachterin des Ganzen.
Auf dem Weg zu ihrem Apartmenthaus würgte sie den Motor zweimal nach einer roten Ampel ab, doch selbst das fiel ihr in ihrem mentalen Zustand nicht weiter auf. Sie nahm nichts weiter wahr. Ihr Geist war wie besessen von dem Gedanken, dass in ihr ein neues Leben entstand.

~*~

Pacey verließ gerade das Restaurant. In wenigen Minuten hatte er einen Termin mit dem ersten Hausbesitzer auf seiner Liste. Er stieg in sein Auto und machte sich auf den Weg. Nach knapp zehn Minuten erreichte er das Haus. Da er ein wenig zu früh dran war, stieg er aus und betrat das Grundstück. Der Garten wirkte vernachlässigt. Offensichtlich hatte der Eigentümer nicht genug Zeit darin investiert. Er näherte sich dem Haus. Es hatte zwei Etagen. Es war in einem hellen Sandgelb gestrichen und das Dach hatte schwarze Dachpfannen. Der Zustand des Hauses schien äußerlich recht gut zu sein.

Pacey betrachtet die Eingangstür. Sie war in einem dunklen Grün gestrichen, genau wie auch die Fensterrahmen. Er ging um das Haus herum und sah sich um. Auf der Rückseite gab es noch eine weitere Tür. Als er das Haus komplett umrundet hatte, kam ein älterer Herr auf ihn zu.

„Sind Sie Mr. Witter?“, fragte er.

„Das bin ich. Dann sind Sie bestimmt Mr. Denning.“

Der Mann kam auf Pacey zu und reichte ihm die Hand. „Da ich ein wenig zu früh dran war, hab ich mich schon ein wenig umgesehen,“ erklärte Pacey.

„Dann führe ich Sie jetzt mal im Haus herum“, meinte der Eigentümer.

Er ging zur Vordertür und schloss sie auf. Mr. Denning ging voran und Pacey folgte ihm. Als er das Haus betrat musste er schlucken. Drinnen sah es aus, als hätte seit mehreren hundert Jahren niemand mehr einen Fuß hineingesetzt. Es war ziemlich heruntergekommen. Und das war noch sehr milde ausgedrückt. Er ließ sich trotzdem die Räume zeigen. In der unteren Etage gab es zwei große Räume und ein Bad. Auf dem Weg zum Obergeschoss riet ihm der Besitzer, sich auf der Treppe möglichst nicht am Geländer festzuhalten, denn es könnte zusammenbrechen.

Pacey musste an den Film ,Geschenkt ist noch zu teuer‘ denken. Kein Wunder, dass die Miete äußerst gering war. Die obere Etage war in vier Zimmer unterteilt. Aber auch hier sah es nicht besser aus als unten. Er bedankte sich bei dem Eigentümer für die Führung und versprach sich noch zu melden. Er sagte ihm, dass er sich noch drei andere Häuser ansehen würde. Damit verabschiedet er sich und verließ das Haus. Er ging zu seinem Wagen und fuhr zum nächsten Termin.

Das nächste Haus war nur wenige hundert Meter entfernt und so wurde der Motor seines Autos noch nicht einmal richtig warm, als Pacey schon wieder anhielt. Er parkte den Wagen direkt vor dem Haus. Als er ausstieg und auf das Haus zuging, kam ihm eine junge Frau entgegen.

Sie stellte sich als Emily Parker vor und war die Tochter der Eigentümer. Sie gingen durch den Garten zum Haus. Garten durfte man eigentlich gar nicht dazu sagen. Das war schon eher ein Dschungel. Das Gras – oder war es das Unkraut? – wuchs ihm bis zu den Oberschenkeln. Und dann sah er das Haus. Haus, welch anspruchsvoller Begriff für diese Baracke. Das war kein Haus, eher eine alte vergammelte Hütte.

Pacey blieb abrupt stehen. Mehr brauchte er gar nicht zu sehen. Das reichte ihm schon. Er teilte Ms. Parker mit, dass er kein Interesse habe und verabschiedete sich von ihr.

Er wollte gerade in sein Auto steigen, als sein Handy klingelte. Pacey sah auf’s Display, doch die Nummer war ihm nicht bekannt. Er nah das Gespräch entgegen. Es war Mr. Miller. Mit ihm hatte er den letzten Termin. Mr. Miller sagte ihm ab, da er offenbar bereits einen Mieter gefunden hatte.

Also fuhr Pacey jetzt zu dem dritten und letzten Haus. Hoffentlich war das nicht auch so eine Bruchbude wie eben, dachte er bei sich. Als er in die angegebene Straße einbog, merkte er erst wo das Haus stand. Pacey überkam ein Lächeln. Der Standort des Hauses lag direkt am Strand. Nur wenige hundert Meter von Dougs und Jacks Haus entfernt.
Er parkte seinen Wagen in der Einfahrt und stieg aus.

Pacey betrachtet das Haus. Es war zweigeschossig, leicht verwinkelt und mit vielen Fenstern. Es schien schon etwas älter zu sein. Es war weiß gestrichen und hatte ein dunkelrotes Dach. Die Türen und die Fensterrahmen waren ebenfalls in dunkelrot. Das ganze Haus war sehr verwittert und konnte gut einen neuen Anstrich gebrauchen.

Er ging zur Eingangstür und drückte auf die Türklingel. Nach wenigen Sekunden wurde ihm geöffnet. Eine ältere Frau stellte sich als Mrs. Tuttle vor. Sie war die Eigentümerin. Sie bat Pacey hinein und erzählte ihm, dass die letzten Mieter das Haus in einem ziemlich schlechten Zustand hinterlassen hatten. Zuerst zeigte die Eigentümerin Pacey das untere Stockwerk. Es sah wirklich recht renovierungsbedürftig aus.

Hier gab es ein großes Wohnzimmer, welches etwa zweidrittel der Etage vereinnahmte. Das Zimmer hatte drei Fenster. Zusätzlich gab es noch eine Fensternische. In dieser Nische war noch eine bequeme Sitzbank eingebaut worden. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick auf den Strand und das Wasser. Hier konnte man bestimmt gemütliche Abende zu zweit verbringen. Direkt neben dem Wohnzimmer lag die Küche. Sie war nicht so groß, aber es gab immer noch genug Platz, sodass zwei Personen drin arbeiten konnten. Zwei Fenster erhellten das Zimmer.
Der letzte Raum war die Toilette. Hier war nicht viel Platz. Hier gab es ein WC, ein Waschbecken mit Spiegel und ein kleineres Fenster. Für mehr war aber auch kein Platz.

Mrs. Tuttle führte ihn schließlich in das obere Stockwerk. Es war in vier Räume unterteilt. Den ersten Raum, den Pacey betrat, war das größte Zimmer in dieser Etage. Die Fensternische aus dem Wohnzimmer war hier fortgesetzt worden. Auch hier war noch eine Sitzbank eingebaut worden. Es sah genauso aus wie unten und wirkte echt bequem und gemütlich. Den Raum konnte Pacey sich gut als Schlafzimmer vorstellen.
Das Zimmer nebenan war das Bad. Es war wirklich groß. Es gab eine Dusche und eine Badewanne. Es war eine große Wanne und sie war in den Boden eingelassen. Durch ein großes schräges Dachfenster schien das Tageslicht herein. Wenn man in der Wanne lag, konnte man direkt in den Himmel blicken – oder abends die Sterne betrachten. Außerdem gab es noch ein WC, ein Waschbecken mit Unterschrank. Die restlichen beiden Räume waren in etwa gleich groß. Beide hatten große Fenster. Nur ein Zimmer hatte eine Dachschräge. Pacey überlegte sich, dass Joey ja vielleicht ein Zimmer als Büro benutzen könnte. Das andere könnte ja ein Gästezimmer oder so werden.

Pacey gefiel das Haus sehr. Hier konnte er sich sehr gut vorstellen mit Joey zu leben.
Er sprach mit Mrs. Tuttle über den Zustand des Hauses. Ob sie vorhatte, es renovieren zu lassen.

„Gut dass Sie das gerade ansprechen. Ich wollte Ihnen einen Vorschlag machen. Anstatt, dass ich das Haus erst renovieren lasse und danach vermiete, hat mich mein Sohn auf eine Idee gebracht. Was halten Sie davon, wenn Sie sich um die Renovierung selber kümmern und das Haus wieder in einen erstklassigen Zustand bringen? Dafür würde ich ihnen die Miete für ... sagen wir ein Jahr erlassen“, schlug die Eigentümerin vor.

Pacey gefiel die Idee. Er sagte Mrs. Tuttle, dass er das mit seiner Freundin besprechen wollte.

Er griff zu seinem Handy und wählte Joeys Nummer. Er wollte ihr unbedingt gleich von dem Haus berichten. Doch leider war besetzt. Sie war gerade selber am telefonieren. Also musste er es später erneut versuchen. Da er zum telefonieren in einen anderen Raum gegangen war, ging er zur der Hausbesitzerin zurück und versprach ihr, sich bis spätestens zum Wochenende bei ihr zu melden. Dann verließ er das Haus und fuhr zum Restaurant zurück.

~*~

Immer wieder blickte sie von ihrer Arbeit auf und zu dem Telefon hinüber, das sie schließlich näher zu sich heranzog. Joey atmete nochmals tief durch, ehe sie den Hörer abnahm und die Vorwahl von L.A. und anschließend die Nummer von Dawsons Sekretärin eingab.

Sie hatte nicht eine Sekunde daran gedacht Pacey zuerst davon zu erzählen. Der Schock saß zu tief, so dass ihr in dieser Situation zu erst ihr bester Freund einfiel. Sicher würde er es mit seinem ewigen Optimismus schaffen, ihr Mut zu machen. Ihr einen vernünftigen Rat geben, ihr wirklich helfen.

Pacey würde nicht objektiv an die Sache herangehen, das wusste Joey nur zu gut. Sie kannte ihn nun schon so lange, dass sie ihn in dieser Hinsicht glaubte sehr gut einschätzen zu können. Außerdem empfand sie es als falsch, ihrem Freund am Telefon zu sagen, dass sie schwanger war.

Als die Stimme von Dawsons Sekretärin sich meldete wurde Joey unweigerlich aus ihren – sich ohnehin im Kreis drehenden – Gedanken gerissen. Hastig räusperte sie sich, benetzte ihre Lippen ein wenig und meldete sich: „Hallo, hier ist Joey Potter. Ist es möglich Dawson Leery zu sprechen?“

Die Sekretärin zögerte kurz mit ihrer Antwort und Joey malte sich in Gedanken aus, wie sie gerade den Terminkalender von Dawson durchsah. Dass er je so beschäftigt sein könnte, dass sie sich selbst für ein einfaches Telefonat anmelden musste, hätte Joey in ihren Jungendtagen wahrlich nicht für möglich gehalten. Doch als erfolgreicher Produzent einer Fernsehserie hatte Dawson inzwischen oftmals so viel zu tun, dass sie schon mehrfach am Telefon vertröstet worden war. Weil sich jemand im Besprechungsraum aufhielt, Dawson bei einem Geschäftsessen mit Investoren war und so weiter. Es gab immer irgendwelche Dinge, die er zu tun hatte.

„Moment“, sagte die Sekretärin, „ich frage ihn.“

„Danke.“

Joey schloss instinktiv die Augen und bat zu irgendeiner höheren Instanz, dass er ein wenig Zeit für sie haben würde. Sie musste seine Stimme jetzt dringend hören, brauchte seinen Rat.

„Miss Potter“, meldete sich die Sekretärin wieder, „ich stelle Sie durch.“

Ein erleichtertes Seufzen entwich Joey und noch ehe sie der Frau danken konnte, hörte sie bereits Dawsons Stimme.

„Hey, Joey, so eine Überraschung!“

Sie konnte deutlich an seiner Stimme heraushören, dass er sein Hollywood-Lächeln aufgesetzt hatte, bei dem seine makellos weißen Zähne zum Vorschein kamen und seine Augen funkelten. Sie liebte sein Lächeln. Es steckte sie immer an. Auch jetzt, obgleich sie innerlich immer noch angespannt war.

„Dawson, hi.“ Sie machte eine kaum merkliche Pause und holte Luft. „Wie geht es dir?“

„Gut. Mir geht's gut und dir?“

Sie antwortete nicht. Sofort schossen ihr eine Halbemillion Fragen durch den Kopf, doch die wichtigste davon war, ob es wirklich die richtige Entscheidung war, dass sie zuerst Dawson anrief, anstelle von Pacey?

„Joey? – Alles in Ordnung?“

„Ich würde dich nicht bei der Arbeit stören, wenn ...“

„... wenn du nicht einen guten Grund hättest, nicht wahr?“, vollendete er ihren Satz. Ihr Seufzen war die Bestätigung, die er erwartete. „Was ist passiert? Ist was mit meiner Mom? Mit Lilly? Mit Pacey?“

„Nichts dergleichen“, beschwichtigte sie ihn und rieb sich mit der freien Hand die Stirn. „Ich habe das Problem. Es geht um mich.“

„Und ... was ... was ist dein Problem?“, fragte Dawson vorsichtig und sie glaubte einen Anflug von Panik aus seiner Stimme herauszuhören.

Wieder zögerte sie, befeuchtete ihre Lippen – wie immer wenn sie nervös war – und sah sich um. Die Tür zu ihrem Büro war geschlossen. Niemand würde dies hier hören. Keiner außer Dawson. „Ich war heute ... beim Gynäkologen", begann sie letztlich und bemühte sich angestrengt, das Vibrieren aus ihrer Stimme zu halten, doch es misslang ihr. „Dawson ...“

„Joey ...“ In L.A. verlor Dawson plötzlich jegliche Gesichtsfarbe und lehnte sich mit klopfendem Herzen in seinem großen Ledersessel zurück. Sicher hatte so Lillian damals geklungen, als sie ihrem Mann von der schrecklichen Diagnose berichtet hatte. Sein Mund fühlte sich staubtrocken an und eine imaginäre Hand verstärkte von Augenblick zu Augenblick den Griff um seinen Hals.

„Ich bin schwanger, Dawson.“

„Oh Gott“, keuchte er voller Erleichterung und setzte sich wieder gerade hin. „Verdammt, du hast mich erschreckt. Ich dachte, du hättest ... du wärst ...“

Sie wusste, was er nicht aussprechen konnte. „Nein, Dawson, ich habe keinen Krebs. Ich bin nicht krank. Ich bin einfach nur in der fünften Woche schwanger.“

Er ignorierte den Potterschen-Sarkasmus und fragte stattdessen: „Und das ist ein Problem?“

„Ja. Ja, das ist ein Problem. Ich ... kann ...“

„Du willst kein Kind?“

„Doch, schon, nur noch nicht jetzt. Denke ich ... ich“, sie hielt kurz inne, „ich bin nicht sicher, ob das der richtige Moment ist. Ich habe mir immer fest vorgenommen, dass ich erst mit dem Mann zusammenziehe, der als Vater meiner Kinder in Frage käme. Dann wäre eine Hochzeit in meiner Reihenfolge gekommen und dann irgendwann eine Schwangerschaft.“

„Das Leben geht seine eigenen Wege, Joey, das solltest du inzwischen gelernt haben. Nichts geschieht genauso wie man es sich mit fünfzehn ausgemalt und zurechtgelegt hat.“

Sie seufzte abermals. „Danke, das ist mir bewusst.“

Wieder klang ihre Stimme zynisch. Wie immer, wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlte. „Was sagt Pacey dazu?“

„Er weiß es noch nicht“, gestand sie und wurde sich in diesem Moment bewusst, dass es falsch gewesen war, Pacey nicht als erstem davon zu erzählen. Er war immerhin der Vater und der Mann, den sie liebte.

„Du solltest ihm davon erzählen“, sagte Dawson sanft.

„Ich ... weiß, aber ... ich kann nicht. Nicht am Telefon. Und ich kann ... ich möchte ihn nicht damit konfrontieren, solange ich mir nicht sicher bin, was ich als nächstes tun will.“

„Du darfst ihm die Entscheidung aber nicht vorenthalten, Joey. Es ist auch sein Kind.“

Einige lange Sekunden herrschte drückende Stille, dann sagte Joey: „Es ist mein Körper. Und es ist üblich, dass die Frau sich um das Kind kümmert und ihre Karriere zurückstellen muss.“

„Und dazu bist du nicht bereit?“

„Ich weiß es nicht, Dawson. Ich weiß es wirklich nicht.“

Dawson hörte deutlich ihre Verunsicherung. „Und warum hast du mich angerufen? Was erwartest du von mir?“

„Dass du mir einen Rat gibst, wie du es immer getan hast“, sagte sie etwas zickig. „Oder fühlst du dich damit überfordert?“

„Nicht überfordert, aber ich glaube nicht, dass ich das Recht habe, dir da reinzureden. Es ist Pacey gegenüber nicht fair. Er sollte derjenige sein, mit dem du über die Zukunft eures Kindes redest, nicht ich. Das übersteigt mein Mitspracherecht als dein Freund.“

Neuerlich schwieg sie.

Weitere Sekunden verstrichen.

„Du musst mit ihm reden, Joey. Sag' ihm, wie dir zumute ist. Dass du unsicher bist“, kam es nach einer Weile leise von Dawson. „Und erzähl' ihm nicht, dass du mich zuerst davon in Kenntnis gesetzt hast, das würde ihn verletzen. Denk über alles nach, bis ihr euch wiedersehen könnt. Und dann sag es ihm.“

„Willst du mich loswerden?“, fragte sie ein wenig enttäuscht, verstand jedoch worauf er hinaus wollte. Und vermutlich hatte er auch recht.

„Joey“, sagte er und verdrehte die Augen ein wenig, „ich würde dich nie abwimmeln, wenn es um so etwas geht. Aber ich habe Termine und ich denke einfach, dass ich nicht derjenige bin, mit dem du darüber reden solltest.“

„Ich weiß“, erwiderte sie flüsternd. „Du hast recht, Dawson.“

„Egal was du vorhast, ich bin immer für dich da. Nur tu nichts, ohne ihm davon zu erzählen, das wäre das Ende eurer Beziehung. Ich hoffe, dass du das weißt.“

„Ich weiß“, sagte Joey und nickte, auch wenn sie wusste, dass Dawson es nicht sehen konnte. „Danke fürs Zuhören.“

„Immer“, entgegnete er und lächelte.

„Ich halte dich auf dem Laufenden“, versprach sie.

„Ich bitte darum.“

„Bye, Dawson.“ Langsam entfernte sie den Hörer von ihrem Ohr und legte ihn zurück auf die Gabel, als sie seinen Abschiedsgruß vernahm.

~*~

Jack kam gerade von der Schule heim und stellte seinen Mustang vor dem Haus ab. Er hatte einen anstrengenden Tag gehabt, denn es hatte ein wenig Ärger wegen eines Schülers gegeben. Aber jetzt ließ er das alles hinter sich und freute sich schon auf einen netten Abend mit Doug und Amy. Er öffnete die Haustür und betrat das Haus. Er stellte seine Tasche ab und zog seine Jacke aus. Aus dem Wohnzimmer hörte er Stimmen. Er erkannte die von Doug, und dann war da noch eine weibliche Stimme. Neugierig ging er ins Wohnzimmer und traf dort auf Dougs Schwester Gretchen. Doug und Gretchen saßen mit Amy und dem Boden und spielten mit ihr.

„Gretchen, was für eine Überraschung!“, grüßte Jack sie und ging auf die beiden zu.

Doug erhob sich, so dass er Jack begrüßen konnte.

Jack umarmte Doug und die beiden küssten sich. Danach nahm er Amy auf den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Amy freute sich sehr, dass Jack wieder Zuhause war. Während er mit Amy spielte, fragte er Gretchen, ob sie nicht zum Abendessen bleiben wollte.

„Äh, Jack, ich habe sie schon eingeladen. Ich dachte mir, dass du doch bestimmt nichts dagegen hast“, meinte Doug. Dabei schaute er seinen Liebsten mit einem Dackelblick an.

Jack musste lachen. „Wie könnte ich dem nur widerstehen.“

Er wandte sich an Gretchen. „Gretchen, ich liebe deinen Bruder. Er ist einfach einzigartig.“

„Wie, du liebst Pacey?“, fragte sie gespielt erstaunt. „Und, liebt er dich auch? Und was sagt denn Joey dazu?“ Sie konnte sich das Lachen kaum noch verkneifen.

Da fielen auch Jack und Doug in ihr Lachen mit ein. Jack knuffte sie leicht an die Schulter.

„Das muss in der Familie liegen. Ihr habt alle so eine leicht spaßige Ader. Doug, Pacey und du“, meinte er.

Sie scherzten noch eine Weile. Alle hatten viel Spaß zusammen.

„Jetzt mal im Ernst. Bleibst du länger in Capeside oder willst du schnell zurück nach Boston?“, fragte Jack Gretchen.

Sie wurde schlagartig ernst.

„Was ist mit dir?“, fragte Doug besorgt.

„Ich werde erst einmal hier bleiben. Vorerst habe ich mit meinem Job als freie Journalistin abgeschlossen“, antwortete sie.

„Ist was passiert?“, fragte ihr Bruder weiter.

„Es macht einfach kein Spaß mehr. Darum hab ich auch Boston einstweilen verlassen.“

Doug fragte sie, ob sie denn schon überlegt hätte, wie es jetzt weitergehen solle. Er machte sich Sorgen um seine kleine Schwester.

„Ich habe vor morgen Gale aufzusuchen. Vielleicht kann ich ja wieder im Leerys Fresh Fish arbeiten“, erklärte sie.

Doug fand die Idee ganz gut. Gale war ja damals mit ihrer Arbeit zufrieden gewesen, vielleicht würde sie Gretchen ja wieder einstellen.

Während Doug und Gretchen noch darüber sprachen, verschwand Jack mit Amy in die Küche um sich um das Abendessen zu kümmern. Dann konnten sich die Geschwister noch in Ruhe unterhalten.

~*~

Versiert schnitt Pacey mit dem großen Küchenmesser, das – wenn er nicht aufpasste – ganz locker seine Finger durchtrennen konnte, die letzte Paprika klein, die er für das geplante Abendessen brauchte. Sobald das gelbe Gemüse in kleine Würfel geschnitten war, vermengte er die Zutat mit den bereits in der Pfanne befindlichen Tomaten und dem grünen und roten Paprika.

Eine Gemüsepfanne mit Reis und etwas Fleisch war genau das, worauf er heute Lust hatte. Nach dem anstrengenden Tag, wo er sich ein Haus nach dem anderen angesehen und auch noch im Restaurant gearbeitet hatte. Eine ausgewogene Mahlzeit würde ihn wieder zu Kräften bringen.

Gerade als er das Wasser für den Reis eingeschaltet hatte, klingelte das Telefon und er nahm das schnurlose Gerät zur Hand. „Pacey Witter“, meldete er sich auch prompt.

„Hey“, war alles, was er zur Antwort bekam, doch er wusste auch so, dass es Joey war.

Sofort bildete sich ein Lächeln auf seinen Lippen. „Hey, Liebling! Ich hab heute Mittag versucht dich zu erreichen“, sagte er. „Ich hab unglaubliche Neuigkeiten.“

Die hab ich auch, schoss es Joey in den Sinn, doch sie sagte: „Wirklich? Lass hören.“

Er hörte, dass sie nicht übermäßig optimistisch klang, doch er ignorierte diesen Umstand. Sie würde sich schon freuen, wenn sie erst mal hörte, was das für Neuigkeiten waren. Während er antwortete rührte er das Gemüse in der Pfanne um, damit es nicht anbrannte. „Ich habe mir heute ein paar Häuser angesehen, und eins wäre ideal für uns.“

„Tatsächlich ...“ Noch immer hielt sie sich mit Begeisterung zurück. In Gedanken war sie ganz woanders. Nicht bei dem Haus, das sie füreinander suchen wollten, sondern bei dem, was Dr. Fraser ihr am frühen Mittag mitgeteilt hatte.

Pacey redete und redete, erzählte von den Häusern und kam letztlich auf das zu sprechen, das ihm am besten von allen gefallen hatte. Er erzählte Joey auch davon, dass sie ein Jahr lang keine Miete würden zahlen müssen und dass er dafür das Haus renovieren würde. „... Hört sich das nicht perfekt an?“, fragte er schließlich.

„Perfekt – ja.“ Sie seufzte. „Ich vermisse dich“, sagte sie nach einer Weile und unterdrückte plötzlich aufkommende Tränen. Sie wäre jetzt so gerne bei ihm, würde sich gerade jetzt so gerne von ihm in die schützenden Arme nehmen lassen. Und am meisten wollte sie ihm von der Schwangerschaft erzählen, gemeinsam mit ihm beraten, was sie nun am besten tun sollten. Was für sie alle am besten wäre. Doch es war ihr nicht möglich. Und mehr denn je fühlte sich Joey in diesem Moment einsam, obgleich sie seine zärtliche Stimme durchs Telefon vernahm.

„Ich vermisse dich auch, Jo. Bald sehen wir uns ja wieder.“ Abermals begann er zu lächeln, hörte ihre Niedergeschlagenheit vor lauter Euphorie gar nicht aus ihrer Stimme heraus. „Und dann zeige ich dir das Haus. Unser Haus!“

„Ja. Okay.“ Sie versuchte ebenfalls zu lächeln. Doch ihr rannen aus beiden Augenwinkeln Tränen, die sich ihren Weg über ihre rosigen Wangen machten. Sie schluckte das beklemmende Gefühl hinunter, frischte das Lächeln auf und sagte nun etwas zuversichtlicher: „Ja, dann zeigst du mir unser neues Zuhause.“


Fade to black ...


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